Die Suche nach Identität und Anerkennung – Seite 1

Am Anfang steht häufig eine Irritation. Die Irritation einer Mutter etwa, deren Sohn sich plötzlich einen langen Bart wachsen lässt. Die Irritation eines Vaters, dessen Tochter sich unerwartet ein Kopftuch überzieht. Die Irritation einer Schwester, die ihren Bruder nicht mehr wiedererkennt, weil er sich völlig anders verhält. Auf die Irritation folgt eine Überforderung.

Die meisten Jugendlichen, die sich radikalisieren, sagt Gökay Sofuoğlu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), stammen aus westlichen, säkularen Familien. Viele von ihnen seien religiös ungebildet. Die Eltern reagierten dementsprechend verängstigt, wenn sie plötzlich Veränderungen an ihrem Kind ausmachten. Familiäre Konflikte, die nicht selten aus dieser Angst heraus entstehen, führten wiederum dazu, dass sich die Kinder auf der Suche nach Anerkennung nach außen wenden. Im schlechtesten Falle an Extremisten. 

Damit es so weit nicht kommt, sagt Sofuoğlu, sei es entscheidend, die richtigen Angebote zu machen. Präventions- und Deradikalisierungsarbeit gehören dazu. "Meist sind die nahen Personen die einzigen, die die Jugendlichen noch erreichen", sagt der TGD-Vorsitzende.

Zugang über die Angehörigen

Es gibt zwei grundlegende Ansätze in der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Einerseits muslimische Sozialarbeiter, die mit bereits Radikalisierten über deren Islamverständnis diskutieren. Die sie in Gefängnissen besuchen, schon bei ersten Anzeichen in Schulen Workshops geben und sich die schwierigen Kandidaten beiseitenehmen. Das Violence Prevention Network etwa, eine Berliner NGO, verfolgt unter anderem diesen Ansatz. Und es gibt Angebote, die sich an die Angehörigen richten. In der Hoffnung, die Jugendlichen auf diesem Wege zu erreichen. Hayat zum Beispiel, ein Projekt der Islamismusexpertin Claudia Dantschke und des Psychologen und Publizisten Ahmad Mansour.

Diesen zweiten Ansatz, den Weg über die Angehörigen zu gehen, verfolgt auch die Türkische Gemeinde in Deutschland mit ihrem neuen Projekt Emel, einer Onlineberatung zu religiös begründetem Extremismus. Eltern oder Lehrer, die fürchten, ihr Kind oder Schüler radikalisiere sich, können dem Team zunächst eine E-Mail schicken, auf Arabisch, Türkisch oder Deutsch. Über einen verschlüsselten Zugang können sie sich anschließend auf der Seite einloggen und die Antwort lesen. Auch Chats sind geplant. Zum Team gehören Psychologen, systemische Berater, Islamwissenschaftler. Derzeit sind sie zu viert und werden in der Anfangszeit von zwei Mentoren begleitet. Finanziert wird das Projekt vom EU-Fonds für Innere Sicherheit, gefördert vom Bundesfamilienministerium.

Die Hemmschwelle bei Onlineangeboten sei geringer, sagt die Leiterin des Projekts, Nevin Uca. Eine E-Mail sei zunächst einfacher als ein persönliches Gespräch. In der Beratung gegen Rechtsextremismus, bei Sucht- und Schuldenproblemen werde diese Form schon länger genutzt. 

Die Idee: Das Beratungsteam geht die Probleme auf der familiären Ebene an, nicht auf der religiösen. Denn hinter Radikalisierungen stehen meist soziale Konflikte, Ärger in der Familie, Ausgrenzungserfahrungen. Es geht daher vor allem darum, soziale Beziehungen zu stärken.

Wie erfolgreich bereits bestehende Deradikalisierungsprojekte sind, ist schwer zu bewerten. Statistisch belastbare Studien zu ihrer Wirksamkeit gibt es nicht. Aber der Bedarf an solchen Angeboten ist groß. Die Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), bei der sich Angehörige per Telefon melden können und dann an Gesprächspartner vor Ort vermittelt werden, verzeichnet seit ihrer Gründung 2012 steigende Zahlen, sowohl in den Anfragen als auch bei den Behandlungsfällen. Insbesondere nach Anschlägen ist die Verunsicherung in der Bevölkerung und damit die Anfrage groß.

Eine Evaluation der Bamf-Beratungsstelle kommt zu einem positiven Fazit. Von "sinnvollen Beratungsschritten" ist die Rede, von "zunehmender Professionalisierung", aber auch von einer Funktion als "Frühwarnsystem mit unmittelbarem Zugang zu relevanten Sicherheitsbehörden". Was – so heißt es in dem Bericht weiter – in dem "teils höchst sicherheitssensiblen" Bereich einen erheblichen Mehrwert darstelle.

Ein Vertrauensvorschuss innerhalb der Community

Doch eine Mutter, die fürchtet, ihr Kind könnte sich radikalisieren, wendet sich nicht unbedingt an eine Bundesstelle. Und hier setzt die TGD an. Wie alle Institutionen in dem Bereich ist auch sie verpflichtet, sicherheitsrelevante Verdachtsfälle dem Bundeskriminalamt zu melden. Trotzdem, sagt der Vereinsvorsitzende Sofuoğlu, sei die Hemmschwelle geringer. Weil man in der Community einen Vertrauensvorschuss genieße.  

Grundsätzlich seien türkeistämmige Menschen nicht gefährdeter als andere Gruppen, sagt Amir Alexander Fahim vom Kompetenznetzwerk Deradikalisierung. Er sagt aber auch: Einige Zielgruppen hätten mehr Beratungsbedarf. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat 2016 die Hintergründe von Menschen analysiert, die aus einer islamistischen Motivation heraus von Deutschland aus nach Syrien und in den Irak gereist sind. 35 Prozent von ihnen besaßen ausschließlich die deutsche Staatsbürgerschaft, auf Platz zwei folgten Menschen mit türkischem Pass (mit 14 Prozent), dahinter, mit vier Prozent, Menschen mit russischer Staatsbürgerschaft. Bei den Doppelstaatlern ein ähnliches Bild: Hier waren Deutschtürken mit 21 Prozent die größte Gruppe (gefolgt von Deutschmarokkanern mit 17 und Deutschtunesiern mit 13 Prozent).

Auch die tragenden Figuren der Berliner Fussilet-Moschee, in der der Attentäter vom Breitscheidplatz, der Tunesier Anis Amri, verkehrte, stammten größtenteils aus der Türkei. Zwei von ihnen, der Vereinsvorsitzende Ismet D. und Emin F, zuständig für die Finanzen, wurden 2017 zu sechs Jahren Haft wegen Unterstützung der in Syrien tätigen Terrororganisation Dschunud al-Scham verurteilt. Murat S., Schriftführer des Vereins, wurde bereits 2015 wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat verurteilt.

Der Islam als Identifikationsmerkmal

Der Islam, sagt der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Sofuoğlu, fungiere in Deutschland häufig als Identifikationsfigur aufgrund von Ausgrenzungserfahrungen. Eine Emnid-Umfrage im Auftrag der Universität Münster kam 2016 zu einem ähnlichen Ergebnis: Demnach fühlte sich mehr als die Hälfte der befragten jungen türkeistämmigen Menschen in Deutschland sozial nicht anerkannt. So sehr sie sich auch anstrengten, dazuzugehören. Zugleich bekannten sie sich stärker zum Islam als ihre Eltern. Die Forscher stießen auf teils fundamentalistische Einstellungen. So hielten 47 Prozent der Befragten die Befolgung der Islamgebote für wichtiger als die der deutschen Gesetze. Ein Drittel plädierte dafür, dass Muslime zur Gesellschaftsordnung von Mohammeds Zeiten zurückkehren.

Zugleich nahm die tatsächliche Bedeutung religiöser Gesetze für das tägliche Leben ab. Weniger Menschen scheuten sich beispielsweise, Menschen des anderen Geschlechts die Hand zu geben. Detlef Pollack, Leiter der Untersuchung, deutete dies als Zeichen, dass die Religion zunehmend als Identitätsmarker fungiere, als demonstratives Bekenntnis zur eigenen kulturellen Herkunft – und weniger als Ausdruck tatsächlich gelebter Religiosität.

Die Popularität fundamentalistischer Haltungen, heißt es in der Studie weiter, könne weiter sinken, wenn die Integration gelinge. Dazu brauche es Kontakte in die Mehrheitsgesellschaft, gute Deutschkenntnisse, eine Einbindung in den Arbeitsmarkt – und das Gefühl von Anerkennung.