Ein Europa ohne Grenzen – mit diesem Traum ist es vorerst vorbei. Eine ganze Reihe von Mitgliedstaaten der EU hat ihre Grenzen geschlossen, darunter auch Deutschland. Begründet wird die Abriegelung mit der Ausbreitung des Coronavirus.

Um hier keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Das Virus ist gefährlich. Die Infektionsketten müssen rasch unterbrochen werden. Klar ist aber auch: Das Virus hat sich europaweit ausgebreitet, deswegen müsste es europäische Antworten geben. Doch die gibt es nicht. Die Schlagbäume gehen nieder, in den großen wie in den kleinen Mitgliedstaaten. Überraschend ist das nicht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor wenigen Tagen gesagt, es sei ihr im Kampf gegen Covid-19 sehr wichtig, dass "Europa" sichtbar wird. Ähnlich haben sich andere Staats- und Regierungschefs geäußert. "Europa" kam ihnen allen leicht über die Lippen, während sie längst auf nationalstaatliche Lösungen setzten. Deutschland verhängte Anfang März ein Ausfuhrverbot für medizinische Schutzausrüstung, Frankreich beschlagnahmte Atemschutzmasken.

Gewiss ist Merkel in erster Linie den Bürgern Deutschlands verpflichtet, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Franzosen. Sie werden von ihnen ins Amt gewählt. Da kann man verstehen, dass Merkel Antworten für Deutsche und Macron für Franzosen gibt, so wie der junge Kanzler Österreichs Sebastian Kurz sie für Österreicher gibt oder der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš für die Tschechen.

Doch man fragt sich, was aus dem "Europa, das schützt" geworden ist, das Emmanuel Macron immer so wortreich beschwor und in seinem Gefolge auch Österreichs Sebastian Kurz sich sehr geschickt zu eigen machte.

Die Schlagbäume stehen im Weg

"Ein Europa, das schützt", das ist doch eine schöne Vision. Die europäischen Bürger jedenfalls hat er überzeugt. Im Mai 2019 gingen sie in Scharen zu den Europawahlen – es gab ein Plus von acht Prozent in der Wahlbeteiligung.

Die Bürger wollten ein starkes Europa, das sich gegen seine Feinde wehren kann, die Feinde im Inneren wie im Äußern. Dann breitet sich das Coronavirus aus, und es schützt nicht Europa, sondern der Nationalstaat – das wird jedenfalls mit den Grenzschließungen jedenfalls suggeriert. Wie erfolgreich wird diese praktizierte Kleinstaaterei im Kampf gegen Corona sein?

Wir wissen es nicht. Früher oder später wird das Virus unter Kontrolle gebracht werden. Natürlich werden diejenigen, die die Schlagbäume niedergehen ließen, sagen: Es waren die Schlagbäume. Gewissheit werden wir darüber nicht haben können. In diesen Tagen sehen wir mit wachsendem Entsetzen, dass Europa schwach ist.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bittet schon fast verzweifelt um das eigentlich Selbstverständliche: Dass medizinische Schutzausrüstung unter den Europäern geteilt wird, dass man sich koordinieren und die Grenzen offenhalten müsse, um produzieren zu können, was in dieser Krise notwendig sei.

Was heute in Italien gebraucht werde, das könne morgen in Deutschland benötigt werden und übermorgen in Frankreich, Spanien oder Österreich. Das ist richtig. Nur, stehen da jetzt Schlagbäume im Weg.