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  4. Salafismus: Islamwissenschaftler Michael Kiefer warnt vor Panikmache

Nordrhein-Westfalen Immer mehr Extremisten

„Salafisten und Rechte haben viel gemeinsam“

Michael Kiefer, Islamwissenschaftler und Publizist Michael Kiefer, Islamwissenschaftler und Publizist
Michael Kiefer, Islamwissenschaftler und Publizist
Quelle: Silvia Reimann
Seit 2013 hat sich die Zahl der Salafisten in Deutschland verdoppelt. Doch der Islamwissenschaftler Michael Kiefer warnt vor Panikmache und sagt: Wenn man früh genug einschreitet, ist niemand verloren.

Auch 2018 wurden wieder mehr militante Salafisten in Deutschland registriert als im Vorjahr. Trotz aller Präventions- und Aussteigerprogramme, trotz stetigem Personalzuwachs in den Sicherheitsbehörden. Dass dennoch etwas getan werden kann, sagt der Islamwissenschaftler Michael Kiefer, ein Kenner der salafistischen Szene. Nun legt er eine erste Bilanz seines Modellprojekts zur Prävention vor Salafismus und Rechtsextremismus vor, das seit zwei Jahren in NRW und Berlin läuft.

WELT: Herr Kiefer, die Zahl registrierter Salafisten steigt weiter. Im ersten Quartal 2018 kletterte sie bundesweit auf 11.000 Personen, Ende 2017 waren es 10.800. Seit 2013 hat sich ihre Zahl verdoppelt. Man kann machen, was man will – die werden mehr.

Michael Kiefer: Man muss die Zahlen zu deuten wissen. Seit 2012 haben Verfassungsschutz und Polizei in Bund und Ländern permanent Personal aufgebaut, das die salafistische Szene beobachtet und deren Mitglieder zählt. Deshalb wird nur das Dunkelfeld von Jahr zu Jahr gründlicher ausgeleuchtet. Dazu trägt auch die wachsende Sensibilisierung der Bevölkerung, insbesondere des pädagogischen Personals hin.

WELT: Melden Lehrer und Eltern mehr Verdachtsfälle als früher?

Kiefer: Deutlich mehr! Auch dadurch kommen wir Extremisten besser auf die Schliche als noch vor ein paar Jahren.

WELT: Sollten Sie richtig liegen, müsste die Zahl der Salafisten dort stagnieren, wo die Szene seit Längerem besonders gründlich beobachtet wird...

Kiefer: ...wie in NRW. Und da stagniert die Zahl auch bei rund 3000.

WELT: Wenn es keinen Zuwachs mehr gibt: woran liegt das?

Kiefer: Hauptsächlich daran, dass der sogenannte Islamische Staat in Syrien und Irak eine schwere Niederlage erlitten hat. Dadurch ist ihm Strahlkraft verloren gegangen. Sein Endkampf um das Kalifat ist gescheitert. Erfolg mobilisiert – und Misserfolg demobilisiert. Das gilt auch für hiesige Anhänger des Islamischen Staates.

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WELT: Vor ein paar Jahren warnten Verfassungsschützer noch, wer einmal in die Fänge dieser Extremisten gerate, komme kaum mehr heraus.

Kiefer: Dieses Bild vom Salafismus als hermetisch geschlossener Gesellschaft ist wohl entstanden, weil die Sicherheitsbehörden bis vor ein paar Jahren in die Szene kaum hineinkamen. Aber das hat sich geändert. In den vergangenen ein bis zwei Jahren gab es riesige Fortschritte, etwa beim Mitlesen der Kommunikation in der Szene.

WELT: Ist die Szene jetzt transparent?

Kiefer: Die Sicherheitsbehörden haben jetzt wohl einen besseren Überblick. Das belegt auch der erfreuliche Umstand, dass es seit Anis Amri in Deutschland keinen Anschlag mehr gab.

WELT: Und wer einmal in ihre Fänge geraten ist, muss nicht für immer dort bleiben?

Kiefer: Bei Weitem nicht. Immer wieder steigen Anhänger ohne Hilfe von außen komplett aus. Einmal Salafi, immer Salafi – das ist ein Mythos.

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WELT: Sie wollen in Ihrem Forschungsprojekt ja auch herausfinden, wie man Jugendliche vor Salafismus und Rechtsextremismus schützen kann. Sie müssen dabei also beide Strömungen vergleichen.

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Kiefer: Dabei zeigt sich, dass Jugendliche, die in religiösen oder politischen Extremismus abdriften, viel gemeinsam haben. Vor allem finden sie es attraktiv, durch Identifikation mit einer radikalen Bewegung ihr Selbst zu erhöhen, ihr Ego zu steigern. Ihr Weltbild verschafft ihnen ja Bedeutung. Sie sind die Retter des wahren Glaubens vor den Glaubensfeinden oder die Retter der Nation vor den Ausländern. Außerdem erleben Jugendliche Macht, sobald sie mit den Symbolen des Extremismus auch nur spielen.

WELT: Wie sieht das beim Salafismus aus?

Kiefer: Im Fall einer salafistischen Performance ziehen Schülerinnen plötzlich den Niqab, also den Gesichtsschleier an; junge Männer erscheinen mit Zweidrittel-Hosen und langem Bart. Und beide verweigern Angehörigen des anderen Geschlechts den Handschlag. Damit sorgen sie schlagartig für Aufregung, das ist sozusagen die ultimative Provokation.

WELT: Was haben salafistische und rechtsextreme Jugendliche noch gemein?

Kiefer: Die erfreulichste Gemeinsamkeit besteht darin, dass man bei den meisten die langfristige Radikalisierung verhindern kann – wenn man nur früh genug interveniert.

WELT: Manchmal rutschen sie doch so schnell in die Militanz ab, dass dazu keine Gelegenheit bleibt.

Kiefer: Das ist die verbreitete These der Blitzradikalisierung. Die führt aber meist in die Irre. Fast immer dauert der Prozess der Radikalisierung ein bis drei Jahre. In aller Regel bieten sich Gelegenheiten zur Intervention. Es braucht nur jemanden, der die Zeichen zu deuten weiß.

Verfassungsschutz warnt vor wachsender Salafisten-Szene

Der Leiter des Verfassungsschutzes von Nordrhein-Westfalen, Burkhard Freier, warnt davor, dass in Deutschland Parallelgesellschaften entstehen. Er sieht die Gefahr im wachsenden Einfluss weiblicher Salafisten.

Quelle: N24

WELT: Welches sind typische Merkmale salafistischer Radikalisierung?

Kiefer: Das erwähnte Anlegen des Niqab oder der verweigerte Handschlag können darauf hindeuten. Auch wenn ein Jugendlicher plötzlich viel Zeit auf religiösen Internetseiten und in entsprechenden sozialen Netzwerken verbringt, sollte man aufmerksam werden.

WELT: Das klingt, als wäre nur ein areligiöser Jugendlicher vertrauenswürdig.

Kiefer: Nein, das wäre ein Missverständnis. Ein Kopftuch anzulegen bedeutet nicht, extrem zu sein. Und bei den religiösen Websites ist natürlich die Frage, welche Seiten besucht werden. Selbst bei Niqab und Zweidrittel-Hose kann es sich anfangs um Spielerei handeln. Aber man sollte schon aufmerksam hingucken und seine Sorge auch ausdrücken.

WELT: Zwischen bedenklichem und unbedenklichem Verhalten ist nicht immer leicht zu unterscheiden.

Kiefer: Deshalb ist entscheidend, den Jugendlichen ohne Vorwurf anzusprechen. Zunächst geht es nur darum, zu verstehen, was passiert. Dazu braucht man Empathie. Lehrer und Eltern sollten eine Tonlage jenseits von Alarmismus und Verharmlosung anschlagen.

WELT: Ab wann sollte man ernsthaft besorgt sein?

Kiefer: Sobald Freiheitsrechte anderer eingeschränkt werden.

WELT: Konkret?

Kiefer: Beispielsweise wenn Jugendliche bedrängt werden, im Ramadan zu fasten, die Gebetszeiten einzuhalten oder das Kopftuch anzulegen. Oder wenn Kinder sich sehr konfrontativ über angebliche Feinde äußern wie Israel, das man vernichten müsse. Mit ein bisschen Mühe kann man das Tolerable vom Intolerablen durchaus unterscheiden.

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WELT: Aber Antisemitismus ist nicht spezifisch salafistisch.

Kiefer: Nein, alle Islamisten hassen Israel. Und viele Islamisten versuchen ihrem Umfeld muslimisches Verhalten aufzunötigen. Das Problem ist größer als der militante Salafismus. Aber diese Gesinnungen sind der Nährboden für Salafismus als radikalste Variante des Islamismus.

WELT: Wenn Jugendliche erkennbar diesen Irrweg einschlagen – wie bringt man sie davon ab?

Kiefer: Das eine Rezept gibt es nicht. In vielen Fällen wird die Radikalisierung aber durch familiäre Krisen wie Trennungen und Todesfälle, durch schulisches Scheitern und vermeintliche oder tatsächliche Diskriminierungserfahrungen begünstigt. An diesen Stellen können Pädagogen und Eltern helfen. Allerdings bräuchten die meisten Schulen dafür erst einmal mehr Personal, vor allem Sozialarbeiter.

WELT: Das wäre Extremismusprävention?

Kiefer: Ja, es gibt keinen anderen Ort, an dem gefährdete Jugendliche besser zu erreichen wären.

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