An den Grenzen von Suggestion und Gewalt – Aktuelle Entwicklungen des Salafismus in Deutschland
14. Oktober 2017 | Radikalisierung und Prävention

Die salafistische Szene in Deutschland entstand um 2004/5 mit einigen wenigen prominenten Predigern, mittlerweile haben sich unterschiedliche Strömungen herausgebildet. Das spiegelt sich auch in der Vielfalt der Motive und Lebenswege, die in die Szene hineinführen – und in den unterschiedlichen Ansätzen der Präventionsarbeit, um der Hinwendung zur salafistischen Ideologie vorzubeugen. Heiner Vogel beobachtet die Szene seit mehreren Jahren und berichtet regelmäßig auf seinem Weblog Erasmus-Monitor über aktuelle Entwicklungen. Götz Nordbruch hat mit ihm über seine Einschätzungen gesprochen.

Die salafistische Szene ist in den vergangenen Jahren nicht nur größer, sondern auch breiter geworden. Macht es aus Ihrer Sicht weiterhin Sinn, von Salafismus als übergeordnetem Phänomen zu sprechen?

In der Tat wurde die Szene vor allem durch die Ereignisse in Deutschland und in Syrien seit 2012 ordentlich durchgeschüttelt. Der Aufstieg des Islamischen Staates und die darauffolgenden Konflikte innerhalb der politischen und militanten Lager haben zu neuen Koalitionen und zur Bildung neuer Netzwerke geführt. Die Konkurrenz unter den Predigern und ihren Anhängern hat sich damit verstärkt.

Durchgesetzt hat sich auch ein gewisser Pragmatismus. Als Reaktion auf das Durchgreifen der Sicherheitsbehörden im militanten Lager und den zunehmenden zivilgesellschaftlichen Widerstand gegenüber der Szene haben die Prediger ihre Rhetorik entsprechend angepasst. Viele meiden nun den Kontakt zum dschihadistischen Flügel, mit dem sie jahrelang geliebäugelt hatten. Die Militanten sind seit dem Verbot von Millatu Ibrahim und des DIK Hildesheim wesentlich dezentraler organisiert.

Derartige Gruppen oder Vereine, die in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, sind kaum mehr präsent. Man kann insgesamt daher schon von einer Heterogenisierung der Szene sprechen, die zum Teil auch in andere Spektren und Milieus des Islamismus ausgreift. Auch hierbei spielte der syrische Bürgerkrieg eine zentrale Rolle. Ultranationalistische Türken mit islamistischem Anstrich und salafistische Gruppierungen kamen sich trotz der fundamentalen ideologischen Gegensätze immer näher. Nicht nur der Salafismus allein, sondern der Islamismus generell hat in Deutschland mittlerweile eine Weiterentwicklung erlebt.

In der Diskussion um Radikalisierungen liegt ein besonderes Augenmerk auf gewaltbereiten Formen des Salafismus. Was halten sie von dieser Schwerpunktsetzung – welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Predigern wie Pierre Vogel und anderen, die ausdrücklich zur Gewalt aufrufen?

Natürlich stellt der gewaltbereite Salafismus das Hauptproblem dar. Das Dilemma ist aber bekanntlich das Überlappen der verschiedenen Strömungen. Ein Trennen von „Gemäßigten“ und „Hardlinern“ ist daher kaum möglich, da sowohl subtile als auch offene Agitationsformen eine Rolle bei der Radikalisierung spielen. Ideologie und Emotionen gehen meist Hand in Hand.

Prediger wie Pierre Vogel oder Sven Lau bewegten sich lange Zeit in diesen Graubereichen der Szene und schielten vor allem nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs klar auf die militante Szene. Natürlich kannten sie und die meisten anderen Prediger das rechtliche Risiko und achteten darauf, dass sie in der Öffentlichkeit nicht zu weit gingen.

Aber gemeinsam mit den salafistischen Hilfsorganisationen und auch militanten Gruppen sorgten sie im Fall von Syrien für eine emotionale Aufladung und Solidarisierungswelle in der gesamten Szene, ob unter Puristen, politischen oder militanten Salafisten bzw. Angehörigen anderer islamistischer Strömungen. Sven Lau und andere Prediger überschritten dann offenbar die Grenzen zwischen Suggestion und Militanz. Der Schritt von einem Lager ins andere ist also sehr schnell gemacht.

Pierre Vogel selbst verurteilte zwar immer Terror und Gewalt gegen „Unschuldige“. Die Grundlage zur Militanz durch ihn und andere „Pragmatiker“ wurden und werden vor allem mit Spielereien in Form von Relativismen geschaffen, wenn es um die „Verteidigung“ und „Abwehr“ der Muslime gegen „Unterdrückung“ oder westliche Militäraktionen in islamischen Ländern geht. Zwar ist derzeit eine verbale Zurückhaltung in der Szene zu beobachten. Das hängt vor allem damit zusammen, dass der zivilgesellschaftliche und staatliche Druck deutlich zugenommen hat, aber auch die „Zentrifugalkräfte“ innerhalb der Szene.

Wenn es um Ursachen von Radikalisierungen geht, stehen sich oft zwei Erklärungsmuster gegenüber: Entweder geht es um religiöse Analphabeten, die durch eine kriminelle Biographie, familiäre oder psychische Probleme geprägt sind, oder um ideologisierte Personen, deren Handeln letztlich nur die Konsequenz ihres Denkens ist. Beide Typen gibt es, was die Präventionsarbeit umso schwerer macht. Worin sehen Sie die Gemeinsamkeit in diesen Fällen, was verbindet sie – und was unterscheidet sie?

Es ist schwer, einen Prototypen des Salafisten zu beschreiben. Wie sie bereits sagen, gibt es eine nennenswerte Zahl von Anhängern, die durch Orientierungslosigkeit und psychosoziale Dispositionen besonders anfällig sind für religiösen oder politischen Extremismus. Genauso gibt es viele Salafisten, die bereits innerhalb von familiären Strukturen mit bestimmten Denk- und Lebensweisen sozialisiert wurden.

Gemeinsam ist beiden Gruppen das ambivalente Lebensgefühl von Repression und Benachteiligung in der Gesellschaft und zugleich die übersteigerte Selbstinszenierung als Avantgarde. Eingebunden in ein System, in dem sich Lebens- und Arbeitswelten sowie gesellschaftliche, politische und religiöse Werte- und Glaubensgrundsätze rasant verändern, fühlen sie sich von diesen Entwicklungen offenbar überfordert oder gar ausgegrenzt. 

Aber natürlich gibt es auch grundsätzliche Unterschiede zwischen den beiden Typen. Religiöse Analphabeten, die also quasi durch persönliche Selbstfindungsprozesse, psychische Probleme oder Orientierungslosigkeit in die Szene rutschen, sind wesentlich unsicherer. Sie suchen nach Anleitung und wollen sich in einer Welt, die sie nicht verstehen, führen lassen. Und das bekommen sie in der Salafismus-Szene, deren autoritäre Glaubenspraxis ihnen feste Strukturen vorgibt. Dort fühlen sie sich verstanden und respektiert. Dort müssen sie nicht viel leisten, bereits die Konversion ist für sie die Eintrittskarte in ein soziales Gefüge. Sie entziehen sich dadurch dem Druck und den Erwartungen der „Leistungsgesellschaft“, die von ihren Eltern, der Schule oder dem Staat repräsentiert wird. Denn in der Szene lernen sie, wie sie das bestehende System hinterfragen und die Opferrolle verinnerlichen können.

Auf der anderen Seite stehen die Menschen, die bereits durch ihr persönliches (konservatives) Umfeld geprägt wurden. Sie sind es, die den Unerfahrenen die Richtung weisen. Und da reicht bereits ein dominantes Auftreten aus, dass ihnen in der Kindheit vermittelt wurde, um unsichere Menschen für sich einzunehmen. Sie sind nicht zwangsläufig geschulter in religiösen Fragen, sie kennen sich aber häufig aufgrund der vielleicht auch kulturell bedingten Sozialisation in grundsätzlichen Themen aus. Der Habitus, die familiäre Rollenverteilung oder der wöchentliche Gang in die Moschee reichen da schon aus, um sich gegenüber der restlichen Gesellschaft abzugrenzen.

In der öffentlichen Wahrnehmung spielt die Online-Propaganda des IS weiterhin eine große Rolle. Auch hier liegt ein Schwerpunkt also auf gewaltbereiten Formen, wobei man entsprechende Videos heute kaum noch zufällig findet. Zugleich werden viele Online-Foren mittlerweile von missionarisch-salafistischen Positionen geprägt, ohne dass diese Positionen immer gezielt von salafistischen Akteuren verbreitet werden. Wo sehen sie einen Bedarf, online präventiv zu handeln? Geht es darum, dschihadistische Propaganda zu dekonstruieren – oder eher um politische und religiöse Bildung im Allgemeinen, die auch ohne direkte Verweise auf den IS auskommt?

Allgemein sollte man Gewalt und Verrohung stärker ins Blickfeld nehmen, ohne dezidiert auf den IS eingehen zu müssen. Gewalt ist in einer Gesellschaft stets präsent, ob auf dem Schulhof, in der Disko oder auf Demonstrationen. Bei der Dekonstruktion dschihadistischer Propaganda sollte man sich auch nicht vor heiklen politischen oder religiösen Diskussionen scheuen. Nur durch einen offenen Umgang, ob es der Palästina-Konflikt ist oder westliche Außenpolitik, kann man die Zielgruppe erreichen.

Natürlich muss man dabei Grenzen ziehen. Aber viele sind religiöse Analphabeten, Rituale und Verhaltenskodizes spielen bei ihnen eine größere Rolle als religiöses Fachwissen. Emotionen leiten nicht selten ihre Handlungen und ihr schablonenhaftes Denken. An diesen sollte man versuchen anzudocken, um die Zielgruppe zu erreichen.

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