1. Untersuchungsausschuss

Experten: Hinwendung zum Dschihadismus ein individueller Vorgang

Vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) hat ein Sachverständiger auf die Nähe zwischen bestimmten Milieus gewöhnlicher Kriminalität und dem politisch motivierten radikalislamischen Terrorismus hingewiesen. „Terrorismus und Kriminalität gehen Hand in Hand“, sagte Dr. Marwan Abou-Taam, wissenschaftlicher Mitarbeiter des rheinland-pfälzischen Landeskriminalamtes, in einer Anhörung unter Leitung von Armin Schuster (CDU/CSU) am Donnerstag, 26. April 2018

Er warnte vor „idealtypischem Denken“ von Sicherheitsbehörden, die gegebenenfalls davon ausgingen, ein Terrorist könne nicht zugleich Drogenhändler sein. Der Urheber des Anschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016, Anis Amri, war den Behörden als Kleinkrimineller und Rauschgiftkonsument bekannt gewesen. Das war einer der Gründe, warum er als minder gefährlich eingeschätzt wurde.

„Warum es okay ist, kriminell zu sein“

Salafistische Organisationen machten Kriminellen das Angebot, ihr Handeln als Erfüllung eines göttlichen Auftrages zu „sakralisieren“, sagte Abou-Taam: „Das heißt nicht, dass der Kriminelle sich geändert hat, aber er kriegt jetzt eine Narration, warum es okay ist, kriminell zu sein.“ Zudem seien radikale Islamisten auf Personal angewiesen, das sich durch Beschaffungsstraftaten „selbst finanziert“. Schließlich bestünden in vielen Fällen personelle Verflechtungen zwischen beiden Milieus, etwa wenn es in ein und demselben Familienclan Islamisten gebe und zugleich andere Mitglieder, die in Aktivitäten gewöhnlicher Kriminalität verwickelt seien.

Einig waren sich die zum Thema „Gewaltbereiter Islamismus und Radikalisierungsprozesse“ geladenen Experten darüber, dass die Hinwendung zu dschihadistischer Ideologie und Praxis ein individueller und in jedem Einzelfall unterschiedlich verlaufender Vorgang sei. Das mache es den Behörden schwer, Menschen mit einschlägigen Neigungen frühzeitig zu identifizieren oder gar einen Algorithmus zu programmieren, der aus Äußerungen und Verhaltensweisen eine  Terrorprognose zuverlässig ableiten könne.

„Kurze hippe Videos“ statt langatmiger Vorträge

Die Publizistin und Islamismus-Expertin Claudia Dantschke wies darauf hin, dass immer jüngere Menschen durch  Radikalisierung gefährdet seien. Sei man früher davon ausgegangen, dass die Betroffenen in der Regel zwischen 17 und 27 Jahre als waren, so sei neuerdings zu beobachten, dass bereits 15- bis 16-Jährige in den Sog der Beeinflussung gerieten Seit 2011 habe sich ein „Pop-Dschihadimus als Teil der westlichen Jugendkultur“ herausgebildet. 

Der Zielgruppe würden keine mehrtägigen Islam-Seminare oder langatmigen Prediger-Vorträge mehr zugemutet, sondern „kurze hippe Videos“, während die tatsächliche Glaubenspraxis eher abnehme. Die Betroffenen seien in der Regel „religiös-theologische Analphabeten“. Ihnen gehe es nicht um spirituelle Erfahrungen, sondern um eine „maximale Protestform gegen die Wertorientierung ihrer Elternhäuser“.

Bei der Beobachtung des späteren Terroristen Anis Amri hätten sich die Behörden in ihrer Einschätzung offenbar von falschen Kriterien leiten lassen, sagte Dantschke. Die Zuständigen hätten über alle relevanten Informationen verfügt. Sie hätten aber wohl in der Bewertung die Akzente nicht richtig gesetzt. Die Beurteilung Amris als minder gefährlich habe sich auf den Umstand gestützt, dass bei ihm kein fromm islamischer Lebenswandel zu beobachten war, so die Sachverständige.

„Man ist der Entwicklung hinterhergehinkt“

Der Mann habe gekifft, mit Drogen gehandelt und Alkohol getrunken. Zugleich allerdings habe er weiterhin im Umfeld des radikalislamischen Predigers Abu Walaa und der Moabiter Fussilet-Moschee verkehrt, die später als islamistische Brutstätte geschlossen wurde: „Er hat nicht den Bruch vollzogen zu diesem Netzwerk.“ Den Behörden sei auch dies bekannt gewesen. Sie hätten es in Abwägung gegen die vermeintlich lockeren Sitten der Zielperson indes nicht hinreichend gewichtet: „Man ist der Entwicklung hinterhergehinkt.“

Das allerdings unterlaufe den Behörden bei der Bekämpfung des radikalislamischen Terrorismus öfters, kritisierte Dantschke: „Die Szene entwickelt sich rasant schnell.“ Das werde nicht angemessen wahrgenommen. So sei im vorigen Sommer das Erstaunen über die Hamburger Messerattacke groß gewesen. Man habe indes wissen können, dass der Islamische Staat (IS) damals bereits seit anderthalb Jahren seine Anhänger in Deutschland aufgefordert habe: „Nimm ein Messer, stich den Nachbarn ab.“ Die Behörden müssten sicherstellen, dass sie immer auf dem gleichen Informationsniveau seien wie die Szene, forderte Dantschke.

„Radikalisierung verläuft nicht blitzartig“

Der Islamwissenschaftler Dr. Michael Kiefer aus Osnabrück widersprach der Vermutung, dass eine Radikalisierung „blitzartig“ verlaufen könne. Diese These stehe im Raum, aber nicht haltbar. Es gehe um Prozesse, die sich in Zeiträumen von einem bis zu drei Jahren abspielten. 

Radikalisierung geschehe auch nicht im stillen Kämmerlein, sondern immer in Gruppen: „Der einsame Wolf ist eine Ausnahme.“

„Radikalisierungsprozess verläuft individuell“

Die Leiterin der Stabsstelle „Radikalisierungsprävention“ im bayerischen Sozialministerium, Dr. Christiane Nischler-Leibl, wies auf die Komplexität der Materie hin. In jedem Einzelfall verlaufe ein Radikalisierungsprozess individuell. Umso schwerer sei es, die maßgeblichen Faktoren zu diagnostizieren und zu gewichten: „Man erkennt es sehr viel leichter im Nachgang als im Vorfeld.“ Hilfreich sein könne allenfalls eine generelle Haltung der „Sensibilität“ und „Wachheit“.

Für den Präsidenten der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung und früheren Islamismusexperten beim Verfassungsschutz, Alexander Eisvogel, lautet die Hauptfrage, welche tatsächlichen Anhaltspunkte für die Radikalisierung Amris vorgelegen hätten, aber nicht genutzt worden seien. Wann hätten die Behörden erkennen können, dass er etwas plante? Wer habe in welcher Intensität versucht, alle Informationen über Amri zusammenzutragen? Dabei sei es kaum zielführend, persönlichen Radikalisierungsprozessen nachzuspüren, also darüber zu spekulieren, „was in Amris Kopf vorging“. Maßgeblich hätten allein Anhaltspunkte sein können, die sich aus seinem beobachteten Verhalten ergaben. Hätte es den Behörden nicht auffallen können, dass Amri zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bemerkenswertes Interesse für Lastwagen an den Tag legte, fragte Eisvogel.

Vor „kulturkämpferischem Duktus“ gewarnt

Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Zentrum für islamische Theologie in Münster Sindyan Qasem plädierte dafür, die Gefahrenabwehr auf terroristische Handungen und nicht auf salafistisch-islamistische Einstellungen zu konzentrieren. Es sei empirisch nicht zu belegen, dass jeder Salafist in Gefahr sei, Terrorist zu werden. Die Meinungs- und Glaubensfreiheit gelte auch für Radikale. Schon die Unterscheidung zwischen „moderaten“ und „extremen“ Muslimen berge daher den Keim der Stigmatisierung.

Zu differenzieren sei auch zwischen Gewaltbefürwortern und aktiven Gewalttätern: „Wenn bestimmte Einstellungen beobachtet werden, die in einigen Fällen zu Gewalt führen, heißt das nicht, dass dies in allen Fällen geschieht.“ Qasem warnte vor einem  „kulturkämpferischen Duktus“, der sich in der Vermutung eines automatischen Zusammenhangs zwischen Religiosität und Radikalismus äußere und nur „kontraproduktiv“ wirken könne.

„Dauerpersilschein für den Islam“

Der aus dem Libanon gebürtige Regisseur und Drehbuchautor Imad Karim stellte hingegen einen Unterschied zwischen „Islam“ und „Islamismus“ rundheraus in Abrede. Wenn im Westen das Bestreben, eine allein religiös legitimierte Gesellschaft zu schaffen, als Hauptmerkmal des Islamismus gelte, so werde verkannt, dass genau dies auf den Islam insgesamt zutreffe. 

Der Begriff des Islamismus sei  erfunden worden, „um dem Islam einen Dauerpersilschein auszustellen“, sagte Karim und warnte vor einem „Ausverkauf der Werte der Aufklärung“. (wid/26.04.2018)

Liste der geladenen Sachverständigen

  • Dr. Marwan Abou-Taam, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz
  • Claudia Dantschke, HAYAT-Deutschland
  • Dr. Alexander Eisvogel, Präsident der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung
  • Imad Karim, Regisseur und Drehbuchautor
  • Dr. Michael Kiefer, Universität Osnabrück, Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften, Institut für Islamische Theologie, Leiter der Postdoc-Gruppe „Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft“
  • Dr. Christiane Nischler-Leibl, Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Leiterin Stabsstelle und der Organisationseinheit „Radikalisierungsprävention“
  • Sindyan Qasem, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie, Münster
  • Alexander Ritzmann, Brandenburgisches Institut für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS), Radicalization Awareness Network (RAN) der Europäischen Kommission, Brüssel

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