Das Video zeigt einen Mann, der sich in Rage redet: Gerade hat Abdul Adhim Kamouss –  schwarzer Fusselbart, weißer Turban – die Versuchungen der westlichen Welt verteufelt; von Jugendlichen gesprochen, die in die Kriminalität abrutschen, den Drogen verfallen. Jetzt beschwört er ihre einzige mögliche Rettung: den Islam.

"Derjenige, der Allah nicht gedenkt, ist tot, auch wenn er atmet", schreit der Prediger und zieht die Augenbrauen bedrohlich zusammen. "Derjenige, der Allah gedenkt aber, ist lebendig, auch wenn er stirbt."

Die Aufnahmen stammen aus dem Jahr 2007. Sie zeigen Kamouss, damals 29, auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Dicht an dicht drängen sich seine Zuhörer auf dem Boden der Berliner Al-Nur-Moschee. Die meisten sind Migrantenkinder der zweiten Generation; Jugendliche, die in seinem Islamunterricht erstmals zur Religion der Eltern finden. Auch ein paar Nichtmuslime sind dabei, einige werden bei ihm konvertieren. Kamouss ist bekannt dafür, es hat ihm den Spitznamen "Moslemmacher" eingebracht.

Der Verfassungsschutz hat damals noch ganz andere Namen für ihn. Der Prediger gilt als "Durchlaufstation" zum Extremismus. Formal sei er zwar gegen Gewalt, heißt es, als Vertreter des politischen Salafismus zähle er dennoch zu den "Radikalisierern". Der ultrakonservative Salafismus zählt schon damals zu den am stärksten wachsenden Strömungen des Islams. Und Kamouss zu den absoluten Stars der Szene.

Man muss sich das ins Gedächtnis rufen, wenn man denselben Mann mehr als ein Jahrzehnt später auf einer anderen Bühne stehen sieht. Es ist ein warmer Junitag 2018, statt Gebetsmantel und Turban trägt Kamouss grauen Anzug und weißes Hemd. Statt in der vom Verfassungsschutz beobachteten Al-Nur-Moschee spricht er nun in einem christlichen Gotteshaus, der Baptistenkirche Wedding.

Ein Angebot der Muslime an die Gesellschaft

Es ist sein großer Tag. Etwa 200 Gäste sind gekommen; Scheinwerfer tauchen die Bühne in warmes Licht. Ein Breakdancer ist gerade über das Parkett gewirbelt, gleich wird Kamouss seinen Mitgesellschafter vorstellen, den Fußballer Änis Ben-Hatira.

Kamouss hat an diesem Abend in die Kirche geladen, um sein neues Projekt zu präsentieren: die Stiftung Islam in Deutschland, er hat sie gerade erst gegründet. Ein ambitioniertes Vorhaben: Eine Deradikalisierungsstelle ist geplant, Pfadfindercamps, eine eigene Moschee. Unterstützt wird er von einem Team von 60 Leuten.

Kamouss spricht viel von Toleranz an diesem Abend. Von Brücken zur Mehrheitsgesellschaft, die er bauen will. Seine Stiftung sei ein Angebot der Muslime an die Gesellschaft, sagt er. Eine ausgestreckte Hand. Vom Allgemeinheitsanspruch des Islams – keine Rede mehr.

Mehr als zehn Jahre liegen zwischen beiden Auftritten. Eine Zeit, in der einige von Kamouss' Schülern in den bewaffneten Dschihad ziehen. In der er mit seinem Auftritt bei Günther Jauch als "Quassel-Imam" bekannt wird. Eine Zeit aber auch, in der er beginnt, sich von alten Ansichten zu distanzieren. Er diskutiert in interreligiösen Dialogrunden, organisiert Aktionswochen gegen islamistische Gewalt – und wird dafür von Fundamentalisten mit dem Tod bedroht. Am Ende dieser zehn Jahre wird die Extremismusforscherin Claudia Dantschke über ihn sagen, er sei eine "Leitfigur für alle, die eine friedliche und integrative Form suchen, den Islam zu leben." Wer ist dieser Mann? Und was steckt hinter seinem Wandel?