«Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit»

Gewaltphantasien – wie von Friedrich Nietzsche geäussert – gehörten zur Kunst der Avantgarde um 1900. Der reale Terror, den die Künstler beschworen und ästhetisch verklärten, holt sie heute ein.

Stefan Zweifel
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Dieter Meier parodiert 1971 in New York den terroristischen Impetus der Avantgarde. (Bild: Archiv Datasound AG)

Dieter Meier parodiert 1971 in New York den terroristischen Impetus der Avantgarde. (Bild: Archiv Datasound AG)

Seit über 200 Jahren ist es das erklärte Ziel der künstlerischen Avantgarde, das bürgerliche Bewusstsein durch Schock, Terror und Tabubruch herauszufordern. In immer rascherer Folge überboten sich die Künstler in der Findung von skandalösen Bildern, mit denen sie die Fratze der verdrängten Gewalt und Todessehnsucht aus dem Unbewussten hervorholten. Man forderte, die Bibliotheken zu verbrennen, die Museen abzufackeln und die Brandbomben der Phantasie zu entzünden: «Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit», donnerte Friedrich Nietzsche, Ahnherr dieser Avantgarde.

Heute aber werden solche Bilder von Terroristen hervorgebracht, die gerade die Avantgarde des Westens mit all seinen Werten ablehnen. Als nun CNN die Aufnahmen des Attentäters ausstrahlte, der den russischen Botschafter in der Türkei erschoss und in einer Galerie die Allmacht des fundamentalistischen Glaubens mit seinen Schreien beschwor, zeigte sich deutlicher als je zuvor, dass der Terror der Bilder das Lager gewechselt hat – während die Werke der Avantgarde an der Art Miami und in den Galerien immer mehr im glamourösen Kitsch des Kapitals versinken und die eigene Agonie durch Millionenlose bei Auktionen bemänteln.

1971 stand Dieter Meier im Eingangsbereich der Ausstellung «Swiss Avantgarde» in New York – mit einem Revolver in der Hand. Lange traute sich niemand ins Museum. Doch einige kunstbeflissene New Yorker erinnerten sich wohl an das Diktum von André Breton: «Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Strasse zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schiessen.» Sie wagten sich schliesslich vor und entdeckten eine Inschrift vor den Füssen des Schweizer Künstlers, die den terroristischen Impetus der Avantgarde mit selbstironischer Geste unterhöhlte und entlarvte: «This man will not shoot».

Theater der Grausamkeit

Die Lunte der «écriture terroriste» legte ausgerechnet der zum Katholizismus konvertierte Joris-Karl Huysman in seiner Bibel der Décadence, dem Roman «Gegen den Strich» – nicht zufällig das Vorbild des Protagonisten von Michel Houellebecqs Roman «Unterwerfung», dessen Publikation mit dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» zusammenfiel. Huysmans gelangweilter Dandy lebt einsam zwischen verstaubten altlateinischen Folianten und lässt zur Unterhaltung eine Schildkröte über den Teppich kriechen, deren Panzer er mit Edelsteinen verziert hat. Nur einmal rafft er sich auf, jagt einen Jugendlichen in die Arme von Prostituierten: «um einen Verbrecher heranzüchten» und so seinen «Ekel auf die Gegenwart» explodieren zu lassen.

Dieses Motiv wird sich wie eine Zündschnur durch die Geschichte der Avantgarde ziehen. Nietzsche träumt 1889 in der drittletzten Notiz vor seinem geistigen Zusammenbruch davon, einen «Verbrecher-Geist in Flammen zu setzen». Diese Motive versammelten sich in ihrem subversiven Witz zunächst noch in verspielter Harmlosigkeit in André Bretons «Anthologie des schwarzen Humors».

Breton bewunderte Huysmans genauso wie Arthur Rimbaud, der nach seiner poetischen Prosa «Eine Zeit in der Hölle» dem Schreiben und der Kunst abschwor, um als Waffenhändler in Afrika zur Ikone der Moderne zu werden: «REKRUTEN aus reiner GUT=Willigkeit werden wir eine blutrünstige Philosophie vertreten – / ERHECHLER des Wohl=Stands: / ZERFETZEN soll es die Welt hinter uns. / Das ist der wahre Fort=Schritt. AVANTI M=arsch!»

So zündelten die französischen Dichter in ihren Schreibstuben. Aus denen wollte Antonin Artaud die Kraft der Subversion mit seinem «Theater der Grausamkeit» befreien. In ihm sollen die Zuschauer von Lärm umtost und von gigantischen Hieroglyphen des Surrealen so terrorisiert werden, dass sich durch ein «Stampfen der Glieder» im Schmelztiegel des Theaters die Glieder des Menschen neu formen und er nicht mehr länger als Gliederpuppe des Kapitals in den Fabriken und Bürokratien zappelt, ohne die dionysische Lust des Lebens kennenzulernen: «Das Theater ist das Schafott, der Galgen, die Schützengräben, der Krematoriumsofen oder das Irrenhaus. Die Grausamkeit massakrierter Körper.»

Gesellschaft des Terror-Spektakels

Es brauchte nicht erst die Anschläge der tschetschenischen Rebellen in Beslan 2004 und das Massaker im Pariser Bataclan, um mit dem Kunsthistoriker Jean Clair zu fragen, ob diese Avantgarde nicht in verhängnisvoller Nähe zu den totalitären Regimen der Nationalsozialisten und Stalinisten stünde. In der Tat, nach dem Zweiten Weltkrieg schien dieser Romantizismus der Rebellion überholt. Und doch! Er schwang sich zu neuen Höhen der Tat und Reflexion auf.

Die Pariser Situationisten unter der Führung von Guy Debord erklärten den Bankrott der Kunst, deren Tabubrüche sofort vom Kapital aufgesogen und in den Bilderreigen der «Gesellschaft des Spektakels» eingereiht und in den Galerien zu Gold vermarktet würden. Deshalb wollten sie die Kraft der künstlerischen Rebellion auf die Strasse tragen – und in die Kirchen. 1950 zogen zwei trunkene Situationisten in Paris mit einem Rucksack los, um den Eiffelturm in die Luft zu sprengen. Sie wurden sofort verhaftet.

Ihre Kollegen stürmten dann die Kanzel in der Pariser Kirche Notre-Dame und verkündeten, als Dominikanermönche verkleidet, den Tod Gottes und wurden von den Tausenden Gläubigen fast massakriert. Später hängten sie die Konterfeis von General De Gaulle, John F. Kennedy und Adenauer an Zielscheiben. Die Besucher der Ausstellung konnten mit dem Luftgewehr darauf schiessen und einen Ausstellungskatalog gewinnen, falls sie in die Augen trafen. Damit inspirierten sie auch die RAF.

Doch den realen Terror hat Guy Debord sehr luzid verurteilt. Er sagte: Auch der Terror ist Teil des Spektakels. Er kann die Welt nicht verändern, da er letztlich ein Medienereignis bleibt. Das Spektakel ist unser allgegenwärtiger Terror, der alles zum Konsumgut für passive Zuschauer macht, selbst die Gewalt. Und so löste Debord 1972 die Bewegung der Situationisten auf. Die Realität hatte sie überholt. Denn der Terror der Roten Brigaden ist, so Debord, nichts anderes als ein Spektakel des Scheins. Anstatt die Welt zu verändern, unterhält man sie mit Terror am TV. Das war der historische Kipppunkt. Der Terror wechselte das Lager.

Paradigmenwechsel

«Ich möchte, dass meine Bücher Skalpelle, Molotowcocktails oder Minengürtel sind und dass sie nach Gebrauch wie ein Feuerwerk zu Asche zerfallen.» Selbst der französische Denker Michel Foucault war vor romantizistischen Bildern nicht gefeit. Doch angesichts der bleiernen siebziger Jahre erkannte er die dialektische Sackgasse des linken Terrorismus: «Terrorismus und Terror entpuppen sich als fundamentaler Mechanismus der herrschenden Klasse, um ihre Macht auszuüben, ihre Herrschaft, ihre Hypnose und ihre Tyrannei.»

Diese Kritik aber trifft nur den linken Terror. Der fundamentalistische Terror von heute stärkt zwar auch den repressiven Apparat des Überwachungsstaates, aber er verändert auch unseren Alltag. Es kehren nun alle Bilder aus Artauds «Theater der Grausamkeit», Bretons surrealistischem Akt, dem situationistischen Sturm auf Kirchen wieder, aber statt das Bewusstsein zu verändern, verengen sich unsere Handlungs- und Spielräume.

Die bildfindende Kraft der Kunst wurde von der Gewalt des realen Terrors überholt.

Der Umschlag der Imagination in Wirklichkeit wird heute von Fundamentalisten ins Werk gesetzt, die keinen grösseren Gegner kennen als die westliche Avantgarde mit ihrem Ikonoklasmus, wie sich im Karikaturenstreit zeigte. So gesehen war Dieter Meiers Aktion in New York der subversivste Kommentar und der selbstironische Endpunkt einer Entwicklungslinie der Avantgarde, die nicht fortgesetzt werden konnte: This man will not shoot.

Ja, der Schlaf der Avantgarde gebiert Ungeheuer, vor denen wir ähnlich machtlos dastehen wie vor Goyas Bildern des Schreckens und des Krieges. Die bildfindende Kraft der Kunst wurde von der Gewalt des realen Terrors im globalen Markt der Gesellschaft des Spektakels überholt, wo sich diese Bilder an einem einzigen Tag konkurrieren und um die Aufmerksamkeit von uns, den Konsumenten all dieser Bilder, buhlen, an einem einzigen Abend von Ankara über Zürich bis nach Berlin. Die Bilder sind aus den Museen in die Realität gestürmt.