Islamistische Radikalisierung in Haftanstalten: eine Randerscheinung?
7. Januar 2020 | Radikalisierung und Prävention

Symbolbild Mann hinter Gefängnisgittern; Bild [M]: Victor B./unsplash.com

Woran erkennt man bereits radikalisierte Islamist*innen? Die Herausarbeitung von eindeutigen Merkmalen gestaltet sich für Behörden schwierig. Eine verzahnende Zusammenarbeit von Justiz, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Trägern sei daher notwendig, um die Komplexität von Radikalisierung begreifen und sie frühzeitig abwenden zu können, sagt der Politik- und Islamwissenschaftler Samet Yilmaz. Dass die Radikalisierung von Islamist*innen entgegen verbreiteter Annahmen in der Öffentlichkeit nicht erst in Haftvollzugsanstalten beginnt, sondern bereits früher, erörtert er in diesem Artikel.

Aufgrund der aktuell vermehrten Verurteilungen von Islamist*innen[1] in Deutschland sowie der zahlreichen islamistisch motivierten Anschläge in den letzten Jahren in Europa steht das Thema der islamistischen Radikalisierung in Haftanstalten im Fokus der Politik und Öffentlichkeit.[2] Bereits zu den Anschlägen in Madrid im Jahr 2004 und in London 2005 haben europäische Mitgliedstaaten wie Spanien, Großbritannien, Frankreich, Österreich und Deutschland erste Maßnahmen gegen Radikalisierung und Rekrutierung in Haftanstalten erarbeitet. Zehn Jahre später, Anfang 2015, wurde durch die Folgen des Attentats auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo das Thema Radikalisierung in Haft erneut in der Öffentlichkeit debattiert. Der aus Frankreich stammende islamistische Terrorist Cherif Kouachi hatte sich im Gefängnis radikalisiert. Auch der Attentäter von Berlin, Anis Amri, soll sich in der Haft in Italien radikalisiert haben. Im Zusammenhang mit den Anschlägen auf dem Breitscheidplatz im Dezember 2016 in Berlin, in Brüssel im März 2016 sowie in Paris im November 2015 wurden in den Medien Haftanstalten als „Brutstätten des Terrorismus“[3] bezeichnet.

Die Zahl der Islamist*innen in Haftanstalten wird sich angesichts der aktuell vermehrten Verurteilungen von Islamist*innen in Deutschland weiter erhöhen. Nach Auskunft des Bundeskriminalamtes (BKA) saßen zu Beginn des Jahres 2018 circa 150 islamistische Gefährder*innen[4] in deutschen Gefängnissen. Ende 2017 sollen circa 300 Islamist*innen in Deutschland eine Gefängnisstrafe verbüßten haben. Zugleich hat die Zahl der Terrorverfahren beim Generalbundesanwalt (GBA) im Jahr 2017 zugenommen. Mehr als 1.000 Verfahren mit islamistischem Hintergrund wurden eingeleitet. Auch für das Jahr 2018 sind zahlreiche Ermittlungen wegen Terror-Verdachtes an den GBA übergeben worden. Hinzu kommen laufende Verfahren oder noch zu erwartende Verfahren, die gegen Rückkehrer*innen aus den Kriegsgebieten Syrien und Irak eröffnet werden könnten.[5] Nach aktuell vorliegenden Erkenntnisse sind mehr als 1.000 Islamist*innen aus Deutschland in Richtung Syrien/Irak gereist, um dort für den sogenannten „Islamischen Staat“ oder anderen terroristischen Gruppen zu kämpfen. Etwa ein Drittel dieser personen sind zurückgekehrt.[6] Diese Rückkehrer*innen stehen im besonderen Fokus der deutschen Sicherheitsbehörden und fallen bei einer Inhaftierung auch in die Zuständigkeit der Justizvollzugseinrichtungen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Strafvollzugs als möglichem Aktionsraum für Islamist*innen. Die steigende Anzahl junger Gefangener mit oder ohne muslimischen Migrationshintergrund, die Radikalisierungstendenzen zeigen, stellen die Justizvollzugsanstalten (JVAen) vor zusätzliche Herausforderungen.

Sind also Gefängnisse „Brutstätten für Islamist*innen“?

Diese Frage ist ganz klar mit Nein zu beantworten. Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten stellen deutsche Gefängnisse gegenwärtig keine Brutstätten für islamistisches Gedankengut dar. Die islamistische Radikalisierung in JVAen ist daher als eine Randerscheinung im Phänomenbereich des Islamismus in Deutschland zu bewerten. Das Radikalisierungspotential in den jeweiligen JVaen wird von den Sicherheitsbehörden allerdings unterschiedlich gesehen, und die Bearbeitung von Inhaftierten mit Bezügen zum Islamismus/Islamistischen Terrorismus wird bundesweit verschieden gehandhabt. Darüber hinaus ist das Erkennen von mutmaßlichen Islamist*innen und die systematische Erfassung der möglichen Radikalisierungswege sowie deren Hintergründe in Haftanstalten eine Herausforderung. Unter anderem sind hier die Informationserhebung in den Haftanstalten sowie der Informationsaustausch zwischen den Justizvollzugsanstalten und den Sicherheitsbehörden zu nennen.

Aber auch auf der wissenschaftlichen Ebene fehlen qualitative sowie quantitative Studien zum Thema islamistische Gefangene. Es besteht weiterer Forschungsbedarf. Einen groben Einblick zu diesem Thema ermöglichte die Studie des King´s College in London, die Biografien von 79 Dschihadist*innen aus Belgien, Großbritannien, Dänemark, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden untersuchten. Sie fanden heraus, dass 57 Prozent der befragten Personen vor ihrer Radikalisierung bereits inhaftiert waren und sich mindestens 27 Prozent im Gefängnis radikalisierten. Dazu haben sie festgestellt, dass sich der Radikalisierungsprozess nach der Entlassung fortsetzt.[7] Nach einer weiteren Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) aus Wien, die mehr als 100 Personen befragten, sind darunter 39 Jihadist*innen, die sich meist nicht im Gefängnis radikalisiert haben.[8] Die deutschen Sicherheitsbehörden haben ebenfalls zu diesem Thema einen Beitrag leisten können. Dies zeigt sich in der bereits oben genannten Studie zur Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe von Personen aus Deutschland, die mit islamistischer Motivation in Richtung Syrien oder dem Irak gereist sind. Von den circa 1.000 ausgereisten Personen waren zwei Drittel polizeilich bekannt. Bei mehr als der Hälfte dieser Personen waren zum Stichtag der Erhebung Strafverfahren anhängig.[9]

Insgesamt bleibt hier festzuhalten, dass das Thema des Radikalisierungs- und Rekrutierungspotentials in den JVAen eine Fülle von Informationen birgt und die Erkenntnislage noch nicht ausreicht, um belastbare Einschätzungen für Sicherheitsbehörden, Präventions- und Deradikalisierungsmaßnahmen sowie für die Forschung zu liefern. Hier wäre eine intensive Zusammenarbeit von staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen gewinnbringend.[10]

Wege der Radikalisierung in Haftanstalten

Es bleibt schwierig, die Frage zu beantworten, ob Inhaftierte anhand bestimmter Merkmale oder Verhaltensweisen als potentielle Islamist*innen zu identifizieren sind. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen sich bei Inhaftierten während der Haftzeit mögliche Radikalisierungstendenzen andeuten. Vor allem stellt die Abgrenzung zwischen Personen, die muslimisch sind und ihre Religion im Rahmen des Grundgesetzes ausüben, und denen, die bereits die Grenze zum Extremismus überschritten haben, ein Problem dar.

Radikalisierung ist ein vielschichtiges Problem. Unter Radikalisierung ist hier die zunehmende Hinwendung von Personen oder Gruppen zu einer islamistischen Denk- und Handlungsweise zu verstehen. Bei der Radikalisierung im Strafvollzug kann zwischen den Formen Selbstradikalisierung durch Medien, Radikalisierung durch anstaltsinterne Einflüsse (Mithäftlinge) oder durch anstaltsexterne Einflüsse (Imame, Besuchs- und Briefkontakte etc.) unterschieden werden. Für den Vollzug bleibt die Abwägung zwischen Freiheit und Gefahrenabwehr immer die große Herausforderung. So muss auch der Radikalisierungsweg differenziert betrachtet werden. Wie geht man beispielsweise mit Inhaftierten um, bei denen das Potenzial für eine Selbstradikalisierung besteht. Heute erfolgt diese meist über die sozialen Medien und ist eher bei der jüngeren Generation vorzufinden. Ein Inhaftierter, der wegen allgemeinkriminellen Delikten immer wieder für längere Zeit in Haft kommt, kann durch illegal eingebrachte Smartphones über soziale Netzwerke mit Angehörigen der deutschsprachigen jihadistischen Szene kommunizieren. Im Gefängnis kann die Person dann durch islamistische Agitationen auffällig werden. Dies könnte sich durch seine Missionierungsbemühungen gegenüber seinen Mithäftlingen bemerkbar machen. Nicht auszuschließen ist, dass eine Missionierung anschließend durch die Gründung eines Gebetskreises, dem er wahrscheinlich als Vorbeter vorstehen möchte, fortgesetzt wird. Aber auch die Radikalisierung über Kontakte zu islamistischen Mithäftlingen innerhalb von Haftanstalten kann nicht ausgeschlossen werden.

In diesem Themenkomplex ist die Solidarität von Islamist*innen mit muslimischen Inhaftierten ein weiteres Betätigungsfeld für Islamist*innen. In diesem Zusammenhang stellt der Kontakt eines Häftlings zu islamistischen Gefangenen­unterstützungs­netzwerken eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar. Diese Netzwerke versuchen mit bestimmten islamistischen Initiativen, wie beispielsweise durch das Sammeln von Spendengeldern oder die Teilnahme an Gerichtsprozessen, muslimische Inhaftierte zu indoktrinieren. Besonders bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang Bernhard F.[11] Der Islamist F. ist in der Öffentlichkeit meist durch Teilnahme an Gerichtsprozessen gegen medienbekannte islamistische Angeklagte aktiv oder versucht diese durch juristische Hilfestellung, meist durch die Suche eines passenden Anwaltes, zu unterstützen.[12] Neben Einzelpersonen wie F. sind auch organisierte Netzwerke aktiv. Eine bereits verbotene Organisation ist die Plattform „Ansarul Aseer“, eine andere „Al-Asraa – die Gefangenen“,[13] die zur Unterstützung von inhaftierten Islamist*innen aufruft.[14]

Für die JVAen ist die Wahrnehmung von Veränderungen hinsichtlich der religiösen Verhaltensweisen eines Häftlings und deren Identifizierung als Folge der Indoktrination durch islamistisches Gedankengut von besonderer Bedeutung. Um hier präventiv vorgehen zu können, sind dem Justizvollzug in den letzten Jahren Merkblätter und Indikatorlisten zur Verfügung gestellt worden. Diese können sowohl bei der Einstufung islamistischer Gefangener als auch zum Erkennen islamistisch-terroristischer Zusammenhänge behilflich sein. Die Merkblätter liefern allerding nur Indizien und meist ist nur durch eine längere Beobachtung eines Häftlings eine abschließende Bewertung möglich, ob islamistisches Gedankengut beim Inhaftierten hinter dessen Radikalisierung steckt. Folgende Erkennungsmerkmale können als mögliche islamistische Radikalisierung dienen:

  • Kontakte zu islamistischen Organisationen oder zu ebenfalls inhaftierten Islamist*innen
  • Verwendung islamistischer Symbole
  • Verwendung von Ausdrücken, die häufig von Islamist*innen genutzt werden[15]
  • islamistische Literatur, insbesondere von Klassiker des Jihadismus[16]
  • strenge Befolgung religiöser Vorschriften, Veränderung des Äußeren (unter anderem Vollbart)
  • Weigerung, mit Nicht-Muslim*innen in Kontakt zu kommen.

Die aufgezählten Punkte sind nur Indizien und keine abschließenden Beweise. Wie oben bereits dargestellt, kann eine längere Verhaltensbeobachtung des Inhaftierten durch geschultes Personal Klarheit in den Sachverhalt bringen. So bleibt eine Einstufung von Inhaftierten als mögliche Islamist*innen schwierig und müsste nach Informationslage immer wieder neu bewertet werden.

Schließlich sollte auch ein Aspekt nicht außer Acht gelassen werden. Ein Forschungsbericht über französische Gefängnisse analysiert die Instabilität psychisch kranker Häftlinge und zeigt, dass gerade Islamist*innen versuchen, diese Häftlinge an sich zu binden und zu indoktrinieren. Psychisch auffällige Personen können durch die Bindung zur islamistischen Szene zunächst Stabilität erlangen – allerdings kann bei einer Trennung die Stabilität wieder umschlagen, so die ersten Forschungsergebnisse.[17] Ob diese Beobachtung auch für Deutschland zutrifft, ist unbekannt. Jedoch sind psychische Auffälligkeiten im deutschen Vollzug zunehmend Thema im Bereich Islamismus/Islamistischer Terrorismus.[18]

Mögliche Ursachen islamistischer Radikalisierung in Haftanstalten

Die oben genannte Studie Syrien-Ausreisende und -Rückkehrer*innen gibt einen Einblick über mögliche Ursachen der Radikalisierung. Wie in der Studie festgestellt wurde, kann man davon ausgehen, dass die meisten Islamist*innen vor ihrer Haft durch ähnliche persönliche Umstände geprägt wurden. Heute sind die meisten Islamist*innen jung, ihre Biografien zeigen Brüche wie eine Scheidung der Eltern, Ausgrenzung am Arbeitsplatz oder das Nichterreichen eines Schulabschlusses. Einige haben eine kriminelle Vergangenheit. Deshalb sind auch die meisten Islamist*innen vor ihrer Radikalisierung in Haft gewesen, so die oben genannte Studie. Beispielsweise Harry S. aus Bremen, der wegen mehrerer Raubüberfälle im Gefängnis saß und erst dort in Kontakt zu Salafist*innen kam. Später reiste er dann zum „Islamischen Staat“ nach Syrien aus. Junge Männer wie Harry S., die in ihrem Leben gescheitert sind und keine gute soziale Perspektive haben, sind für eine Radikalisierung besonders anfällig. Im Gefängnis können sie Opfer bereits radikalisierter Gefangener werden oder sich selbst radikalisieren.

Mögliche Ursachen für eine Radikalisierung im Vollzug sind die gleichen wie in der „Außenwelt“ und sind von einer Vielzahl von Faktoren abhängig. Das Bedürfnis nach Anerkennung, Identität, nach Gemeinschaft, aber auch das Bedürfnis zu provozieren, können einige Faktoren dafür sein. Auch in Gefängnissen leben Inhaftierte, die sich ungerecht und diskriminiert behandelt fühlen. Das kann, muss aber nicht eine Voraussetzung für eine Radikalisierung sein. Auch eine Inhaftierung selbst kann mit sozialem Abstieg und dem Verlust der Familie verbunden sein. Der kulturelle Hintergrund ist in diesem Fall wichtig. Gerade bei muslimischen Gefangenen droht die Gefahr, aufgrund der Inhaftierung von der Familie verstoßen zu werden. Die Familie spielt insofern eine Rolle, da Familienangehörige von radikalisierten Personen bei Deradikalisierungsmaßnahmen eine wichtige Funktion einnehmen können, wenn es darum geht, Radikalisierungsprozesse zu unterbrechen.[19] Schließlich kann die Summe der in der Haft gesammelten Erfahrungen wie die eingeschränkte Privatsphäre mögliche Gewalt in der Haft und die eventuell unzufriedenstellende Freizeitgestaltung die Radikalisierungsprozesse beeinflussen.

Empfehlungen und Anregungen an den Strafvollzug

Das Phänomen des islamistischen Terrorismus wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weiter Thema für die innere Sicherheit Deutschlands bleiben. Mündet diese Gefährdungslage zu einer Vielzahl islamistischer Inhaftierten und einer möglicherweise damit einhergehenden Verdichtung der Zahl der Radikalisierten in Strafvollzugsanstalten, so steigt die Wahrscheinlichkeit der Bildung von islamistischen Strukturen und Radikalisierungsprozessen in JVAen. Wie sollte mit dem Phänomen islamistischer Radikalisierung in Haftanstalten umgegangen werden? Die nachfolgenden Punkte sollen als Empfehlung für den Umgang mit dem Phänomen islamistische Radikalisierung in Haftanstalten verstanden werden.

Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter*in im Strafvollzug

Im Umgang mit Inhaftierten kommt den Mitarbeiter*innen in den Haftanstalten eine zentrale Rolle zu. Denn sie stehen im täglichen Kontakt mit den Inhaftierten. Neben dem Erkennen von möglichen Gefahren einer islamistischen Radikalisierung sollte die Aus- und Fortbildung auch Inhalte der interkulturellen Kompetenz für Justizbedienstete beinhalten, denn so können kulturelle Missverständnisse von Beginn an reduziert werden. Bedienstete, die direkt mit extremistischen Gefangenen arbeiten, sollten über vertieftes Fachwissen verfügen. Dies gilt besonders für die Grundlagen des Islam. Solche Schulungen können beispielsweise durch zivilgesellschaftliche Präventionsträger durchgeführt werden. Fortbildungsmaßnahmen über das Erkennen islamistischer Radikalisierung sollten allerdings durch Sicherheitsbehörden erfolgen.

Imame und Gefängnisseelsorge

Muslimische Inhaftierte machen einen großen Anteil in den JVAen aus. Fast jeder fünfte Inhaftierte soll in Deutschland einen muslimischen Hintergrund haben. In Schleswig-Holstein haben schätzungsweise zehn Prozent einen muslimischen Glauben.[20] Somit sollte die Religionsausübung im Justizvollzug in angemessener Form ermöglicht werden. Bundesweit gibt es kein einheitliches Verfahren für die muslimische Seelsorge in den JVAen, und die allgemeine Problematik bleibt bestehen, dass es schwierig ist, passende Imame für die Zusammenarbeit mit dem Justizvollzug zu finden.[21] Nichtsdestotrotz muss die Seelsorge dringend verbessert werden. Muslimische Inhaftierte haben meistens einen unterschiedlichen Migrationshintergrund. Sie sprechen nicht nur Türkisch, sondern auch Arabisch, oder nur Deutsch und andere Sprachen muslimisch geprägter Länder. Daher wäre es wünschenswert, einen mehrsprachigen Imam zu finden. In der Praxis gestaltet sich das schwierig.

Um diese Lücke zu schließen, ist hier eine Kooperation mit lokalen muslimischen Verbänden zu empfehlen, mit dem Hinweis, dass der hier praktizierte Islam, vielfältig und unterschiedlich ethnisch geprägte Gesichter aufweisen kann. Der muslimische Verband könnte einen muslimischen Seelsorger und einen Imam mit Deutschkenntnissen zur Verfügung stellen. Auch wenn es in den meisten Bundesländer an professionellen Strukturen seitens der islamischen Verbände fehlt, sollte eine Zusammenarbeit angestrebt werden, um den Bedarf an muslimischer Seelsorge abzudecken. Wichtig ist, dass die Hauptaufgabe der Seelsorge die individuelle spirituelle Begleitung bleiben sollte. Sie kann zwar einen Beitrag für die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit leisten. Allerdings sollten keine zu hohen Erwartungen an den Imam hinsichtlich der Bekämpfung von Radikalisierung in Haftanstalten gestellt werden. Natürlich sind für den ausreichenden Einsatz von muslimischen Seelsorgern in Gefängnissen hinreichend finanzielle Mittel notwendig.

Betreuungs- und Bildungsangebote und Zusammenarbeit

Betreuungs- und Bildungsangebote können einen Einfluss auf die Ideologie eines Inhaftierten und seiner extremistischen Ausrichtung haben (zum Beispiel schulische- und berufliche Ausbildung, therapeutische Ausbildung, Antigewalttraining etc.). Sie bieten Perspektiven für die Zukunft nach der Haft an. Die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Trägern ist deshalb unabdingbar. Weitere vielversprechende Betreuungsangebote von zivilgesellschaftlichen Trägern könnten im Bereich des Jugendvollzugs angesiedelt werden. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, weil der Salafismus als besonders extremistische Ideologie innerhalb des Islamismus bestrebt ist, zu Rekrutierungszwecken gezielt junge Leute anzusprechen. Bei der Bekämpfung des islamistischen Extremismus ist die Zusammenarbeit mit Justizvollzug und Bewährungshilfe im Rahmen der rechtlichen Vorschriften ebenfalls von Bedeutung. So kann die Bewährungshilfe durch Fortbildungen auf den speziellen Phänomenbereich Islamismus vorbereitet werden.

Auch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Justizvollzug und Sicherheitsbehörden ist notwendig. Der regelmäßige Austausch mit diesen Behörden ermöglicht die rechtzeitige Erkennung von Radikalisierungstendenzen und kann die Gefahr islamistischer Radikalisierung effektiv entgegenwirken.

Fazit

Dass sich Islamist*innen in Gefängnissen radikalisieren, hat zwar immer wieder in der Öffentlichkeit für große Aufmerksamkeit gesorgt, aber es sind nur einzelne Fälle in Deutschland diesbezüglich bekannt geworden. So bleibt das Phänomen Radikalisierung in Gefängnissen derzeit noch ein Randphänomen. Nichtsdestotrotz besteht die Gefahr von islamistischer Radikalisierung und Rekrutierung in Haftanstalten und wird vom Strafvollzug und von Sicherheitsbehörden als Herausforderung gesehen. Um diesen zu begegnen, bestehen in einigen Bundesländern und auch in Schleswig-Holstein bereits Ansätze zur Zusammenarbeit zwischen Justiz und Sicherheitsbehörden sowie zivilgesellschaftlichen Trägern. Der fachliche Austausch mit Akteuren, die Maßnahmen gegen islamistische Radikalisierung entwickeln, ist unabdingbar.

In Zukunft wird die Zahl der inhaftierten Extremist*innen in Gefängnisse weiter steigen. Umso wichtiger wird es für Vollzugsbeamte sein, zwischen Gefahrenabwehr und Freiheit abzuwägen und mögliche Radikalisierungstendenzen frühzeitig zu erkennen. Dafür werden Fortbildungen, Schulungen und Sensibilisierungsgespräche angeboten werden müssen. Merkblätter und Indikatorlisten von Sicherheitsbehörden können als zusätzliche Hilfe für die Vollzugsbeamten in den Anstalten dienen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der 51. Ausgabe der Zeitschrift für soziale Strafrechtspflege (pdf-Datei) vom Dezember 2018. Wir danken dem Autor Samet Yilmaz und den Herausgeber*innen für seine bzw. ihre Erlaubnis, den Beitrag hier zu veröffentlichen.


Anmerkungen

[1] Die deutschen Sicherheitsbehörden bewerten „Islamismus“ in Abgrenzung zu Islam als eine religiös motivierte Form des politischen Extremismus. Islamist*innen sowie Islamistische Organisationen sehen in den Schriften und Geboten des Islam nicht nur die Weisung für die Beziehung zwischen Mensch und Gott, sondern auch zwingende politische Handlungsweisungen, die sie teilweise auch mit Gewalt durchzusetzen wollen.

[2] Vgl. Flade, Florian/Stukenberg, Timo: Wachsende Anzahl von Gefährdern alarmiert Gefängnispersonal, in: https://www.welt.de/politik/deutschland/article173794804/Islamisten-in-Haft-Wachsende-Zahl-von-Gefaehrdern-alarmiert-Gefaengnispersonal.html. Abgerufen am 18.10.2018.

[3] Vgl.: o. A.: Gefängnisse sind Brutstätten des Terrors, https://www.n-tv.de/politik/Gefaengnisse-sind-Brutstaetten-des-Terrors-article18833131.html, abgerufen am 18.10.2018.

[4] Der Begriff „Gefährder*in“ ist eine von der Polizei definierte Begrifflichkeit. Es handelt sich nicht um eine gesetzliche Definition.

[5] Vgl. Fuchs, Thorsten: Deutschland hat noch keine nationale „Abwehrstrategie“, in: http://www.kn-online.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-hat-noch-keine-nationale-Abwehrstrategie, abgerufen am 19.10.2018.

[6] Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischer-terrorismus/zahlen-undfakten-islamismus/zuf-is-reisebewegungen-in-richtung-syrien-irak, abgerufen am 19.10.2018.

[7] Vgl. Basra, Rajan/Neumann, Peter R./Brunner, Claudia: Criminal Pasts, Terrorist Futures: European Jihadists and the New Crime-Terror Nexus, in: International Centre for the Study of Radicalisation“ (ICSR), https://icsr.info/wpcontent/uploads/2016/10/ICSR-Report-Criminal-Pasts-Terrorist-Futures-European-Jihadists-and-the-New-Crimeterror-Nexus.pdf, abgerufen am 20.10.2018.

[8] Vgl. Hofinger, Veronika/Schmidinger, Thomas: Deradikalisierung im Gefängnis, in: Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS), https://www.irks.at/assets/irks/Publikationen/Forschungsbericht/Endbericht_ Begleitforschung_2017.pdf, abgerufen am 1.11.2018.

[9] siehe Fußnote 6.

[10] „Extremismus im Justizvollzug“ bietet hier ein Einblick in den aktuellen Stand der Literatur und Praxisempfehlungen im Justizvollzug, in: https://www.krimz.de/forschung/vollzug/justizvollzug-extremismus/, abgerufen am 10.11.2018.

[11] Bernhard F. soll im Gefängnis zum Islam konvertiert sein und engagierte sich nach seiner Haftentlassung für Salafist*innen und Jihadist*innen gegen die Strafprozesse geführt werden. Deutschlandweit ist er bekannt für seine „Gefangenenhilfe“.

[12] Vgl.: Hackensberger, Alfred: Vom Linksterroristen zum deutschen Gesicht al-Qaidas, in: https://www.welt.de/politik/ausland/article141454678/Vom-Linksterroristen-zum-deutschen-Gesicht-al-Qaidas.html, abgerufen am 13.10.2018.

[13] „Ansarul Aseer“ wurde im Rahmen des „Tauhid-Gemany“-Verfahrens als Nebenorganisation verboten: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2015/verbot-tauhid-germany-bundesanzeiger.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (pdf), abgerufen am 21.10.2018.

[14] Vgl.: https://www.al-asraa.com/de/, abgerufen am 21.10.2018.

[15] Beispielsweise, Kafir: der*die Ungläubige, Munafiq: Heuchler, Taghut: Götze, Scharia: von Gott in seiner Offenbarung gesetzte Ordnung etc.

[16] Beispielsweise, Hasan al-Banna, Sayyid Qutub, al-Maududi.

[17] Vgl. Khosrokhavar, Farhad: Radikalisierung, Hamburg 2016.

[18] Vgl. Dienstbühl, Dorothee/Abou-Taam, Marwan: Rekrutierung in deutschen Gefängnissen durch djihadistische Insassen, in: Forum Strafvollzug: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, Heft 1/2012, S. 41-45.

[19] Vgl. Dantschke, Claudia/Linea, Ava: Systemische Deradikalisierungsarbeit am Beispiel der Initiative HAYATDeutschland, in Journal Exit-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur, Band 3, 2016.

[20] Kleine Anfrage aus Schleswig-Holstein. Eingereicht von Stefan Weber, SPD: http://www.landtag.ltsh.de/ infothek/wahl19/drucks/00400/drucksache-19-00441.pdf. Abgerufen am 10.11.2018.

[21] Die vielfältigen Alltagsaufgaben eines Imams gibt der Religionswissenschaftler Rauf Ceylan, Universität Osnabrück, in seinem Buch, „die Prediger des Islam“ wieder.


Literatur

Basra, Rajan/Neumann, Peter R.: Crime as Jihad: Development in the Crime-Terror Nexus in Europe, in: CTC Sentinel, October 2017, Volume 10, Issue 9.

Ceylan, Rauf: Die Prediger des Islam, Freiburg 2010.

Dantschke, Claudia/Linea, Ava: Systemische Deradikalisierungsarbeit am Beispiel der Initiative HAYAT-Deutschland, in Journal Exit-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur, Band 3, 2016.

Dienstbühl, Dorothee/Abou-Taam, Marwan: Rekrutierung in deutschen Gefängnissen durch djihadistische Insassen, in: Forum Strafvollzug: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, Heft 1, 2012.

Flade, Florian/Stukenberg, Timo: Wachsende Anzahl von Gefährdern alarmiert Gefängnispersonal, in: https://www.welt.de/politik/deutschland/article173794804/Islamisten-in-Haft-Wachsende-Zahl-vonGefaehrdern-alarmiert-Gefaengnispersonal.html, abgerufen am 18.10.2018.

Fuchs, Thorsten: Deutschland hat noch keine nationale „Abwehrstrategie“, in: http://www.knonline.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-hat-noch-keine-nationale-Abwehrstrategie, abgerufen am 19.10.2018.

Hackensberger, Alfred: Vom Linksterroristen zum deutschen Gesicht al-Qaidas, in: https://www.welt.de/politik/ausland/article141454678/Vom-Linksterroristen-zum-deutschen-Gesicht-al-Qaidas.html, abgerufen am 21.10.2018.

Hofinger, Veronika/Schmidinger, Thomas: Deradikalisierung im Gefängnis, in: Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie, Wien 2017.

Kepel, Gilles: Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa, München, 2016.

Khosrokhavar, Farhad: Radikalisierung, Hamburg 2016.

o. A.: Gefängnisse sind Brutstätten des Terrors, https://www.n-tv.de/politik/Gefaengnisse-sind-Brutstaetten-des-Terrors-article18833131.html, abgerufen am 18.10.2018.

Yilmaz, Samet: Der Salafismus in der Türkei, in: Behnam T. Said/Hazim Fouad (Hrsg.), Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg 2014.

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