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Kultur

Dämmerung eines Kampfbegriffs

Alle reden gerade wieder vom Abendland. Aber wissen seine Verteidiger überhaupt, was das ist? Eine Aufklärung

Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes – verdammt viel Semantik für eine junge politische Bewegung. Immerhin hemmt der komplizierte Name nicht den Zulauf zum Appell der Pegida, der am kommenden Montag in Dresden – wie auch in anderen Städten – erneut Tausende Bürger auf die Straße bringen wird. Was unter Islamisierung zu verstehen ist, wirkt zumindest auf den ersten Blick einigermaßen klar: keine Muezzine, keine Scharia, keine Burkapflicht. Würde all das imminent drohen, wer marschierte da nicht gerne in der ersten Reihe mit? Auch europäischer Patriotismus klingt nach einer guten Idee. Aber Abendland? Warum musste dieser Kampfbegriff eines sakral überhöhten Westens partout jetzt aus der politischen Mottenkiste gezerrt werden?

Fragte man die Teilnehmer dieser gewendeten Montagsdemos, was sie denn unter Abendland verstehen – die Antworten wären gemischt. Außer einer diffusen Abneigung gegen Muslime kann Abendland mühelos ebenso stehen für staatlichen Religionsunterricht wie konsequenten Laizismus, Ablehnung von Homosexualität wie Toleranz für jede Lebensform, für Zuwanderungsstopp wie Willkommenskultur für Bedrängte. Abendland ist ein so großer Sack, dass nicht nur der vorgeblich rassistische Nikolaus samt unterjochtem Knecht Ruprecht hereinpassen, sondern auch noch Plato und Paulus, Karl der Große und Luther, Beatles und Beethoven, Michelangelo und Tintin.

Dennoch hat der unscharfe Begriff erst im vorigen Jahrhundert so richtig Karriere gemacht. Vorher nämlich, in der Kreuzzugsrhetorik, ist seit Torquato Tasso ideologisch nichts anderes als Überhöhung christlicher Machtfantasien zu finden; solche Ritterromane des Imperialismus befeuerten auch die Legitimation der europäischen Welteroberung. Doch humanistisch wirkt das abendländische Recht des Stärkeren nun wirklich nicht. Erst im zwanzigsten Jahrhundert drehte sich das Bild. Nicht zufällig mitten im Ersten Weltkrieg erdachte der deutsche Privatgelehrte Oswald Spengler den genialen Slogan vom „Untergang des Abendlandes“. Sein dickes Werk über eine organische Abfolge von Blüte und Absterben großer Kulturen ist nicht viel anderes als eine etwas krude Weltuhr der Zivilisationen: Spengler gab vor zu wissen, wie spät es für Europa auf dem Marsch treppabwärts gerade ist. Manche zynische Adepten wie Carl Schmitt und Arthur Moeller van den Bruck inspirierte diese Untergangsvision zu Rettungsfantasien. Wir wissen, wie das ausging: Die „Rettung des Abendlandes“ endete erneut in der Vernichtung Europas.

Dass nicht die Stunde Null, sondern vielleicht gar die Stunde Fünf-nach-Zwölf geschlagen hat, dass andere Erdteile wie Amerika oder Fernost den Laden jetzt übernehmen, wirkte 1945 durchaus realistisch. Wenn viele Millionen Menschenleben auf Schlachtfeldern oder in Gaskammern ausgelöscht wurden, wenn ganze Regionen in Schutt lagen und Millionen auf der Flucht litten, dann war von einer stolzen und erfolgreichen Zivilisation auf dem Humus der christlichen Ethik und der antiken Philosophie recht eigentlich nichts mehr übrig. Hatte Spengler also Recht behalten?

Paradoxerweise fruchtete der Appell ans Abendland ausgerechnet in dessen Trümmern. Die „Bewahrung der christlich-abendländischen Kultur“ gegen den „totalitären Staatszwang“ aus dem Osten taucht nicht zufällig in den Leitsätzen des allerersten CDU-Parteitages, abgehalten 1950 zu Goslar, an prominenter Stelle auf. Dieser sonderbare Rekurs konnte bei Adenauer wie Heuss in der Frühphase der Bundesrepublik zum Mantra werden, zum „Dreiklang aus Golgatha, Akropolis und Kapitol“, weil diese vagen Anspielungen zwei Kulturen listig voneinander schieden. Die fürchterlichsten Verbrechen aus dem europäischen Werkzeugkasten – Rassismus, Shoah, Angriffskrieg–, all dies wurde mit dem Zauberwort vom Abendland den anderen, den vermeintlichen Nicht-Europäern zugeschoben, obwohl gerade an jenen „Massen im Osten“ all diese Verbrechen doch zuvörderst begangen worden waren. Damit hatte man die neue Frontstellung gegen den eurasischen Osten, wo doch unleugbar Totalitarismus und Gewalt weiter herrschten, bereits festgezurrt. Noch in Ernst Noltes perfider Diktion, Auschwitz sei eigentlich eine „asiatische Tat“ gewesen, schwingt die bequeme Selbst-Absolvierung Mitteleuropas von seinen Verbrechen deutlich mit. Der Berliner Soziologe Richard Faber hat den „Kampfbegriff Abendland“ dergestalt als Deckmantel für allerlei totalitäre Sehnsüchte demaskiert.

Statt also von abendländischen Werten zu raunen, muss man sich erst einmal klarmachen, dass keine Zivilisation all diese Werte schlimmer geschunden hat als Europa selbst. Wo nach 1945 bei uns eine Offene Gesellschaft entstand, wurde sie vielfach von amerikanischen Soldaten implementiert – oft genug Abkömmlinge von Opfern europäischer Sklavenhändler. Was dann wundersam mit der europäischen Einigung in Mitteleuropa entstand und erst mit dem Ende der sowjetischen Zwangsherrschaft im baltischen, tschechischen, polnischen oder rumänischen Okzident eine Chance bekam, war kein Abendland, sondern eine Gesellschaft, die auf universellen Werten von Freiheit, Rechtlichkeit und Menschenwürde beruht.

Dass die Mehrzahl dieser Werte im Lauf unserer Geschichte – vor allem während der Aufklärungszeit – entdeckt und oft genug sofort kaputt gemacht wurden, macht sie keineswegs zum europäischen Eigentum. Die patriotischen Dresdner Europäer, die 1989 zu guten Teilen persönlich in den Genuss einer westlichen Willkommenskultur kamen, fordern jetzt laut Offenheit statt Islamismus und übersehen dabei nonchalant, dass die allermeisten der derzeitigen Flüchtlinge aus dem Orient ja gerade darum zu uns fliehen, weil sie daheim in totalem Krieg oder bestialischem Salafismus die einfachste Menschenwürde abgesprochen bekommen. Sie fliehen in großer Not als Bittsteller und Bewunderer zur westlichen Zivilisation, wie einst Millionen in Europa Unterdrückter in Amerika Freiheit und Überleben suchten. Ein Bollwerk Abendland jedenfalls stünde im Widerspruch mit Europas Definition. Und kam nicht einst sogar das Christentum mit Zuwanderern aus dem Orient?

Gepachtet haben wir Europäer die Werte unserer Friedensordnung sowieso nicht, die Ankömmlinge aber übrigens auch nicht. Alle gemeinsam müssen sich das Funktionieren eines toleranten Miteinanders erst erarbeiten. Und da kommt eine strenge Verpflichtung der universellen Tugenden ins Spiel, auf denen unsere Zivilisation beruht. Wenn die Demonstranten von Pegida die Flüchtlinge und Neubürger mahnen wollen, dass es bei uns unverhandelbare Regeln des Zusammenlebens gibt und keine Extras für Menschen von anderswo gelten, dann haben sie damit völlig Recht. Meinungsfreiheit, individuelle Entfaltung sowie das Staatsmonopol auf Gewalt und Erziehung sind bei uns sakrosankt. Sollten patriotische Sachsen wie fromme Syrer sich darauf einigen und dann gleichermaßen befriedigt auf diesem westöstlichen Divan in die Kissen sinken, dann wäre das fast schon eine echte Morgendämmerung fürs olle Abendland.

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