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Ausland Araber und Juden

Warum der Hass sich tiefer in die Herzen frisst

Eine Palästinenserin schreit auf israelische Grenzpolizisten ein, als ihr der Zutritt zum Tempelberg in Jerusalem verweigert wird Eine Palästinenserin schreit auf israelische Grenzpolizisten ein, als ihr der Zutritt zum Tempelberg in Jerusalem verweigert wird
Eine Palästinenserin schreit auf israelische Grenzpolizisten ein, als ihr der Zutritt zum Tempelberg in Jerusalem verweigert wird
Quelle: dpa
Die explodierende Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern jagt selbst ihren Anführern Angst ein. Wissenschaftler erforschen nun die jahrzehntealte Kultur von Angst und Abwertung.

Berührungsängste sind Anat Berko fremd. Und dennoch bekommt die israelische Kriminologin immer noch Gänsehaut, wenn sie an jene Umarmung denkt. Die junge Palästinenserin klammerte sich während des Gesprächs in ihrer Zelle plötzlich schluchzend an sie. „Sie war 25 und unverheiratet. In ihrer Gesellschaft ist das sehr alt“, erzählt Berko, 54. „Dann verliebte sie sich in einen Mann. Weil er behindert war, versuchte der Vater eine höhere Mitgift auszuhandeln.“ Der Deal platzte.

Die junge Palästinenserin wollte sich an ihrem Vater rächen und beschloss, sich als Selbstmordattentäterin zu opfern. Doch auf dem Weg zur Tat ging sie Israels Armee ins Netz. Nun saß sie im Gefängnis. „Sie hörte nicht auf zu weinen, sie verfluchte ihren Vater, der ihr Leben zerstört hat. Es war das Natürlichste auf der Welt, sie zu umarmen. Ihre Statur erinnerte mich an meine Tochter“, sagt Berko. Doch dann schießt ihr ein Gedanke durch den Kopf: „Hätte ich sie nur wenige Tage vorher getroffen, hätte sie mich in die Luft gesprengt.“

Seit Jahren erforscht Berko palästinensischen Extremismus, ihre Bücher „Path to Paradise“ und „The Smarter Bomb“ haben der Forschung neues Terrain erschlossen. Darum hat sie die Spirale von Hass und Gewalt zwischen Juden und Arabern nicht überrascht. Seitdem Sympathisanten der islamistischen Hamas im Sommer drei israelische Teenager ermordeten, schaukeln sich beide Seiten hoch. Der Mord an den dreien wurde durch die Verbrennung eines arabischen Jungen gerächt, die arabische Krawalle in Jerusalem auslöste, die Juden ihrerseits mit Übergriffen auf Araber beantworteten.

Steinewerfer in Hebron. Der Hass auf israelische Mitbürger erfasst fast alle Araber
Steinewerfer in Hebron. Der Hass auf israelische Mitbürger erfasst fast alle Araber
Quelle: AFP

Der Krieg rund um Gaza, in dem mehr als 2000 Palästinenser und 74 Israelis ihr Leben verloren, fachte die Gewalt und Ablehnung noch an. Nach einem Attentat auf eine Synagoge in Jerusalem ordnete der Bürgermeister der Stadt Aschkelon diese Woche an, arabische Bauarbeiter aus der Gegend um Kindergärten fernzuhalten. Efi Yaar von der Universität Tel Aviv, der seit 20 Jahren jeden Monat einen „Friedensindex“ veröffentlicht, sagt: „Noch nie war der Hass so groß wie heute.“ Fast jeder dritte Israeli hegt Vorurteile gegen Araber. Satte 83 Prozent der Araber geben an, ihre jüdischen Mitbürger zu hassen.

Berko macht zum Teil gesellschaftliche Bedingungen für die Auswüchse der Gewalt verantwortlich. „Israel hätte mehr in die arabische Bevölkerung investieren müssen, um für Chancengleichheit zu sorgen – mehr Schulen, mehr Infrastruktur, besonders in Jerusalem.“ Doch der Konflikt habe eine tiefere Wurzel: „Hier bekämpfen sich zwei Gesellschaften, die vollkommen unterschiedlich sind.“ Gesellschaftliche Muster in Palästina marginalisierten Pragmatiker: „Wir sprechen von erzkonservativen, patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen, die Konformität fordern.“

„Meine Eltern waren wohlhabende Juden aus Bagdad“

Wenn Berko über arabische Familienstrukturen spricht, meint sie auch ihre Kinderstube: „Meine Eltern waren wohlhabende Juden aus Bagdad. Sie flohen wegen des Judenhasses nach Israel“, erzählt die Mutter dreier Kinder. „So wuchs ich hier in einem Umfeld auf, das stark von arabischen Traditionen geprägt war.“ Das merkte sie an ihrem Vater. Nach dem Erstgeborenen kamen fünf Töchter. Die waren „für ihn nur der Versuch, einen weiteren Sohn zu zeugen“, sagt Berko.

In traditionellen Familien seien die Geschlechterrollen eindeutig verteilt: „Frauen gehören ins Haus, Männer nach draußen.“ Im Nahen Osten glaube man, der Islam schreibe diese Geschlechterrollen vor. Berkos Geschichte zeigt, dass dieses Weltbild nicht unverrückbar ist. Je länger ihre Familie in Israel wohnte, desto mehr änderte sich auch die Anschauung ihres Vaters. Am Ende machte Berko in der Armee Karriere, brachte es bis zum Oberstleutnant. Später wurde sie zu einer der führenden Kriminologinnen Israels.

Die klassische arabische Großfamilie zerfällt, Eltern können ihre Kinder kaum noch kontrollieren

In Palästina hingegen zerreibe der Kontakt mit der Moderne das bestehende gesellschaftliche Gefüge: „Die klassische arabische Großfamilie zerfällt, Eltern können ihre Kinder kaum noch kontrollieren“, sagt Berko. Palästinas Jugend wachse im Widerspruch von Ablehnung und Bewunderung der Moderne auf. „Der Gründer der Hamas, Ahmed Jassin, sagte mir mal: ‚Wir Muslime wollen die technologischen Errungenschaften des Westens nutzen. Westliche Werte hingegen lehnen wir vollkommen ab.‘“ Deswegen schaffe man alternative – und problematische – Vorbilder. Attentäter würden auch deshalb als Helden gefeiert, „weil sie dem Macho-Bild des arabischen Mannes entsprechen“.

Doch auch Israel wird immer religiöser und nationalistischer. Laut dem Friedensindex unterstützen inzwischen 38,5 Prozent der Israelis die Forderung einer einst marginalen religiösen Gruppierung, jüdische Gebete auf dem Tempelberg zuzulassen, wo bisher nur Muslime beten dürfen. Die Befürchtung der Palästinenser, Israel wolle ihnen die Kontrolle über die Al-Aksa-Moschee entreißen, den drittheiligsten Ort des Islam, gehörte zu den Auslösern der jüngsten Krawalle.

Kriminologin Anat Berko interviewte verhinderte Selbstmordattentäter
Kriminologin Anat Berko interviewte verhinderte Selbstmordattentäter
Quelle: Ariel Jerozolimski
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Zudem leben Israelis in permanenter Angst: „Als ich ein Kind war, wusste ich genau, wo es sicher und wo es gefährlich ist“, sagt Berko. „Der Krieg spielte sich an der Grenze ab.“ Durch den Terror werden diese Grenzen verwischt. Das liegt auch daran, dass nicht nur Palästinenser in den besetzten Gebieten immer öfter zur Gewalt greifen, sondern auch arabische Bürger Israels. Es gibt keine Sicherheitszonen mehr.

Angst befeuert Aggression. Drei Jahre lang saß der Pädagoge Joram Harpas in Tel Aviver Klassenzimmern, um Israels Jugendkultur zu erforschen. Das Ergebnis seiner Studie ist niederschmetternd: „Die schlimmste Beschimpfung selbst unter säkularen Jugendlichen lautet: ‚Du Araber!‘“ Genau wie palästinensische Kinder von Selbstmordattentätern schwärmen, berichteten nun auch israelische Kinder, ihr Traum sei es, Araber zu töten. Der Graben zwischen Juden und der arabischen Minderheit Israels – 20 Prozent der Bevölkerung – sei inzwischen so tief, dass der Fortbestand der israelischen Gesellschaft bedroht sei. Von Aussöhnung mit den palästinensischen Nachbarn ganz zu schweigen.

Zarte Pflänzchen der Versöhnung

Das Gewaltpotenzial scheint auch den Anführern beider Seiten zunehmend Angst zu machen. Noch vor einer Woche fachten Israels Premier Benjamin Netanjahu und Palästinas Präsident Mahmud Abbas die Stimmung an. Der eine verkündete den „Kampf um Jerusalem“, der andere rief dazu auf, „alles zu tun“, damit keine Juden die Al-Aksa-Moschee „verseuchten“. Doch nun versuchen beide, die Flammen zu löschen, die sie entfacht haben. Kurz vor dem Anschlag auf die Synagoge war eigentlich ein geheimes Treffen Netanjahus mit Abbas in Jordanien geplant.

Israels Premier mahnte, israelische Araber dürften nicht diskriminiert werden, schließlich seien die meisten „gesetzestreue Bürger unseres Landes“. Und Abbas verkündete „Brücken der Liebe“ zu den Israelis zu schlagen. Israels Bildungsminister verordnete den Schulen nun ein einwöchiges Sonderprogramm zum Thema Toleranz.

Bei den Palästinensern vermisst Berko ähnlich tief greifende Initiativen. Augenblicklich suchten sie „den Konsens im Extremismus“. Unterschiede zwischen der islamistischen Hamas und der als pragmatisch geltenden Fatah seien willkürlich: „Viele meiner Gesprächspartner, hochrangige Aktivisten, sagen mir: ‚Ich stehe morgens als Hamas-Anhänger auf und gehe abends als Fatah-Anhänger schlafen.‘ Die Identitäten sind fließend.“ Echte Veränderung erfordere tief greifende gesellschaftliche Umwälzungen, allen voran Emanzipation. „Wenn Araberinnen Schleier verbrennen, so wie Frauen in Europa früher BHs, wird der Wandel beginnen.“ Frieden erfordert freie Frauen.

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