Radikalisierung statt Resozialisierung: In Jugendgefängnissen...

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Sind Justizvollzugsanstalten Durchlauferhitzer für Salafisten und Brutstätten islamistischen Terrors? Die Kriminologische Zentralstelle mit Sitz in Wiesbaden hat dies erstmals...

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WIESBADEN. Nach islamistischen Anschlägen in Europa ist immer wieder zu hören, die Attentäter hätten sich im Gefängnis radikalisiert. Sind Justizvollzugsanstalten Durchlauferhitzer für Salafisten und Brutstätten islamistischen Terrors? Die Kriminologische Zentralstelle mit Sitz in Wiesbaden hat dies erstmals mit Blick auf straffällig gewordene Jugendliche untersucht. Seit Kurzem liegt das Ergebnis der Forschungs- und Dokumentationsstelle des Bundes und der Länder vor: Demnach verzeichnen drei Viertel aller deutschen Jugendstrafvollzugsanstalten extremistische Tendenzen bei Insassen. Eine große Ratlosigkeit herrscht, welche Handhabe es gegen diese Radikalisierung gibt.

Als Grundlage der Studie hatte Kriminologin Fredericke Leuschner die Leitungen aller 36 deutschen Jugendgefängnisse angeschrieben – 32 antworteten: In 24 dieser 32 Gefängnisse gab es binnen eines Jahres konkrete Anlässe, sich mit dem Thema Radikalisierung auseinanderzusetzen. Rein präventive Überlegungen blieben bei dieser Auflistung außen vor. Obwohl die Befragung sich auf alle Formen der Radikalisierung bezog – egal ob rechts, links oder religiös motiviert – stand in den Antworten die religiöse Radikalisierung im Vordergrund. Als Beispiele nannten die Gefängnisleiter verdächtige Briefe, einschlägige Symbole und Zeichnungen in den Zellen sowie Kontakte der Insassen zu IS-Sympathisanten. Aber weder konnten sie sagen, wann die Radikalisierung einzelner Jugendlicher begonnen hatte, noch orientierten sie sich an einer einheitlichen Definition, was „Radikalisierung“ eigentlich meint.

Nur jedes zweite Gefängnis bot eine Form der Ausstiegshilfe oder zumindest ein Anti-Aggressionstraining an. Der Rest verwies auf herkömmliche Angebote des Jugendstrafvollzugs – auf Sportgruppen und auf Möglichkeiten, einen Schulabschluss zu machen oder eine Berufsausbildung.

In Haft wegen Planung staatsgefährdender Gewalttaten

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Dabei ist es nicht so, dass die Justiz nicht gewarnt wäre. In zehn Fällen gab es konkrete Hinweise der Sicherheitsbehörden auf die Gefährlichkeit jugendlicher Insassen. Sieben Vollzugsanstalten hatten es mit Häftlingen zu tun, denen man vorwirft, eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorzubereiten und Teil einer terroristischen Vereinigung zu sein. Experten gehen davon aus, dass gerade diese Insassen junge, orientierungslose Mitgefangene indoktrinieren.

18 Gefängnisse bestätigten, entsprechende Verhaltensauffälligkeiten von Jugendlichen beobachtet zu haben, zum Beispiel Äußerungen, die auf eine extremistische Einstellung schließen lassen. Oder es fand sich in der Zelle ein Koran des Lies-Verlags, der bekannt dafür ist, von Salafisten verteilt zu werden. Manche Insassen versuchten auch ganz offen, Mitgefangene zu missionieren.

„In den Fragebögen wurde deutlich, dass Radikalisierung ganz klar ein Thema für die Mitarbeiter der Jugendgefängnisse ist“, sagt Fredericke Leuschner. Dennoch wirkten die Versuche, eine Radikalisierung zu erkennen, wie ein Stochern im Dunkeln. Zwar schicken 30 der 32 Gefängnisleiter nach eigenen Angaben regelmäßig Mitarbeiter zu Fortbildungen. Doch jedes Bundesland hat eigene Vorgaben und Konzepte, es fehlt ein einheitlicher Standard. Leuschner bilanziert: „Es geschieht zu wenig, um Jugendliche zu deradikalisieren.“ Es hänge von einzelnen Initiativen und Präventionsprogrammen und damit ein Stück weit vom Zufall ab, ob radikalisierte Jugendliche während der Haft und nach der Haftentlassung aufgefangen würden.

Die Kriminologin hält einen stetigen Austausch derjenigen Gefängnisse, die mehr Erfahrung mit Radikalisierung haben und jenen mit weniger Expertise, für sinnvoll. Zudem kritisiert sie, dass Deradikalisierungs-Initiativen in Frauen-Jugendvollzugsanstalten fehlen. Zwar komme es bei Frauen seltener zur Radikalisierung, doch Leuschner empfiehlt, auf diesem Auge nicht blind zu sein. Dies gelte im Übrigen auch für politisch motivierten Rechts- und Linksextremismus. Bloß weil gegenwärtig die mediale Aufmerksamkeit auf religiöse Radikalisierung gerichtet sei, dürften andere Tendenzen nicht unbemerkt bleiben.

Keine Treffer in der Präventionsdatenbank

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Handlungsbedarf sieht auch Daniel Köhler, Direktor des German Institute of Radicalization and Deradicalization. Er hat ein Handbuch im Auftrag der baden-württembergischen Landesregierung geschrieben, das für einheitliche Standards in der Extremismusprävention wirbt. Er fordert, die Prävention zu koordinieren. Dazu richtete Baden-Württemberg 2015 ein „Kompetenzzentrum zur Koordinierung des Präventionsnetzwerks gegen Extremismus in Baden-Württemberg“ ein. Eine Präventionsdatenbank auf der Homepage soll alle Initiativen vernetzen. Doch gibt man – drei Jahre später – die Suchworte Radikalisierung oder Extremismus ein, spuckt die Datenbank keinen Treffer aus. Sieht so die Offensive aus, um ein effizientes Präventionsnetzwerk zu schaffen?

Nachfrage beim Justizministerium in Stuttgart. Das Kompetenzzentrum sei noch im Aufbau, heißt es. Auf die Frage nach den Kriterien, die eine Radikalisierung erkennen lassen, erklärt der Sprecher, eine „Definition oder trennscharfe Zuordnung“ stehe „nicht im Vordergrund“. Anhaltspunkte könnten sich „aus dem Sozialverhalten, etwa in Form von Rückzug, Agitation, Gewaltbereitschaft, begrenzter Konfliktfähigkeit, Anfeindungen oder Ausgrenzungen ergeben“.

Immerhin sind in allen Anstalten des Landes mittlerweile sogenannte Strukturbeobachter damit betraut, Risiken bei Neuzugängen zu erkennen. Auch besuchen fünf speziell ausgebildete Trainer des „Violence Prevention Network“ regelmäßig baden-württembergische Gefängnisse, um Jugendliche zu betreuen.

Auch beim rheinland-pfälzischen Justizministerium existiert keine Definition, ab wann ein Gefangener als radikal zu gelten hat. Ob eine Radikalisierung vorliege, werde im Einzelfall entschieden. Strukturbeobachter analog zur Praxis anderer Bundesländer beschäftigt der rheinland-pfälzische Justizvollzug nicht. Stattdessen laufe ein Modellprojekt des Bundes zur Prävention und Deradikalisierung mit dem Titel „Demokratie leben“. Es endet 2019.

Ein positives Gegenbeispiel ist Hessen. Nach Angaben des Justizministeriums stellt das Land in diesem Jahr 400 000 Euro für das Projekt „Netzwerk Deradikalisierung im Strafvollzug“ zur Verfügung. Das bereits im April 2016 gestartete Projekt ermöglicht die Beschäftigung von 14 Strukturbeobachtern. Sie sollen gefährliche Häftlinge erkennen und beobachten: Die Zellen verdächtiger Personen werden häufiger kontrolliert. Auch werden diese Gefangenen öfter umverlegt, sodass ihr Einfluss auf Mitgefangene nicht zu groß wird. Verhalten sich Insassen verdächtig, werden Landeskriminalamt und Verfassungsschutz informiert.

IS-Rückkehrer bleiben in Haft gewaltbereit

„Der Justizvollzug steht aktuell vor der Herausforderung, mit zunehmend mehr als islamistisch radikalisiert eingestuften Personen umgehen zu müssen, die aus dem Gebiet des so genannten „Islamischen Staates“ zurückkehren oder sonst im Zusammenhang mit islamistisch motivierten Straftaten verurteilt wurden“, bekräftigt die Kriminologische Zentralstelle. In ihrer 2017 veröffentlichten Studie gehen die Forscher von mindestens 32 nach wie vor gewaltbereiten Syrien-Heimkehrern aus, die in deutschen Gefängnissen einsitzen. In den nächsten drei Jahren wollen sich die Kriminologen schwerpunktmäßig mit der Frage befassen, wie islamistische Radikalisierung in Gefängnissen erkannt und gebannt werden kann. Dazu ist eine Kooperation mit zwei Justizvollzugsanstalten geplant, sagt der Projektverantwortliche Christian Illgner. Welche Gefängnisse diese Chance erhalten, stehe noch nicht fest.

Von Nadine Zeller