Wie mündig dürfen Bürger sein?

Hassan Rohanis Wahl zum Staatspräsidenten weckte in Iran neue Hoffnungen auf einen Wandel. Aber jeder seiner Vorstösse zur Liberalisierung stösst bei den Konservativen auf erbitterte Gegenwehr.

Bahman Nirumand
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Uns reicht's! Junge Iranerinnen verlassen die Parlamentsdebatte, bei der ein liberaler Kandidat für das Amt des Wissenschaftsministers gebodigt wird. (Bild: Vahid Salemi / AP)

Uns reicht's! Junge Iranerinnen verlassen die Parlamentsdebatte, bei der ein liberaler Kandidat für das Amt des Wissenschaftsministers gebodigt wird. (Bild: Vahid Salemi / AP)

Als am 14. November der iranische Pop-Sänger Morteza Pashaei starb, nahmen allein in der Hauptstadt Teheran Hunderttausende an der Beisetzung teil. Frauen und Männer, Jung und Alt, zumeist schwarz gekleidet, begleiteten den Trauerzug zum Friedhof Beheschte Sahra. Der gesamte Verkehr kam für mehrere Stunden zum Stillstand. «Könnt' ich doch deine Stimme küssen», stand auf einem Plakat. Weinend sangen die Teilnehmer die Lieder des Sängers. Die Ordnungskräfte waren vor dem unerwarteten Massenauflauf, der an die Demonstrationszüge während der Revolution erinnerte, machtlos. Eine mit Trauer vermischte Hochstimmung beherrschte einen Tag lang das ganze Land.

Mit Peitschenhieben ins Paradies?

Pashaei war mit dreissig Jahren an einem Krebsleiden gestorben. Er stand noch am Anfang seiner Karriere; er hatte erst wenige Alben veröffentlicht und war selten öffentlich aufgetreten. Doch seine Texte, zumeist gesellschaftskritisch, machten ihn populär. Diese Beliebtheit, die durch die Trauer im ganzen Land zum Ausdruck kam, muss für die Konservativen ein Schock gewesen sein. Wie war es möglich, dass die Gesellschaft, die sie seit fünfunddreissig Jahren zu islamisieren versuchen, so intensiv einem Pop-Sänger nachtrauerte? Wie fremd müssen sie ihrem eigenen Volk geworden sein.

Die tiefe Spaltung, die sich bereits seit Jahren durch die iranische Gesellschaft zieht, können nur Ignoranten übersehen. Bemerkenswert ist, dass sie sich mittlerweile sogar bis in die Riege der Herrschenden hinein fortsetzt. Auf der einen Seite steht das Lager der Konservativen, der verbohrten Islamisten, die an dem vermeintlich «wahren Islam» festhalten und jede Veränderung als eine drohende Gefahr für ihre Macht betrachten; auf der anderen Seite sind die Reformer, die Liberalen und Gemässigten, die vermutlich die Erkenntnis gewonnen haben, dass das Beharren auf dem Bestehenden für das Regime tödlich sein könnte.

Hassan Rohani , der im vergangenen Jahr das Amt des Staatspräsidenten übernahm, gehört, wenn man seinen Äusserungen glaubt, der zweiten Gruppe an. Bereits im Wahlkampf versprach er dem Volk Öffnung nach aussen und innen. Doch seit er im Amt ist, stösst jeder Schritt, den seine Regierung in diese Richtung tut, auf vehementen Widerstand seiner konservativen Gegner. Das gilt nicht nur für die Aussenpolitik, mit der Rohani eine Annäherung an den Westen anstrebt, sondern noch weit mehr für Bereiche, welche die religiös verbrämte herrschende Ideologie oder die islamisch dominierte Kultur betreffen.

Wie empfindlich Konservative reagieren, wenn die von ihnen beanspruchte Monopolstellung angetastet wird, zeigte sich kürzlich bei einer Auseinandersetzung über die Einmischung der Regierenden ins Privatleben der Bürger. «Mischt euch nicht so viel in das Leben der Leute ein, überlasst es den Menschen, selbst zu entscheiden. Man kann die Leute nicht mit Gewalt und Peitschenschlägen zum Paradies führen», sagte Rohani. Die «ketzerische» Äusserung löste bei den Konservativen einen Aufschrei aus. «Wir wollen niemanden mit Gewalt ins Paradies führen, aber wir wollen, dass die Gesetze Gottes strikt befolgt werden», erwiderte der erzkonservative Freitagsprediger Ahmad Khatami. «Sie empfehlen uns, die Leute sich selbst zu überlassen und sie nicht mit Gewalt ins Paradies zu führen. Einverstanden. Wir setzen alle Verbote und Gebote ausser Kraft und raten dem Herrn Verbrecher sowie dem unsittlich gekleideten Mädchen, brav zu sein. Ist das islamisch oder die Sorge um die Durchsetzung der Gesetze Gottes? Wir müssen unsere Staatsordnung verteidigen und raten allen, nicht den Weg in die Hölle zu beschreiten.»

Von der Warte des Predigers aus betrachtet erscheint es also völlig legitim, alles zu verbieten, was vermeintlich den Weg in die Hölle ebnen könnte. Damit wären die rigorose Zensur der Medien, der Literatur, der Filme und Kunstwerke ebenso gerechtfertigt wie die Strassenkontrollen durch die Sittenpolizei oder das Filtern von Websites. Dieses Festhalten der Konservativen an längst verstaubten Dogmen erfolgt aber keineswegs aus religiöser Überzeugung. Vielmehr steht dahinter die Furcht vor dem Machtverlust, der erfolgen würde, wenn die herrschende Ideologie aufgeweicht beziehungsweise infrage gestellt würde. Es gilt daher, jede Fundamentalkritik, jeden Versuch grundsätzlicher Reformen und jeden Einfluss von aussen mit aller Kraft zu unterbinden. Weit mehr als vor Sanktionen oder gar einem militärischen Angriff fürchten sich die Islamisten vor kultureller Unterwanderung oder, wie es offiziell heisst: einem «samtenen Kulturkrieg». Neben den Geheimdiensten, den Ordnungskräften und der Sittenpolizei gibt es eine ganze Reihe von Organen und Institutionen in der Islamischen Republik, die eigens die Aufgabe haben, «fremde» Einflüsse abzuwehren.

Der Prediger Khatami übte scharfe Kritik an der gesamten Kunst und Kultur, die seiner Ansicht nach unter westlichem Einfluss stehen. Musikalische Darbietungen seien ein «Vergehen gegen Gott», sagte er. «Unser Ziel ist eine religiöse Kultur.» Die Kultur müsse dazu dienen, jungen Menschen bei der Suche nach der eigenen Identität zu helfen, eine Identität, die sich nur im Rahmen der Religion bilden könne. Selbstverständlich sei die Islamische Republik dazu verpflichtet, die Menschen ins Paradies zu führen. «Wir können den Menschen nicht einfach selbst überlassen, moralisch, wirtschaftlich und kulturell zu tun, was ihnen beliebt», betonte der Prediger. Alam Alhodi, Prediger in der heiligen Stadt Mashad, wurde noch deutlicher. «Nicht allein mit Peitschenschlägen, wir werden mit ganzer Kraft gegen Leute vorgehen, die den Weg ins Paradies sperren wollen.»

Der Kampf ums Internet

Doch der rasante technische Fortschritt und die Globalisierung der Wirtschaft und selbstverständlich auch der Kultur lassen sich an den Grenzen Irans nicht aufhalten. Das aber wollen die Islamisten nicht wahrhaben. Das Absurde ist dabei, dass sie beim Versuch, die «dekadente Kultur des Westens» zu unterbinden, die modernsten, aus den USA teuer erworbenen Geräte – etwa zum Filtern von Internetdiensten und sozialen Netzwerken oder zur Störung ausländischer Sender – einsetzen.

Als die Regierung Rohani den Plan zur Erweiterung der Bandbreite des Internets und Einführung der «dritten Generation des Mobilfunks» (3G) ankündigte, stiegen die Konservativen auf die Barrikaden. Der einflussreiche Geistliche Ayatollah Nasser Makarem Schirasi bezeichnete den Plan als «antireligiös, unmoralisch und inhuman». Er forderte die Regierung auf, das Vorhaben aufzugeben. Als er für diese absurde Stellungnahme kritisiert wurde, erklärte er, er wolle sich der Entwicklung der Technologie nicht in den Weg stellen. «Wir sagen, diese dritte Generation ist wie verseuchtes Wasser. Ihr müsst es reinigen, damit es für alle trinkbar und nutzbar wird.» Er sei kürzlich in der Stadt Mashad gewesen, erzählte der Geistliche. Man habe ihm eines dieser Geräte vorgeführt. «Ich habe verwerfliche Filme und Fotos gesehen, die nicht gefiltert wurden. Man konnte alles sehen.» Der vom Revolutionsführer ernannte Chef der Justizbehörden, Sadegh Larijani, verglich das Internet mit einem «Sumpfgebiet, das mit Stacheldraht eingezäunt» werden müsse.

«Wir können unsere Tore vor der Aussenwelt nicht verschliessen», erwiderte Rohani verärgert . «Wir können doch die neuen Mittel und Möglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen, nicht ignorieren. Da filtern wir Websites, und am nächsten Tag gibt es eine Software, die das dann wieder ausfiltert.» Tatsächlich haben Millionen Internetnutzer in Iran Wege gefunden, um die Zäune der Justiz zu überwinden. Laut Kulturminister Ali Jannati kommunizieren mehr als vier Millionen Iraner über das offiziell verbotene Facebook, 71 Prozent der Bewohner Teherans benutzen die ebenso verbotenen Satellitenantennen zum Empfang ausländischer Fernseh- und Radiosendungen. Die Antennen werden immer wieder beschlagnahmt, was die Menschen nicht daran hindert, neue zu installieren.

Die Islamisten versuchen mit aller Gewalt, die Modernisierung der iranischen Gesellschaft aufzuhalten. Bereits vor Jahren forderte Revolutionsführer Ali Khamenei eine totale Islamisierung der Humanwissenschaften an den Universitäten. Sie sollten vom westlichen Einfluss gesäubert werden. So wurden in der Ära des Präsidenten Mahmud Ahmadinejad Hunderte Professoren entlassen und noch mehr Studenten exmatrikuliert. Derzeit wird eine Geschlechtertrennung an den Universitäten und generell am Arbeitsplatz gefordert. Das Parlament, in dem die Konservativen die absolute Mehrheit besitzen, setzte im vergangenen August Rohanis Wissenschaftsminister mit der Begründung ab, er habe exmatrikulierte Studenten wieder zugelassen und entlassene Professoren wieder eingesetzt.

Obwohl Rohani und sein Kulturminister immer wieder die Lockerung der Zensur und mehr Freiheit für die Presse, Kunst und Literatur ankündigten, liegen noch Hunderte Manuskripte ohne Begründung bei der Zensurbehörde. Das hat zum Ruin zahlreicher Verlage geführt. Auch manche Autoren mussten das Schreiben aufgeben und einen anderen Beruf ergreifen.

Rohani kritisierte die Repressionen. Diese würden dazu führen, dass «fähige Menschen vertrieben» und «die Schmeichler und Ja-Sager» bestätigt würden, sagte er. «Wir wollen nicht, dass aus den 80 Millionen Bewohnern unseres Landes 160 Millionen werden, indem jeder zwei Gesichter bekommt, mit denen er je nach Situation auftritt.»

Auch die kritische Presse steht nach wie vor unter enormem Druck. Zwar wagen die Journalisten seit Rohanis Amtsübernahme mehr Kritik. Bewundernswert sind auch manche Beiträge in neu gegründeten Zeitschriften, deren Auflage allerdings ziemlich gering ist. Doch sobald heikle Themen wie zum Beispiel die Todesstrafe oder das «Vergeltungsgesetz» (Ghessas) kritisch behandelt werden, schaltet sich die Justiz ein. Die Zeitung oder Zeitschrift wird verboten, und die Redakteure werden mit Gefängnis bestraft. Die Organisation Reporter ohne Grenzen bezeichnete Iran als eines der weltweit grössten Gefängnisse für Journalisten. Auch Musiker, Filmemacher und Künstler haben unter der rigorosen Zensur zu leiden.

Nur ein Rollenspiel?

Die Aussagen von Rohani und seinen Regierungsmitgliedern zur freien Meinungsäusserung und zu den Rechten der Bürger hatten bei Millionen Wählern, vor allem bei den jüngeren, Hoffnungen erweckt, die inzwischen zu schwinden drohen. Skeptiker sprechen bereits von einem inszenierten Rollenspiel, bei der die Regierung die Rolle einer fortschrittlichen Opposition zu spielen habe. Fakt ist jedenfalls, dass der Präsident und seine Minister nicht ausreichend Macht haben, um grundlegende Reformen durchzusetzen. Nahezu sämtliche Institutionen – so der mächtige Wächterrat, das Parlament, das Militär und die Sicherheitsdienste – befinden sich in der Hand der Konservativen. Und über allem steht die absolute Herrschaft des Revolutionsführers, der jedes Gesetz, jede Entscheidung per Dekret zunichtemachen kann.

Dieser geballten Macht stehen die Zwänge der Zeit und ein Volk gegenüber, das nach Freiheit und Gerechtigkeit und kultureller Entfaltung dürstet. Sie könnten Rohani und seiner Regierung doch noch die Chance geben, den notwendigen Wandel zu vollziehen.