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Islamischer Staat Sie zogen in den Dschihad. Jetzt kommen sie zurück. Und ja, das kann gut gehen.

Wer vom Dschihad träume, mache sich keine Gedanken über seine Ausbildung, sagt Thomas Mücke
Wer vom Dschihad träume, mache sich keine Gedanken über seine Ausbildung, sagt Thomas Mücke vom Violence Prevention Network (kleines Bild). Wichtig deshalb: neue Perspektiven schaffen.
© Godong/UIG/Gettty Images, Violence Prevention Network/Klages
Vor einiger Zeit zogen Menschen aus Deutschland in den Dschihad. Jetzt ist das Kalifat des sogenannten Islamischen Staates zerfallen und die Auswanderer von damals wollen zurück. Das kann doch nicht gut gehen! Kann es doch, sagt Thomas Mücke, Experte für Deradikalisierung im stern-Interview.

Herr Mücke, das Kalifat ist zerfallen, Personen, die sich einst dem sogenannten Islamischen Staat anschlossen, wollen jetzt zurück nach Deutschland. Die Menschen hier reagieren darauf mit Angst. Zu Recht?

Die entscheidende Frage ist: Wird mit den Rückkehrern gearbeitet? Es gibt verschiedene Rückkehrerwellen und Rückkehrergruppen. Die ersten Rückkehrer kamen bereits 2015 aus dem IS zurück - mit Selbstzweifeln: Sie waren desillusioniert. Mit dieser Gruppe arbeiten wir seit Jahren, einige waren in Freiheit, andere im Vollzug. Viele von denen sind mittlerweile entlassen. Sie haben ganz gute Chancen, dass sie sich auf einen guten Weg machen.
Nun werden wir mit einer neuen Gruppe an Rückkehrern konfrontiert. Diese Gruppe war länger im Kampfgebiet, hat die Eskalation des Krieges unmittelbar miterlebt und wahrscheinlich deutlich mehr mit schweren Verbrechen zu tun gehabt. Einige haben bis zum Schluss an den IS geglaubt. Von den Männern sind die meisten tot. Zurück bleiben die - oft sehr jungen - Frauen und die Kinder, von denen wir sehr wenig wissen. Sind sie freiwillig im IS geblieben? Wie stark sind sie ideologisiert? Wie stark sind sie traumatisiert?

Das sind jene Personen, von denen Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen im Oktober meinte: Das sei eine mögliche „neue Dschihadisten-Generation“. Hatten Ihr Netzwerk mit den Frauen und Kindern bisher keinen Kontakt?

Nein. Sie sind noch gar nicht zurück in Deutschland. Zunächst einmal wird die Bundesstaatsanwaltschaft die Fälle prüfen. Man muss davon ausgehen, dass die Betroffenen zunächst in Untersuchungshaft sitzen werden, die Fälle müssen juristisch aufgearbeitet werden. Erst dann werden wir als Nichtregierungsorganisation den Hinweis erhalten, mit einer Person zu arbeiten. Aktuell wissen wir nicht, wie viele Personen erwartet werden. Aber wir sind vorbereitet.

Thomas Mücke, Geschäftsführer von Violence Prevention Network
© Violence Prevention Network/Klages

Thomas Mücke

Thomas Mücke ist Mitbegründer und Geschäftsführer von Violence Prevention Network. Violence Prevention Network ist eine Nichtregierungsorganisation für Extremismusprävention und Deradikalisierung. Das Netzwerk mit rund 100 Mitarbeitern betreut im Bereich des religiös begründeten Extremismus derzeit über 300 Betroffene. Die Organisation ist in sieben Bundesländern tätig: Berlin, Niedersachsen, Bayern, Hessen, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen. In den übrigen Bundesländern seien andere Organisationen tätig, mit denen man im Austausch stehe, sagt Mücke.

Für Sie als Pädagoge des Netzwerks Violence Prevention (siehe Info-Kasten links) heißt es dann: deradikalisieren, das Denken der Person komplett umkrempeln. Wo fängt man da bloß an?

Die Betroffenen haben vollständig verlernt, eigenständig zu denken. Wir müssen ihnen vermitteln: Bei uns dürft ihr wieder fragen. Und wir wollen erkennen: Was sind die Themen, die diese Menschen bewegen, was sind die Fragen, die sie sich stellen? Einige fragen uns: "War das der Islam, den ich da gesehen habe?" Oder sie sagen: "Bevor ich ausgereist bin, hat man mir gesagt: 'Islam und Demokratie sind nicht vereinbar. Als Moslem darf ich nicht in Deutschland sein.'" Auf solche Aussagen warten wir, dann beginnt eine Diskussion. Wir arbeiten nicht mit Gegennarrativen, denn Gegennarrative bedeuten: Ich verfüge über den Wahrheitsanspruch. Dabei versuchen wir doch, dass die Menschen aus dem absoluten Wahrheitsanspruchsdenken herauskommen und unterschiedliche Sichtweisen annehmen können. Das sind lange, lange Diskussionen, die war da führen, ein ständiger Dialog.

Im Verlauf achten wir darauf, ob sich die Personen auch von extremistischen Ideologien langsam distanzieren, dass sie sich auch aus dem organisierten Bereich lösen. Und dann geht es um das Hier und Jetzt: Jemand, der vom Dschihad geträumt hat, macht sich keine Gedanken über seine Ausbildung. Diese Personen wurden von ihrer Heimat entfremdet, wie können wir die alten sozialen Kontakte wieder reaktivieren, wo stehen Eltern, Freunde? Diese Rückkehr ins normale, gesellschaftliche Leben ist der schwierigste Prozess. Glücklicherweise haben wir es meist mit sehr jungen Menschen zu tun, die sind tendenziell offener. Ziel ist es, dass von den Menschen keine Gefahr mehr ausgeht - weder für sich, noch für andere.

Welche Erfahrung haben Sie mit der Strategie bisher gemacht? Wie lange dauert der Prozess, wie hoch sind die Erfolgschancen?

Wir haben eine sehr hohe Erreichbarkeitsquote und bleiben an den Fällen auch ein, zwei Jahre dran. Wenn man zu schnell vorgeht, besteht die Gefahr eine Wiederradikalisierung, wenn man enttäuscht wird. Aber: Wir kennen bereits Menschen, die im Kampfgebiet waren, im IS-Ausbildungslager und die heute ein ganz normales gesellschaftliches Leben führen, mit Ausbildung und Job. Das alles kann man erreichen - auch wenn es sicher nicht in jedem Einzelfall möglich sein wird. Je länger die Menschen im IS waren und je älter sie sind, desto schwieriger wird der Prozess.

Sie sprechen von einer "hohen Erreichbarkeitsquote": Wie kommt man an die Menschen überhaupt ran, die Leute werden sich wohl kaum bei Ihnen melden und sagen: "Ich bin Dschihadist und möchte das nun ändern."

Doch. Einige wenden sich persönlich an unser Netzwerk, das kommt vor. Im Vollzug ist der Kontakt am einfachsten, ansonsten haben wir Kontakt mit Angehörigen. Natürlich, wir müssen den ersten Schritt machen. Aber wir haben Erfahrung im Streetwork, da weiß man, wie man die Leute erreichen kann.

Haben Betroffene Ihre Bemühungen schon einmal abgeblockt?

Ja, man kann die Leute nicht zwingen, gerade, wenn sie in Freiheit sind. Dann ist es so - es darf Sie aber nicht daran hindern, es zu versuchen.

Werden diese Menschen den Sicherheitsbehörden gemeldet?

Die Sicherheitsbehörden verschaffen sich immer einen Überblick, was mit den Personen passiert.

Wie verhält es sich mit kleinen Kindern, die nichts kennen außer das Leben im IS? Sicherheitsbehörden schätzen, dass mehr als 100 Kinder nach Deutschland zurückkehren könnten, berichtete zuletzt "Die Welt" und titelte: "Angst vor den Kindern des Dschihad".

Das sind keine ideologischen Monster. Kinder haben den IS gar nicht begriffen, sondern nur übernommen, was gesagt wurde. Bei Kindern geht es vor allem um eines: ihr Wohl. Sie brauchen eine geschützte Umgebung, sie tragen keine Verantwortung für das Geschehene. Sie sind Opfer, keine potenziellen späteren Täter.

Sie widersprechen also Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen mit der "neuen Dschihadisten-Generation".

Richtig ist, dass man sich um diese Kinder kümmern und dafür sorgen muss, dass sie nicht weiter in einem extremistischen Umfeld aufwachsen. Wenn sie ein kleines Kind mit dem Etikett einer möglichen dschihadistischen Gefahr aufwachsen lassen, dann können Sie sich überlegen, wie sich das Kind entwickeln wird.

Zuletzt fand der Fall Linda W. große Aufmerksamkeit. Die junge Frau aus Sachsen zog in den IS, distanzierte sich nun davon und will zurück nach Deutschland. Ein Islamismusexperte hält ihre Distanzierung für nicht glaubhaft.

Das weiß man nicht. Ob ich jemand für glaubhaft halte oder nicht, kann ich erst feststellen, sobald ich Kontakt mit der Person habe.

Trotzdem erscheint es ziemlich wahnsinnig, dass Menschen, die im IS meinten das Paradies zu finden und die Hölle fanden, noch immer an der Ideologie festhalten könnten.

Das mag mehrere Gründe geben. Viele der Menschen sind noch so gefangen in dem Gedanken "Wenn ich mich abwende, hat das Auswirkungen auf mein Leben im Jenseits", dass sie keine Zweifel zulassen können. Erst wenn Zweifel aufkommen, kann man die Person erreichen. Jeder Fall ist anders. Zudem muss man wissen: Es gab einen auslösenden Moment, in dessen Folge sich die Leute dem IS zugewandt haben. Dieses Problem muss ich ergründen. Wenn ich die Gründe für die Radikalisierung nicht verarbeite, dann besteht die Gefahr der Wiederradikalisierung weiter.

Ziel ist die Reintegration des Betroffenen in die Gesellschaft. Dazu braucht es sowohl den Willen des Betroffenen, sich einzubringen als auch die Bereitschaft der Gesellschaft, die Person aufzunehmen. Ist Deutschland bereit, IS-Rückkehrer aufzunehmen?

An der Stimmung im Land merken Sie: Es gibt da großen Gegenwind. Aber eine Deradikalisierung macht man nicht auf dem öffentlichen Präsentierteller. Wenn ich zu einer Ausbildungsstätte sage: "Nehmen Sie doch mal diesen Syrien-Rückkehrer" - da kann ich verstehen, dass die Leute damit ein Problem haben. Man darf die Menschen nicht überfordern. Nicht an jedem Ort gibt es zweite Chancen, oft hilft ein Wohnortswechsel. Doch passieren die Prozesse im Stillen und unauffällig, kann Reintegration gelingen.

Terror-Experte

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