Einsame Wölfe

Der Täter von Orlando war dem FBI aufgefallen. Wieso konnte er trotzdem ein Massaker anrichten?

Peter Winkler, Washington
Drucken
Die Ermittlungen im Nachtklub «Pulse» beschäftigen die Sicherheitsbehörden weiterhin. (Bild: Phelan M. Ebenhack / AP)

Die Ermittlungen im Nachtklub «Pulse» beschäftigen die Sicherheitsbehörden weiterhin. (Bild: Phelan M. Ebenhack / AP)

Drei Mal hatten Agenten der amerikanischen Bundespolizei FBI den Urheber des Massakers von Orlando befragt. Und doch schlüpfte Omar Mateen durch die Maschen der Terrorismusbekämpfung, konnte sich Waffen kaufen und am Samstagabend zum blutigsten Massaker eines einzelnen Schützen in der neueren amerikanischen Geschichte schreiten.

Hunderttausende auf der Liste

Der Fall zeigt exemplarisch, wie schwierig es ist, die jüngste Form des jihadistischen Terrorismus zu bekämpfen. Die Täter, meist allein oder als Brüder- oder Ehepaar unterwegs, müssen nicht im öffentlichen Raum kommunizieren. Sie brauchen, weil sie ohne Führung agieren, keine Befehle entgegenzunehmen oder Anweisungen einzuholen. Damit unterlaufen sie die Überwachung der elektronischen Kommunikation weitgehend. Und sie sind, wie Experten in vielen Fällen nachwiesen, so unauffällig, dass sie praktisch unsichtbar werden.

Zurück zu Omar Mateen. Das erste Mal fiel er dem FBI 2013 auf, weil er am Arbeitsplatz wilde Behauptungen verbreitete, wonach Familienangehörige und Freunde von ihm im libanesischen Hizbullah und in der Kaida aktiv seien. Bei der Befragung bestritt er dies, und das FBI kam zur Überzeugung, dass er nicht wirklich Bescheid wisse über die betreffenden Terrororganisationen.

Bei einer zweiten Befragung gab Mateen zwar zu, die Behauptungen aufgestellt zu haben. Doch gleichzeitig gestand er, er habe nur angeben wollen und wisse eigentlich gar nicht, wovon er rede. Für die FBI-Agenten klang das glaubwürdig. Im folgenden Jahr geriet Mateen erneut auf den Radar des FBI. Dieses Mal ging es darum, dass er in die gleiche Moschee zum Beten ging wie ein Mann aus Florida, der in Syrien ein Selbstmordattentat mit einer Autobombe ausgeführt hatte. Das FBI kam zum Schluss, der Kontakt sei oberflächlich gewesen und Mateen stelle keine Bedrohung dar.

Es ist nicht erwiesen, aber wahrscheinlich, dass Mateen auch nach der Einstellung der Ermittlungen auf einer geheimen Liste zur Überwachung von Terrorismusverdächtigen blieb, der Terrorist Screening Database (TSDB). Das Internet-Magazin «The Intercept» enthüllte im August 2014, dass damals gegen 680 000 Namen auf dieser Liste standen, darunter jene von 280 000 Verdächtigen, denen bisher noch nie etwas nachgewiesen werden konnte.

«The Intercept» behauptete, die Angaben dieser Verdächtigen würden grosszügig unter Regierungsstellen, befreundeten Diensten anderer Staaten und privaten Unternehmen ausgetauscht. Dagegen zitierte die Zeitung «The Guardian» am Sonntag einen Beamten der Terrorismusbekämpfung mit den Worten, Gesetze zum Schutz der Privatsphäre schränkten den Datenaustausch stark ein. Nachzuprüfen, wer hier der Wahrheit näher kommt, ist unmöglich. Klar ist aber, dass das FBI in vielen Fällen, so auch bei Mateen, eine vorläufige Untersuchung einstellt, wenn nichts gefunden wird, das eine weitere Überwachung oder eine Anklage rechtfertigte. Allein die schiere Zahl solcher Fälle lässt der Bundespolizei keine andere Wahl.

Schlüsselmoment beim Täter

Der Terrorismusexperte Peter Bergen von der Stiftung New America ist in seinem kürzlich veröffentlichten Buch «United States of Jihad» dem hausgemachten Terrorismus in den USA nachgegangen und hat in aller Offenheit beschrieben, was das Problem bei der Bekämpfung dieses Phänomens ist – besonders auch, wenn es sich um «einsame Wölfe» handelt, also radikalisierte Einzeltäter, die mit terroristischen Absichten handeln. Die Terrororganisationen haben auf die Verstärkung der Terrorabwehr reagiert, indem sie ihre Sympathisanten zu Taten aufrufen, die dem Gegner weniger Möglichkeiten geben, die Pläne aufzudecken und zu durchkreuzen. So empfahl das Internet-Magazin der Kaida auf der Arabischen Halbinsel (Aqap) seinen Lesern bereits vor Jahren, Anschläge in der eigenen Umgebung auszuführen, um das Risiko zu unterlaufen, beim Reisen in einer Sicherheitskontrolle steckenzubleiben.

Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ist, seit sie den Höhepunkt ihres Erfolgs im Nahen Osten überschritten hat, dem Beispiel der Kaida gefolgt und hat ihre Adepten ebenfalls aufgerufen, den Jihad nicht mehr in der Ferne zu suchen, sondern zu Hause zuzuschlagen. Gruppen, die mit dem IS affiliiert sein sollen, veröffentlichten auch schon detaillierte Todeslisten. Natürlich ist das zu einem Grossteil Propaganda: Terror funktioniert durch die Furcht, die er auslöst. Doch die Anweisung zum Attentat in der unmittelbaren Umgebung verstehen die führungslosen Terroristen als direkte Handlungsanleitung.

Bergens Untersuchung räumt auch mit dem Klischee auf, eine Radikalisierung verlaufe in gleichmässigem Tempo, also linear. Die Täterprofile zeigen vielmehr, dass es eine Art Schlüsselmoment gibt – eine innere Erfahrung oder ein äusseres Ereignis, das die konkrete Bereitschaft zum Handeln auslöst. Es ist deshalb durchaus plausibel, dass Mateen vor zwei, drei Jahren noch keine Bedrohung darstellte. Er kaufte sich seine Waffen ja auch erst in den vergangenen Tagen. Aus dem riesigen Reservoir an Verdächtigen zum richtigen Zeitpunkt jene wenigen aufzuspüren, die gerade ihren «Zündungspunkt» erreicht haben, scheint schon mathematisch unmöglich.

Zudem prallen die Behörden beim Versuch, die Überwachung effizienter zu gestalten, oft gegen Grundsätze, die in freiheitlichen Demokratien verfassungsrechtlich verankert sind. So ist das Reden über den Jihad oder das Betrachten derartiger Internet-Botschaften vielerorts nicht strafbar. Das hat nach Bergens Untersuchung dazu geführt, dass das FBI oft auf «sting operations» setzte: Die Tatbereitschaft von Verdächtigen wurde damit geprüft, dass ihnen die Möglichkeit zur Tat gegeben wurde. Das Resultat gibt zu denken: Das FBI hat in den USA seit 9/11 mehr jihadistische Terrorkomplotte organisiert als jede andere Organisation. Die Kern-Kaida in Pakistan hatte sechs Komplotte zustande gebracht, ihr Ableger in Jemen zwei. Die pakistanischen Taliban und der Kaida-Ableger in Syrien brachten es je auf einen. Drei weitere hatte die New Yorker Polizei organisiert, auf das Konto des FBI gingen gar 30 Anschlagspläne. Das muss bei Freiheitsliebenden ein Unbehagen auslösen, zumal die umstrittene Taktik – wo ist die Grenze zum Agent provocateur? – bei «einsamen Wölfen» bekanntlich nichts nützt, weil diese alleine oder in geschlossenen Kleingruppen operieren.

Unantastbare Freiheit

Ein weiteres, typisch amerikanisches Problem, das der Aufdeckung von Terrorplänen «einsamer Wölfe» entgegensteht, ist die Politisierung der Waffengesetze und das damit stets geschürte Misstrauen gegenüber den Behörden. Selbst das intensive Training am Sturmgewehr in Schiessanlagen, das andernorts auffallen würde, gehört hier zu den unantastbaren Grundrechten und wird den Behörden nicht als verdächtig gemeldet. Und das, obwohl laut Janet Napolitano, der früheren Ministerin für Inlandsicherheit, das Risiko für Amerikaner, die seit 9/11 in den USA blieben, 5000 mal höher war, von einem Mitbürger in einer «normalen» Schiesserei getötet zu werden als durch die Hand eines Jihadisten.