Berlin . Der Verfassungsschutz beklagt eine Radikalisierung „von Geburt an“. Er sieht in dschihadistischen Familien in eine potenzielle Gefahr.

Dschihad ist auch ein Jungenname. Im Arabischen bedeutet er so viel wie „sich anstrengen“. Klingt unschuldig. Nicht für Verfassungsschützer. Bei Kindern kann der Name auf ein radikales Umfeld hinweisen, auf eine Familie, die sich für ein sonderbares Ziel „anstrengen“ will, für den heiligen Krieg: für den „Dschihad“.

Auch von Familien, die nicht in Kampfgebiete in Syrien und im Irak gereist sind, geht nach einer Analyse des Bundesamts für Verfassungsschutz eine Gefahr aus. Das Amt geht von einer „niedrigen dreistelligen Zahl“ solcher Familien aus – mit mehreren Hundert Kindern. Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen bezeichnet deren fortwährende dschihadistische Sozialisation als „besorgniserregend“.

Indizien für eine „frühere Radikalisierung“

In der Studie heißt es, „von Geburt an“ würden die Kinder „mit einem extremistischen Weltbild erzogen, welches Gewalt an anderen legitimiert und alle nicht zur eigenen Gruppe Gehörigen herabsetzt“. Es gebe „erste Indikatoren für eine mögliche, schnellere, frühere und wahrscheinlichere Radikalisierung von Minderjährigen“. Das berge „ein nicht unerhebliches Gefährdungspotenzial“.

Was der Verfassungsschutz über sie weiß, erfährt er meist durch Zufall, als „Randerkenntnis“. Denn: Über ein Kind, das jünger als 14 Jahre ist, darf das Amt nur Akten führen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass es bestimmte Straftaten „plant, begeht oder begangen hat“, wie es im Gesetz heißt.

Gewaltverherrlichende Apps und Bücher

Es geht bei Kleinkindern nicht gleich um Straftaten, sondern um die Ideologisierung, etwa „durch Lern-Apps, Lehrbücher und Kinderserien, die gewalt- und kriegsverherrlichend sind“. Typisch sei die sprachliche Abgrenzung zwischen eigenem Milieu (In-Gruppe) und Gesellschaft (Out-Gruppe), wenn der Vater zwischen der „Kuffar“-Schule („der Ungläubigen“) und der „normalen Schule“ in der Moschee unterscheidet.

Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. © dpa | Michael Kappeler

Der Verfassungsschutz unterscheidet zwischen drei Gruppen von Familien: Je nachdem, ob sie in Kampfgebiete ausgereist sind, in Syrien oder Irak etwa, zurückgekehrt oder aber – dritte Gruppe – sich hierzulande radikalisiert haben. Von der dritten Gruppe handelt die aktuelle Analyse des Verfassungsschutzes. Erst 2016 war das gesetzliche Mindestalter für Beobachtungen von 16 auf 14 Jahre abgesenkt worden. Trotzdem mahnt der CDU-Abgeordnete und Geheimdienst-Kontrolleur Patrick Sensburg, „auch bei Personen unter 14 Jahren gibt es in Einzelfällen den Verdacht, dass sie in die Vorbereitung erheblicher Straftaten verwickelt sein können“. Man müsse sie in die Überwachung nehmen, „wenn es notwendig ist“.

Es gehe nicht um die Kriminalisierung von Minderjährigen, sondern um die Abwehr erheblicher Gefahren. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) erzählt: „Die Jungen und Mädchen, die aus den Kriegsgebieten zurückkehren, haben oft Gewalt und Not erlebt, sind traumatisiert und im schlimmsten Fall auch radikalisiert. Wir müssen leider davon ausgehen, dass sie ein anderes Verhältnis zur Gewalt haben und die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, geringer ist.“

Der Staat hat einen Schutzauftrag auch für radikalisierte Kinder

Der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Stephan Mayer (CSU) sagt, auch in Deutschland habe im November/Dezember 2016 ein Zwölfjähriger einen Sprengstoffanschlag unternommen. Mayer sieht aber auch einen „staatlichen Schutzauftrag zugunsten dieser Kinder“. Die Jugendhilfe müsse über die nachrichtendienstliche Aufklärung informiert werden.

Je früher der Verfassungsschutz weiß, dass Kinder radikalisiert werden, desto früher kann die Hilfe ansetzen. In Niedersachsen wird geprüft, wie man solche Kinder besser vor ihren Eltern schützen kann, etwa durch eine Inobhutnahme durch das Jugendamt.

Kindersoldaten als Herausforderung für den Verfassungsschutz

In Bayern darf der Verfassungsschutz radikalisierte Kinder ohne Altersbegrenzungen beobachten. Auch Reul fordert, die Behörden bräuchten Instrumente, „um auch traumatisierte und gewaltbereite Rückkehrer unter 14 Jahren in den Blick nehmen zu können.“ Die Bundesregierung will ohnehin die Befugnisse der Geheimdienste vereinheitlichen.

„Die Diskussion um die richtige Lösung werden wir noch führen“, sagt Mayer voraus. Verfassungsschützer Maaßen glaubt, die Kindersoldaten des Dschihad werden für sein Amt die „Herausforderung in den nächsten Jahren“.

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