"Er sagte mir, er will Amerikaner erschießen" – Seite 1

ZEIT ONLINE: Herr Demir, Sie sind Imam und gehen in Österreichs Gefängnisse, um muslimische Häftlinge zu treffen. Warum?

Ramazan Demir: Weil die Bedeutung von Religion in Haftanstalten zunimmt. Gerade dann ist es wichtig, für die Menschen da zu sein. Sie suchen nach Orientierung, Motivation und Vertrauen. Besonders letzteres versuchen wir ihnen zu geben, sonst laufen sie in die Arme gefährlicher Menschen.

ZEIT ONLINE: Sie meinen andere Häftlinge?

Demir: Ja. Sie müssen sich vorstellen, dass mir nach dem Gottesdienst, also dem Freitagsgebet, oder während der Einzelbetreuung von Häftlingen allerlei Fragen gestellt werden. Zum Beispiel, wie man korrekt betet und fastet. Aber auch, ob der IS islamisch sei oder nicht. Leider ist es uns Seelsorgern aufgrund der ehrenamtlichen Tätigkeit  nicht möglich, jeden Tag für die Menschen vor Ort zu sein. Wenn wir nicht da sind, werden eben andere Häftlinge gefragt.

Es kann sein, dass der Mitinsasse ein Mensch ist, der den friedlichen Islam – wie er auch ursprünglich ist – versteht und lebt. Dann haben wir Glück. Wenn wir aber Pech haben, stoßen sie auf Hardliner. Die wollen nichts anderes, als das gesamte Gefängnis mit ihren radikalen Gedanken infizieren.

ZEIT ONLINE: Wie leicht gelingt ihnen das?

Ramazan Demir (31) kam in Ludwigshafen am Rhein zur Welt. Er studierte Islamische Religionspädagogik und lebt seit zehn Jahren in Wien. Seit 2016 leitet er die islamische Gefängnisseelsorge in Österreich. In seinem neuen Buch "Unter Extremisten" warnt er vor der unterschätzten Gefahr der Radikalisierung in Haft. © privat

Demir: Prinzipiell kann man sagen, je weniger sich die Häftlinge vorher mit Religion auseinandergesetzt haben, desto anfälliger sind sie. Dann können noch andere Faktoren hinzukommen, die das begünstigen. Zum Beispiel Anfeindungen von Wärtern oder andere schlechte Erfahrungen im Gefängnis, aber auch grundsätzlich falsche Weltvorstellungen können eine Rolle spielen.

ZEIT ONLINE: Wie sehr vertrauen sich die Häftlinge Ihnen an?

Demir: Aufgrund meiner Schweigepflicht gibt es da keine Grenzen. Mir fällt der Mann ein, der mir einmal sagte: "Sobald ich hier raus bin, werde ich Amerikaner erschießen." Und mir fällt ein 16-jähriges Mädchen ein, das mir sagte, sie möchte in der Haft Suizid begehen. Ihr Großvater hatte ihr zuvor am Telefon gesagt, dass sie für ihre Taten in der Hölle schmoren werde. Natürlich sind das Momente, die nicht unberührt an mir vorbeiziehen.

ZEIT ONLINE: Wie können Sie einem Mann helfen, der beabsichtigt, Amerikaner zu erschießen?

Demir: Indem ich mir Zeit für ihn nehme. Ich fragte den Mann, warum er das vorhabe. Er sagte, die Amerikaner seien in den Irak eingedrungen und müssten lernen, Angst zu bekommen. Gerade in Bezug auf Gewalt bietet der Koran viele theologische Antworten, auf die ich mich dann beziehe, um solchen Menschen klar machen, dass ihr Vorhaben dem Koran widerspricht. Denn erst die falsche Auslegung des Islams instruiert ja Menschen zu Anschlägen und Morden. Natürlich gehört es auch zu meiner Aufgabe, Verschwörungstheorien zu beseitigen, die in den Köpfen der Menschen existieren.

ZEIT ONLINE: Gelingt Ihnen das bei jedem?

Demir: Nein. Ich scheitere bei so manchem Extremisten, die eine Art Führerfunktion haben. Die sind so fest in ihrer Ideologie verankert, dass sie mich als Ungläubigen abgestempelt haben. Sie lassen sich dann erst gar nicht auf Diskussionen mit mir ein. In den Augen der Radikalen bin ich ja ein viel größerer Feind als der Bio-Deutsche oder Bio-Österreicher. Denn ich predige beim Freitagsgebet im Gefängnis nicht nur gegen Terrororganisationen wie den IS, sondern hindere ja auch potenzielle IS-Kämpfer an der Ausreise.

ZEIT ONLINE: Hat das Konsequenzen für Sie?

Demir: Es ist keine leichte Situation für mich, denn die Insassen kommen irgendwann wieder frei. Manche sagen mir, dass sie mir außerhalb der Gefängnismauern nicht helfen würden, wenn ein IS-Kämpfer auf mich losgehen würde.

ZEIT ONLINE: Warum wird Religion ausgerechnet im Gefängnis wieder wichtig für Menschen?

Demir: Häftlinge befinden sich in einer Extremsituation. Plötzlich sind Freunde und Familie weg. Es ist niemand da, dem man sich anvertrauen kann. Sie kommen also in einen Suchmodus und fangen dabei an zu grübeln. Außerdem glaube ich, dass für die Mehrheit der Muslime der Islam ohnehin in irgendeiner Form eine Rolle spielt. Im Gefängnis taucht die Verbundenheit wieder auf – bei manchen mehr, bei manchen weniger.

ZEIT ONLINE: In Ihrem neuen Buch Unter Extremisten berichten Sie von Ihren Erfahrungen in Österreichs Gefängnissen. Sie kritisieren darin, dass die Politik das Problem in den Gefängnissen systematisch kleinrede.

"Die Hinterhofmoscheen müssen geschlossen werden"

Demir: Ich sage das ganz klar: Gefängnisse sind Brutstätten der Radikalisierung, dennoch weigert sich die Politik ernsthaft, etwas dagegen zu tun. Eine wichtige Maßnahme wäre beispielsweise, viel stärker auf den Einsatz von Imamen und muslimischen Seelsorgern zu setzen. Das ist in Österreich übrigens genauso ein Problem wie in Deutschland. In Österreich sind derzeit 2.044 der 9.500 Häftlinge Muslime oder haben Eltern, die aus muslimischen Ländern stammen. Es gibt aber nur 33 Imame in Österreich, die ehrenamtlich einmal in der Woche oder in jeder zweiten Woche ein paar Stunden in den Haftanstalten verbringen.

ZEIT ONLINE: Das klingt nicht viel.

Demir: Ist es auch nicht. Wir mussten in den Moscheen Geld sammeln, um einen Imam quasi als hauptberuflichen Seelsorger in einer Justizanstalt einsetzen zu können. Er wird also von der islamischen Gemeinde bezahlt. Mein Buch verstehe ich deshalb auch als Weckruf: Der Staat muss endlich handeln! Ansonsten werden wir in fünf Jahren in Europa ein noch viel größeres Problem mit radikalisierten Menschen haben. Ich möchte aber betonen, dass es bei unserer Arbeit nicht nur um die Auslegung des Korans geht, sondern auch schlicht um die menschliche Seelsorge.

ZEIT ONLINE: Was fordern Sie konkret?

Demir: Wir brauchen mehr Imame und muslimische Seelsorger in den Gefängnissen und diese müssen hauptberuflich beschäftigt werden. Dass Imame neben ihrer Arbeit in den Moscheen sich für ein, zwei Stunden zurückziehen, um ins Gefängnis zu fahren, reicht einfach nicht. Zudem müssen sogenannte radikale und versteckte Hinterhofmoscheen, die ich korrekterweise "Hinterhofräumlichkeiten" nenne, geschlossen werden, wenn dort Hassprediger auftreten.

ZEIT ONLINE: Sie sagen also, wenn Imame mehr Zeit hätten, in Gefängnissen mit Extremisten ins Gespräch zu kommen, könnten Anschläge verhindert werden?

Demir: Natürlich. Ich erinnere mich an einen jungen Mann, der es inzwischen zu trauriger Berühmtheit geschafft hat. Ich hatte ihn einmal in einer Justizvollzugsanstalt getroffen. Damals konnte ich mich mit ihm nur einmal unterhalten. Er wirkte aufgewirbelt, nach Anerkennung suchend. Zu einem zweiten Treffen kam es leider nicht mehr. Später habe ich ihn noch einmal gesehen – das war in einem Video, auf dem zu sehen war, wie er einem anderen Menschen in Syrien den Kopf abschlug.

Ich bin mir sicher, mit mehr Ressourcen für Gefängnisseelsorger könnten solche Morde verhindert werden. In den Niederlanden hat man dieses Problem erkannt und gehandelt. Dort werden nun systematisch Seelsorger aller Konfessionen eingesetzt.

ZEIT ONLINE: In Deutschland sieht es zum Teil nicht anders aus. Es sind nur wenige Imame aktiv, die meisten ehrenamtlich. Zudem sprechen wenige Justizbeamte Türkisch oder gar Arabisch.

Demir: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Auch hier fordere ich die Politik zum Handeln auf. Wir brauchen in Österreich und Deutschland viel mehr Beamte in Gefängnissen, die einen türkischen und vor allem arabischen Hintergrund haben. Denn das stärkt das Wir-Gefühl. Muslimische Häftlinge bekommen weniger das Gefühl, in der Gefangenschaft von "Fremden" zu sein, wenn sie sehen, das auch Muslime als Wärter im Gefängnis eine Kontrollfunktion haben und für den Staat arbeiten.