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„Das physische Kalifat ist tot, das virtuelle lebt weiter“

Der EU-Koordinator für die Terrorismusbekämpfung über die neue Strategie des IS und die Gefahren

Er sitzt versteckt in einem großen, grauen Bürogebäude mitten im Brüsseler Europaviertel. Es ist warm, Gilles de Kerchove hat die Krawatte abgelegt. Sein Terminplan ist dicht. „Fangen wir an“, sagt der Anti-Terror-Koordinator der EU freundlich.

DIE WELT:

Herr de Kerchove, seit dem Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ in Paris 2015 wurde viel getan, um Europa sicherer zu machen. Was fehlt noch?

Gilles de Kerchove:

Ich sehe keine größeren Versäumnisse. Wichtig wäre nur, dass wir das, was wir beschlossen haben, schneller auf den Weg bringen. Wie können wir den nationalen Sicherheitsbehörden bei der Analyse der Datenflut helfen? Wie können IS-Rückkehrer wieder in die Gesellschaft integriert werden? Das sind wichtige Fragen.

Der Islamische Staat (IS) ist in der Defensive, er hat die Städte Mossul und Rakka verloren.

Das Kalifat des IS ist praktisch zerstört. Das ist eine exzellente Nachricht. Auch weil man mit dem Versprechen, die Menschen könnten in einem vom IS kontrollierten Gebiet leben, viele Kämpfer angezogen hat. Außerdem kommt der IS finanziell unter Druck, weil Steuern und Einnahmen aus dem Ölgeschäft wegfallen.

Können wir aufatmen?

Ich warne davor, den IS für geschlagen zu erklären. Das physische Kalifat ist tot, aber im Internet lebt das virtuelle Kalifat weiter. Das ist eine sehr große Gefahr. Der Kollaps des physischen Kalifats bedeutet noch nicht das Ende der terroristischen Bedrohung.

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Warum nicht?

Wir stellen fest, dass sich die Strategie des IS verändert hat: Die Terrororganisation ruft die Europäer nicht mehr auf, nach Syrien oder in den Irak zu kommen, um zu kämpfen, sondern dort anzugreifen, wo sie leben. Je stärker der IS im Irak und in Syrien unter Druck gerät, desto mehr wird er zu Terrorattacken in Europa aufrufen. Er verfolgt damit zwei Ziele: Rache üben und zeigen, dass die Organisation noch lebt.

Hat sich die Art und Weise der Angriffe verändert?

Die Terroristen verfolgen jetzt eher die sogenannte Strategie der 1000 Schnitte: Statt komplexer und detailliert geplanter Angriffe wie am 11. September lieber kleinere Attacken mit weniger logistischem Aufwand – aber davon möglichst viele. Solche Attacken können dann auch von Einzeltätern ausgeübt werden, die sich teilweise innerhalb von wenigen Wochen durch das Internet radikalisiert haben.

Expandiert der IS nach der Niederlage in Syrien und im Irak jetzt in neue Gebiete?

Es gibt Entwicklungen in diese Richtung. Der IS hat bereits heute eine gewisse Präsenz auf den Philippinen und in Indonesien. Auch in Afghanistan ist der IS vertreten, ebenso übrigens wie al-Qaida. Die Geschichte des Terrors zeigt: Wenn das Zentrum einer Organisation schwach wird, können sich viele kleine Ableger bilden.

Wird die Zahl der Terrorangriffe, wie zuletzt in Barcelona, weiter steigen?

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Das muss man abwarten. Es wird wahrscheinlich künftig mehr Anschlagsversuche geben. Aber daraus müssen nicht unbedingt erfolgreiche Angriffe werden. Die Behörden verhindern mittlerweile im Vorfeld sehr viel.

Sie sagten, das Kalifat sei tot. Werden jetzt viele Kämpfer nach Europa zurückkehren?

Das habe ich früher geglaubt. Aber es scheint nicht so zu sein.

Können Sie Zahlen nennen?

Wir hatten rund 5000 Europäer, die im Irak und in Syrien für den IS gekämpft haben. Davon sind 1500 Personen zurückgekommen, und etwa 1000 Kämpfer sind gestorben. Von den rund 2500 europäischen Kämpfern, die heute noch im Irak oder in Syrien verblieben sind, werden viele im Kampf sterben oder vom IS getötet werden, weil die Organisation keine Deserteure duldet. Andere werden in Krisengebiete wie Somalia, Libyen oder Jemen weiterziehen. Hinzu kommt, dass die Türkei mittlerweile sehr gut ihre Grenzen überwacht, und man nicht mehr so einfach aus den Kriegsgebieten nach Europa reisen kann. Nach dem Fall der IS-Hochburg Mossul sind nicht viele Kämpfer nach Europa zurückgekehrt. Unsere Befürchtungen haben sich also nicht bestätigt. Ich glaube nicht, dass künftig noch sehr viele IS-Kämpfer nach Europa zurückkommen werden.

Trotzdem wird es Rückkehrer geben. Welche Routen nehmen sie?

Ich denke, dass Rückkehrer aus dem Irak und Syrien verschiedene Wege benutzen werden, um nach Europa zu gelangen, zum Beispiel Reisen durch verschiedene Staaten mit Unterbrechungen („broken travel“), und einige eventuell auch versuchen werden, Flüchtlingsströme zu infiltrieren, um ohne Dokumente nach Europa zu gelangen. Wir haben allerdings die Kontrolle der EU-Außengrenzen stark verbessert.

Wie kann man sich davor schützen?

Um IS-Rückkehrer rechtzeitig identifizieren zu können, ist ein Austausch von biometrischen Daten innerhalb der EU unbedingt erforderlich. Es ist aber auch wichtig, dass das Militär Informationen wie Fingerabdrücke, die es im Kriegsgebiet, beispielsweise bei Hausdurchsuchungen in Mossul, sammelt, in vollem Umfang an die europäischen Sicherheitsbehörden weitergibt. Dabei sollten beide Seiten noch enger zusammenarbeiten.

Ist eine europäische Gefährderdatei notwendig?

Ich denke, die notwendigen Daten sind in den verschiedenen Datenbanken, wie dem Schengen-Informationssystem (SIS), vorhanden und auch innerhalb der EU abrufbar.

Trotzdem wird die Forderung immer wieder erhoben.

Für mich ist eher die Frage, ob wir nicht EU-weite Standards definieren müssen, wann genau welche Daten in die Systeme eingegeben werden sollen. Ein Beispiel: Eine Person weist ein problematisches Verhalten auf, weil sie regelmäßig in verdächtige Länder reist oder sich in bestimmten Milieus aufhält. Aber die Person ist noch nicht kriminell geworden. Soll man sie in das SIS einspeisen? Und wenn ja, ab welchem Zeitpunkt genau? Wir brauchen gemeinsame Standards in dieser Frage.

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