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Europas neue (Un-)Sicherheit | Krieg in Europa | bpb.de

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Europas neue (Un-)Sicherheit Von der Friedens- zur Konfliktordnung

Claudia Major Christian Mölling

/ 15 Minuten zu lesen

Russlands Angriff hat eine tektonische Verschiebung in Gang gesetzt: Europa geht über von einer kooperativen in eine konfrontative Sicherheitsordnung. Der Westen muss sich neu aufstellen: Es gilt, den Konflikt mit Russland gestalten zu können, anstatt ihn ertragen zu müssen.

Russlands völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat eine tektonische Verschiebung in Europas Sicherheitsordnung in Gang gesetzt. In wenigen Wochen und Monaten hat der Krieg Europas Sicherheitspolitik mehr verändert als viele andere Entwicklungen seit 1989: Schweden und Finnland haben die Nato-Mitgliedschaft beantragt, Deutschland hat ein Sondervermögen geschaffen, um die Bundeswehr endlich angemessen auszustatten, die Europäische Union liefert Waffen an die Ukraine, Dänemark will an der EU-Verteidigung teilnehmen.

Doch diese Schritte dürften nur die ersten Anzeichen sein für eine Entwicklung hin zu einer europäischen Sicherheitsordnung ohne Russland oder sogar dezidiert gegen Russland: Europa verlässt also eine kooperative Sicherheitsordnung und geht über zu einer konfrontativen Ordnung. Um diese maßgeblich prägen zu können, wird Europa sich vor allem sicherheits- und wirtschaftspolitisch neu aufstellen müssen: Es gilt, den Konflikt mit Russland gestalten zu können, anstatt ihn ertragen zu müssen. Ziel ist also, eine Konfliktordnung zu schaffen, in der Europa sich schützen und seine Ziele verfolgen kann.

Dies fordert auch von Deutschland erhebliche Umstellungen. Zusätzlich erwarten seine Partner, dass es eine Führungsrolle übernimmt. Dies liegt weniger an guten Erfahrungen mit Deutschland in internationalen Krisen als an der schieren Bedeutung der Bundesrepublik in Europa und der Welt. Berlin bestimmt also die neue Sicherheitsordnung maßgeblich mit – durch bewusstes Handeln oder Nicht-Handeln.

Ende der kooperativen Sicherheitsordnung

Mit dem Krieg gegen die Ukraine hat sich Russland aus einer europäischen Sicherheitsordnung verabschiedet, die ausdrücklich ein Miteinander und Kooperation vorsah und dafür Prinzipien wie territoriale Integrität, friedliche Konfliktlösung, Souveränität und freie Bündniswahl festschrieb. Diese Prinzipien hatten zunächst die Sowjetunion und anschließend die Russische Föderation und die anderen europäischen Staaten sowie die USA gemeinsam in Grundsatzdokumenten verankert, etwa in der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990 und der Nato-Russland-Grundakte 1997. Aus westlicher Sicht hatte sich diese Ordnung bewährt. Sie stützte sich auf die EU, die Nato und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Gerade Deutschland konnte sich in diesem Rahmen wirtschaftlich und politisch sehr gut entfalten. Der integrative, kooperative Ansatz mit Russland entsprach den deutschen außenpolitischen Prioritäten der Zusammenarbeit, der Präferenz für Diplomatie statt Machtpolitik, der Energie- und Handelspartnerschaft und der militärischen Zurückhaltung.

Heute lässt sich konstatieren, dass Russland und die anderen Staaten schon sehr lange unterschiedliche Vorstellungen darüber hatten, wie Sicherheit zu erreichen ist und nach welchen Regeln Staaten miteinander umgehen. Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre gab es klare Anzeichen dafür, dass Russland seine Interessen mit Konfrontation und Gewalt durchsetzen würde, um Sicherheit durch Macht und Kontrolle über andere Staaten zu erlangen. Wo dies nicht möglich war oder ist, hat Russland die Kosten des Erhalts der Stabilität für andere erhöht, indem es Unfrieden stiftet – das zeigen etwa die Interventionen in Mali, aber auch der Ukraine. Aus russischer Sicht waren die europäischen Strukturen deshalb zunehmend defizitär. Die positive Bewertung der westlichen Staaten der gemeinsamen europäischen Sicherheitsordnung hat Moskau nur bedingt geteilt.

Die gemeinsamen Foren wie die OSZE funktionierten nur mäßig; Sicherheit wurde zunehmend von EU und Nato gestaltet. Hier besaß Russland kein Mitspracherecht, geschweige denn ein Veto. Stattdessen wurden Sonderformate eingerichtet: der Nato-Russland-Rat oder EU-Russland-Gesprächsformate. Aus russischer Sicht spielte Moskau in dieser Ordnung nicht die Rolle, die ihm zustand. Vorschläge, eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung aufzubauen, wie ihn etwa Interimspräsident Dmitri Medwedjew im Juni 2008 machte, blieben ergebnislos, auch weil der Vorteil gegenüber der OSZE nicht klar war. Es fehlten zunehmend die gemeinsame Wertebasis und das Vertrauen für eine Kooperation. Diese russische Unzufriedenheit mit den bestehenden Strukturen in Europa nahmen die meisten westlichen Staaten nicht wahr.

Russland hatte den Weg einer kooperativen Friedensordnung in Europa jedoch schon lange verlassen. Seit 1991 hat Moskau viele Male in seiner direkten Nachbarschaft militärisch eingegriffen, um den Zerfall des eigenen Landes zu stoppen (Tschetschenien 1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) oder aber seine Einflusssphäre zu erhalten oder zu erweitern (Georgien 2008, Ukraine ab 2014). Hinzu kamen später Expeditionsoperationen zur Unterstützung befreundeter Machthaber und zur eigenen Machtprojektion, etwa in Syrien oder in Libyen, unter Zuhilfenahme der Söldnertruppe "Wagner". Viele mittel- und osteuropäische Staaten hatten lange davor gewarnt, dass Russland sich nicht an die Regeln halten und wenn nötig seine Ziele militärisch durchsetzen würde. Doch die meisten anderen europäischen Staaten nahmen diese Warnungen nicht ernst. Auch weitere Indizien wie die zunehmende autoritäre Entwicklung in Russland, die Einschränkungen der Zivilgesellschaft, die Bekämpfung der Opposition – sei es der Mord an der Menschrechtsaktivistin Anna Politkowskaja 2006 oder die Vergiftung des Oppositionellen Aleksej Nawalny 2020 –, oder die Einmischung in andere Staaten – etwa mit dem Giftanschlag auf den ehemaligen Spion Sergej Skripal 2018 im Vereinigten Königreich oder dem Tiergartenmord in Berlin 2019 –, führten nicht zu einer grundlegenden Änderung der Politik gegenüber Russland.

Zwar hat die EU nach der Annexion der Krim 2014 umfassende Sanktionen gegen Russland verhängt und die Nato eine Neuaufstellung und Refokussierung auf Bündnisverteidigung beschlossen. Aber die energiepolitische Abhängigkeit Deutschlands und anderer EU-Staaten von Russland blieb bestehen und wurde durch die 2015 – also nach der Annexion der Krim – begonnene Pipeline "Nord Stream 2" noch verstärkt. Es dauerte bis 2022 und brauchte offenbar einen russischen Angriffskrieg, bis es unmöglich war, die Tatsache zu ignorieren, dass Russland sich aus dem europäischen Konsens zur Friedensordnung verabschiedet hatte.

Entgrenzte Gewalt

Von dieser Friedensordnung oder kooperativen Sicherheitsordnung, in der die westeuropäischen Staaten Sicherheit mit Russland gestalten wollten, sind die europäischen Staaten übergegangen in eine Sicherheitsunordnung: Die alte Ordnung ist zusammengebrochen, aber es ist nicht ganz klar, was danach kommen wird. Es ist allerdings bereits absehbar, dass sich die europäischen Staaten einrichten müssen auf eine dauerhafte Veränderung hin zu einer konfrontativen Sicherheitsordnung in Europa, in der Sicherheit nicht mehr mit Russland funktioniert, sondern in Abgrenzung von und sogar gegen Russland.

Diese konfrontative Dimension resultiert nicht aus dem Willen der EU- und Nato-Staaten, sondern daraus, dass Russland den kooperativen Ansatz durch einen der militärischen Stärke ersetzt hat und durch den Angriffskrieg auf die Ukraine Völkerrecht gebrochen hat. In Gesprächen und Verhandlungen hat der russische Präsident Wladimir Putin getäuscht. So sagte er Bundeskanzler Olaf Scholz und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Februar 2022 kurz vor Kriegsbeginn bei einem der zahlreichen Schlichtungsversuche zu, es würde keinen Krieg geben. Damit ist die wesentliche Grundlage für gemeinsame Absprachen und eine stabile Zukunft nicht mehr vorhanden: Vertrauen und Berechenbarkeit.

Ziele und Mittel des russischen Angriffskrieges setzen auf die Entgrenzung von Gewalt: Moskau möchte nicht nur die politische Führung der Ukraine austauschen, es möchte das Land militärisch neutralisieren und seine nationale Identität auslöschen. Deshalb sehen wir neben der Zerstörung, die mit jedem Krieg einhergeht, weitere dramatische Entwicklungen: Angriffe auf zivile Infrastruktur, Deportationen, systematische Tötungen und Misshandlungen von Zivilisten. Kriegsverbrechen wie in Butscha werden nicht nur billigend in Kauf genommen, sie sind Teil der Strategie. Der russische Präsident hat die dort stationierten Einheiten nachträglich sogar ausgezeichnet. Versuche zur Beendigung des Konflikts hat die russische Regierung bislang verstreichen lassen – sie hofft offenbar, ihre Interessen militärisch durchsetzen zu können. Daraus folgt, dass es keine stabile Ordnung mit Russland geben wird, solange Präsident Putin an der Macht ist, da Stabilität entweder eine gemeinsame Wertebasis voraussetzt oder zumindest ein Verständnis von geltenden Regeln, die einzuhalten sind. Doch weder eine gemeinsame Wertebasis noch ein einfacher Regelsatz existiert. Zudem haben die westlichen Staaten angesichts der wiederholten Brüche von Verträgen und Völkerrecht wenig Vertrauen in Russlands Verlässlichkeit.

Diese neue Ordnung, also der Übergang von der alten kooperativ-integrativen Ordnung zur neuen Konfliktordnung gegen und in Abgrenzung von Russland, bedeutet eine dauerhafte Veränderung: Es ist kein vorübergehender Wandel, der in einigen Monaten vorbei sein wird. Er wird die europäische Ordnung für Jahrzehnte prägen. Dieser Wandel erfordert zudem, Grundannahmen zu überdenken und Abschied von traditionellen Ansätzen zu nehmen, auf die sich Deutschland bislang verlassen hat, etwa "Wandel durch Handel" und Konfliktvermeidung durch Interdependenz.

Krieg und Frieden verschwimmen

Das Kernelement der neuen Konfliktordnung in Europa liegt darin, dass nicht mehr Krieg und Frieden die definierenden Elemente sein werden, sondern ein dauerhafter Konflikt unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges. Es gilt daher, den binären Ansatz zu überwinden: Die Abwesenheit von Krieg bedeutet nicht die Anwesenheit von Frieden. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine und der Annexion der Krim 2014 herrschte in der Ukraine zwar kein offener Krieg, aber auch kein Frieden, denn Russland hat das Land mit einem permanenten Konflikt überzogen: ausgetragen über Fake News, Cyberangriffe, wirtschaftlichen Druck und kleinere militärische Zusammenstöße an der Kontaktlinie. Eine Konfliktordnung in Europa bedeutet daher, dass die Abgrenzung von Russland nicht friedlich sein wird, aber auch nicht unbedingt traditionell kriegerisch. Im Rahmen einer neuen konfrontativen Ordnung in Europa müssen sich die Europäer darauf einstellen, dass sie in einer permanenten Auseinandersetzung stehen werden, nicht nur mit Russland, sondern voraussichtlich auch mit China.

Diese wird mal mehr, mal weniger offen ausgetragen und wahrscheinlich auf alle Lebensbereiche ausgeweitet: Das Ziel der Angriffe auf Politik, Gesellschaft und Einzelpersonen wird es dabei sein, die internen westlichen Strukturen zu schwächen – den gesellschaftlichen Zusammenhalt, demokratische Institutionen, Freiheit und Pluralität, funktionierende kritische Infrastrukturen. Dies kann durch Cyberangriffe auf Parlamente und Wirtschaftsinstitutionen erfolgen, durch Falschinformationen, das Einkaufen in kritische Infrastrukturen wie Häfen oder durch Unterwanderung von Forschungseinrichtungen. Damit wird deutlich, dass kritische Infrastruktur nicht nur technischer, sondern auch politisch-gesellschaftlicher Natur ist: Auch die demokratischen Strukturen an sich sind eine schützenswerte kritische Infrastruktur.

Wollen die europäischen Staaten in dieser Konfliktordnung bestehen, müssen sie umfassende Anpassungen im politischen, wirtschaftlichen, aber auch verteidigungspolitischen Bereich vornehmen. Tatsächlich spiegeln sich diese Anforderungen und Empfehlungen auch in der Debatte um europäische Handlungsfähigkeit und strategische Souveränität wider. Der Befund ist weitgehend Konsens: Insbesondere die europäische Staatengemeinschaft muss weitaus mehr investieren, um ihr Schicksal selbst bestimmen zu können. Gleichzeitig zeigt der Krieg schmerzhaft die Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit auf. Im Kernbereich der Souveränität, nämlich der Sicherheit und Verteidigung, ist Europa von den politischen, konventionellen und nuklearen Beiträgen der USA abhängig.

Europa in der Konfliktordnung

Für die Europäer kommt es deshalb darauf an, ihr eigenes politisches System resilienter gegen Einflussnahme und Angriffe zu gestalten. Das fängt bei einer modernen Bildungspolitik an, die den Umgang mit Fake News lehrt, und reicht bis zu effizienten Mechanismen, die Finanzierung von Parteien zu prüfen und demokratische Institutionen vor Unterwanderung zu schützen. Auf EU-Ebene gilt es, geopolitischer zu denken und diejenigen Länder gezielter einzubinden, die Russland als seine Einflusssphäre begreift und über die es sein Störpotenzial, etwa durch politische Aufwiegelung gegen die EU, auszuspielen sucht: vom Balkan über Moldau bis zur Ukraine und Belarus – aber auch auf dem afrikanischen Kontinent, etwa in Mali. Es braucht eine EU, die ihrem Anspruch als geopolitischer Akteur gerecht wird und zugleich akzeptiert, dass es hierfür Partner braucht, auch unbequeme wie das Vereinigte Königreich oder die Türkei.

Ebenso sollten die EU-Staaten die Idee des "Westens" neu etablieren, und zwar nicht als geografisches, sondern als normatives Konzept. Dann umfasst dieser Westen weltweit Staaten, die Ideen und Prinzipien wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit teilen. Dazu gehören die transatlantischen Partner USA und Kanada, aber auch Japan, Australien und all jene, die sich zu diesen Prinzipien bekennen. Gleichzeitig darf dieses Konzept des Westens nicht in ein "the West against the rest" ausarten. Es gilt vielmehr, so viele Staaten wie möglich von den Vorzügen dieses Ansatzes zu überzeugen, gerade auch zögerliche wie Indien oder Südafrika. Für die EU gilt umso mehr, dass sie nur dann ein glaubwürdiger internationaler Akteur sein kann, wenn sie ihre eigenen Prinzipien ernst nimmt. Auch wenn Russland das Völkerrecht bricht, müssen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht für Europa unverhandelbar bleiben – sie machen den Unterschied aus gegenüber Autokratien. Es ist deshalb wichtig, diese Prinzipien auch bei sich selbst durchzusetzen, etwa mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen.

Wirtschaftlich haben sich die Europäer als Antwort auf den Krieg auf Sanktionen und auf eine weitreichende ökonomische Abkopplung von Russland geeinigt. Dies erfordert eine grundlegende Reorganisation ihres Wirtschaftssystems. Akut geht es um den Umgang mit den Folgen der Sanktionen und eine Diversifizierung vor allem im Energiebereich. Die Sanktionen haben daher auch für Europa selbst hohe Kosten, weil es sich in eine einseitige Abhängigkeit insbesondere von russischem Öl und Gas begeben hat. Gleichzeitig gilt es, Abwägungen beim Budget zu treffen und diese zu begründen, etwa wenn ab sofort größere Summen in die Verteidigungspolitik statt in andere Politikbereiche fließen.

Wollen Deutschland und seine Partner auch in Zukunft Wohlstand und Sicherheit in Europa gewährleisten, gilt es – auch vor dem Hintergrund des Klimawandels –, zwei Schlüsselelemente zu beachten: Erstens bedarf es einer Diversifizierung der Handelspartner und Vorsicht bei ihrer Wahl, um einseitige Abhängigkeiten und Erpressbarkeiten zu vermeiden. Zweitens sind technologische Modernisierung und ein ökologisch nachhaltigeres Wirtschaften unabdingbar. Das demokratische Europa sollte bei seiner geopolitischen Ausrichtung deshalb eine Art "grünen Marshallplan" für die europäischen Ringstaaten wie die Ukraine und Moldau mitdenken.

Rolle der Nato

Mit Blick auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist es notwendig, dass sich die europäischen Staaten in einer Konfliktordnung in zweierlei Hinsicht neu aufstellen. Es geht einerseits um die Belastbarkeit, Widerstandsfähigkeit und Wiederaufwuchsfähigkeit gesellschaftlicher Strukturen, um resilienter zu sein gegen Cyberangriffe, Desinformation oder sonstige Angriffe auf kritische Infrastrukturen. Andererseits geht es um den Schutz vor traditionellen militärischen Bedrohungen. Die europäischen Demokratien, Bevölkerung und Territorien müssen auch in dieser Hinsicht besser geschützt werden. Dafür braucht es einsatzfähige Streitkräfte, die gewährleisten, dass die europäischen Staaten Regeln, etwa die Unverletzlichkeit von Grenzen, durchsetzen können.

Zu diesem Zweck hat die Nato eine strategische Anpassung auf den Weg gebracht, mit der sie auf zwei fundamentale Veränderungen reagiert: Zum einen ist Russland durch die Anwesenheit seiner Truppen in der Ukraine und Belarus geografisch an die Nato herangerückt, zum anderen hat es durch den Angriff auf die Ukraine seine grundsätzliche Eskalationsbereitschaft inklusive nuklearer Drohungen demonstriert. Russland ist bereit, seine Interessen mit Krieg durchzusetzen. Damit hat sich die Sicherheitslage in Europa für die absehbare Zukunft fundamental verschlechtert.

In einer ersten Reaktion hat die Nato auf Sondergipfeln mehrere Entscheidungen getroffen, um ihre 30 Mitglieder zu schützen. Dazu gehören eine verstärkte Überwachung im See- und Luftraum, die Aktivierung der Nato-Verteidigungspläne, die Verlegung zusätzlicher Land-, See- und Luftkräfte in höherer Alarmbereitschaft entlang der östlichen Grenze des Bündnisgebietes und eine Anpassung der Kommandolinien, sodass der Nato-Oberbefehlshaber in Europa mehr Entscheidungsgewalt über die ihm unterstellten Truppen hat. Dabei hat das Bündnis ausdrücklich den defensiven Charakter aller Maßnahmen betont: Sie dienen dem Schutz der Verbündeten, nicht der Angriffsvorbereitung.

Langfristig muss die Nato allerdings aus dem Krisenmodus in eine neue Aufstellung wechseln, um der veränderten Sicherheitslage in Europa Rechnung zu tragen. Auf dem Nato-Gipfel Ende Juni 2022 in Madrid beschloss das Bündnis ein neues strategisches Konzept und eine Neuaufstellung der Abschreckungs- und Verteidigungsplanung, die unter anderem eine neue schnelle Eingreiftruppe und größere Truppenpräsenz im östlichen Bündnisgebiet vorsieht. Die Umsetzung wird jedoch dadurch erschwert, dass die nach der russischen Annexion der Krim 2014 beschlossene Neuaufstellung noch nicht vollständig umgesetzt worden ist. So stellen nicht alle Mitglieder genügend Fähigkeiten bereit, und nicht alle erfüllen das gemeinsam vereinbarte Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben. Doch die Nato ist nur so stark wie die beteiligten Staaten zusammen: Eine erfolgreiche Neuaufstellung wird von den Beiträgen der einzelnen Alliierten abhängen, insbesondere der großen wie Deutschland.

Deutschland und Europa in der Zeitenwende

Die Bundesrepublik wird in der Neuordnung der europäischen Sicherheitsstrukturen eine entscheidende Rolle spielen – positiv, wenn sie die neue Ordnung aktiv mitgestaltet, oder negativ, wenn sie zaudert.

Durch den Krieg wurden einige Grundannahmen deutscher Sicherheitspolitik "über Nacht" umgestoßen. Deutschland hatte sich mindestens seit der Wiedervereinigung militärisch nicht mehr bedroht gefühlt. Zusammen mit der historisch bedingten Zurückhaltung bei militärischen Fragen resultierten daraus über mehrere Jahrzehnte ein geringes politisches Interesse an sicherheitspolitischen Fragen, geringe öffentliche Unterstützung und geringe finanzielle Investitionen. Erst 2014 sprachen sich der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und der Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz für eine größere internationale Verantwortung Deutschlands aus. In der Folge verstärkte die Bundesrepublik zwar ihr militärisches Engagement, etwa durch die Führung einer multinationalen Nato-Einheit in Litauen, und der deutsche Verteidigungshaushalt wurde von rund 33 Milliarden Euro (2013) auf rund 46 Milliarden Euro (2020) erhöht. Dennoch entstand der Eindruck, dass dies vor allem vom Willen getrieben war, als verlässlicher Bündnispartner wahrgenommen zu werden – nicht aufgrund einer Bedrohungsperzeption.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat dies fundamental verändert. Aus Berliner Sicht hat Russland nicht nur die Ukraine, sondern die gesamte europäische Sicherheitsordnung angegriffen, von der Deutschland jahrelang profitierte. Der Krieg gegen die Ukraine erscheint damit auch als ein Angriff auf die europäische Lebensart, die Werte und Strukturen in Europa – und damit letztlich auch auf Deutschland.

Die "Zeitenwende-Rede" von Kanzler Scholz am 27. Februar 2022 markiert den Beginn der sicherheitspolitischen Neuaufstellung Deutschlands. Unabhängig davon hatte sich die Regierung bereits 2021 im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, eine nationale Sicherheitsstrategie zu erarbeiten – die erste überhaupt für die Bundesrepublik. Deshalb müssen die Aussagen der Bundesregierung hierzu als Teil der sicherheitspolitischen Agenda gesehen werden, die sich die Regierung gesetzt hat. Es lassen sich daraus folgende Prioritäten ableiten: klassische Verteidigungspolitik inklusive nuklearer Teilhabe, Neuaufstellung der Nato im Osten, umfassende Sicherheitspolitik und Verteidigungsfähigkeit in einer vernetzten Welt, stärkere Vernetzung von innerer und äußerer Sicherheit, Klimaaußenpolitik, Politik im Cyberraum, ressortübergreifende Zusammenarbeit und vorausschauende Sicherheitspolitik sowie die Reduzierung technologischer Abhängigkeiten. Bislang erregten jedoch vor allem die Ankündigungen im Verteidigungsbereich Aufsehen, insbesondere jene, die der Kanzler in seiner "Zeitenwende-Rede" formulierte:

  • die Bereitstellung eines Sondervermögens über 100 Milliarden Euro, um große Projekte, etwa neue Flugzeuge, langfristig finanzieren zu können. Der Bundestag hat am 3. Juni 2022 für das Sondervermögen gestimmt und die Umsetzung auf den Weg gebracht.

  • die dauerhafte Erhöhung des Verteidigungshaushaltes auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung. Deutschland hatte sich 2014 in der Nato verpflichtet, dieses Ziel bis 2024 zu erreichen, es aber bislang nicht in der mittelfristigen Finanzplanung verankert. Im aktuellen Haushaltsentwurf soll es durch Beiträge aus dem Sondervermögen erreicht werden. Der deutsche Verteidigungshaushalt würde damit von rund 50 Milliarden Euro auf rund 75 Milliarden Euro anwachsen und damit zum größte Verteidigungshaushalt in Europa werden.

  • die Ankündigung lang umstrittener Beschaffungsprojekte, wie der Kauf von F35-Kampfflugzeugen, um Deutschlands Rolle in der nuklearen Abschreckung zu sichern, sowie von bewaffneten Drohnen.

Für eine wirkliche Zeitenwende ist neben der Umsetzung dieser Entscheidungen jedoch ein weitreichendes politisches Umdenken notwendig. Auch das hat die Rede des Kanzlers verdeutlicht, kündigte er darin doch umfangreiche Veränderungen in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an, ja eine Abkehr von bisherigen Prinzipien. Dazu gehören Waffenlieferungen an die Ukraine, die Deutschland bis zum Kriegsbeginn abgelehnt hatte, eine möglichst baldige Beendigung der Energieabhängigkeit von Russland sowie die umfangreichen Investitionen in die deutschen Verteidigungsfähigkeiten.

Angesichts der Politiklinie früherer Regierungen sind dies beeindruckende Schritte. Dennoch fehlen bislang zwei entscheidende Dinge: zum einen ein Ziel beziehungsweise eine Vision, die eine Richtung definiert. Wo soll Deutschland 2040 stehen, welchen Beitrag zur Sicherheit will es dann leisten? Zum anderen braucht es zusätzlich eine mentale Zeitenwende: das Ablegen alter Denkmuster und das Einüben neuer Routinen und Kategorien. Die Bundesregierung und die deutsche Bevölkerung müssen zudem anerkennen, dass militärische Macht wieder zu einem zentralen Bestandteil der internationalen Beziehungen geworden ist. Selbst wenn Deutschland den Einsatz militärischer Mittel ablehnt oder nur in sehr engem Rahmen unterstützt, muss es zur Kenntnis nehmen, dass andere Länder – wie Russland – militärische Macht zur Durchsetzung der eigenen Interessen einsetzen. Daher muss auch Deutschland militärische Mittel mitdenken – nicht um selbst Krieg zu führen, sondern um Bedrohungen abzuwenden. Dieses Umdenken ist schwierig und erfordert eine umfassende gesellschaftliche Debatte.

Bislang ist bei Deutschlands Partnern der Eindruck entstanden, dass sich die Bundesregierung nur zögerlich engagiert, sowohl mit Blick auf die militärische Unterstützung der Ukraine als auch hinsichtlich der europäischen Neuordnung. Dies liegt an der teils schlechten Vermittlungsarbeit der Bundesregierung darüber, was sie tatsächlich macht, aber auch an der vergleichsweise langsamen Unterstützung für die Ukraine. Doch wie Deutschland in dieser Phase "zwischen den Ordnungen" agiert, betrifft nicht nur die Bundesrepublik, sondern ganz Europa. Es ist deshalb keine rein deutsche Hausaufgabe: Es ist die notwendige Voraussetzung für die Gestaltung einer neuen europäischen Sicherheitsordnung.

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ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
E-Mail Link: claudia.major@swp-berlin.org

ist promovierter Politikwissenschaftler und Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
E-Mail Link: moelling@dgap.org