Grösstes Truppenaufgebot für einen Ernstfall seit dem Zweiten Weltkrieg

Der Bundesrat bietet einen Grossteil aller Truppen auf, die innert Stunden verfügbar sind. Darunter alle vier Spitalbataillone. Das Schwergewicht liegt auf der Unterstützung des zivilen Gesundheitswesens.

Georg Häsler Sansano, Bern
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Soldaten des Spitalbataillons 5 am Montag beim Einrücken in Stans.

Soldaten des Spitalbataillons 5 am Montag beim Einrücken in Stans.

Urs Flüeler / keystone

Es ist der Ernstfall, keine Übung: Der Bundesrat kann nach seinem Beschluss vom Montag bis zu 8000 Angehörige der Armee in den Assistenzdienst aufbieten, um die zivilen Behörden zu unterstützen. Diese Regelung gemäss Militärgesetz Artikel 67 gilt bis Ende Juni 2020. Bei nächster Gelegenheit muss der Bundesrat das Truppenaufgebot vom Parlament bestätigen lassen. Er geht davon aus, dass die Bedürfnisse nach Leistungen der Armee in den nächsten Tagen markant steigen werden. Um für die Gesuche der Kantone bereit zu sein, erhöht er deshalb die Kapazitäten der Armee in den Bereichen Sanität, Logistik und Sicherheit.

Soldaten mit zivil anerkannter Ausbildung

Das Schwergewicht liegt klar auf Leistungen zugunsten des Gesundheitswesens. Dafür setzt der Bundesrat sämtliche dafür zur Verfügung stehenden Kräfte der Schweizer Armee ein: alle vier Spitalbataillone, fünf Sanitätskompanien, dazu die Rekruten- und Offiziersschulen aus Airolo. «All in» mit rund 3000 Angehörigen der Armee für die sanitätsdienstliche Unterstützung. Das Spitalbataillon 5 ist bereits heute in den ordentlichen Wiederholungskurs (WK) eingerückt. Sein Dienst könnte über die drei WK-Wochen hinaus verlängert werden. Die Auslösung der übrigen Verbände erfolgte am Montag per SMS.

Noch könnten die Spitäler die neuen Corona-Fälle bewältigen, sagte Viola Amherd, Vorsteherin des Verteidigungsdepartements (VBS), am Montag an der Pressekonferenz des Bundesrats. Das Gesundheitswesen sei nicht zusammengebrochen: «Wenn wir aber erst dann aufbieten, sind wir zu spät», lautete die Botschaft der Bundesrätin.

Dem zivilen Gesundheitswesen werden mit der Mobilisierung aller Sanitäts- und Spitalsoldaten laut Korpskommandant Thomas Süssli, dem Chef der Armee (CdA), keine signifikanten Kräfte entzogen. Pflegepersonal und Ärzte bleiben an ihrem Arbeitsplatz. Die eingesetzten Milizangehörigen stammten zu 90 Prozent aus ganz anderen Berufen, seien Handwerker oder kaufmännische Angestellte. «Sie verfügen aber über eine zivil anerkannte Ausbildung», erklärte der Armeechef. «Wir glauben, dass dies die effektivste Variante ist, dem Gesundheitswesen Personal zur Verfügung zu stellen.»

Videobotschaft und Tagesbefehl

Süssli kennt die sanitätsdienstlichen Fähigkeiten der Armee: Einst kommandierte der heutige CdA selbst eine Spitalformation. Über den koordinierten Sanitätsdienst kann die Armee dem Gesundheitswesen Personal zur Verfügung stellen. Ein Informationsaustauschsystem zeigt an, wo es eine Mangellage gibt. Insgesamt sind sieben Spitäler angeschlossen. Die Hauptaufgaben der Spitalsoldaten ist der Ausbau von Pflegekapazitäten. Ein Bataillon allein kann die Betreuung von bis zu 200 Patienten übernehmen. Weiter ist der Betrieb einer improvisierten Einrichtung möglich – unter anderem auch einer Isolier- oder einer Impfstation.

Am Mittwochabend publizierte die Armee eine Videobotschaft von Korpskommandant Süssli. Vom Rosengartenpark aus mit Blick auf die Stadt Bern in der Abendsonne erklärte er den Armeeangehörigen – und wohl auch der Bevölkerung – Aufgebot und Einsatz. Süsslis Kernbotschaft: Vertrauen in die Fähigkeiten und die Bereitschaft der Armee. Der Appell nach innen ist bewusst auch nach aussen gerichtet: «Die Truppe kann das. Ich habe Vertrauen in Sie, weil Sie das geübt haben. Weil sie das jedes Jahr in jedem WK geübt haben zusammen mit zivilen Spitälern.»

Den klassischen Weg, die Truppe zu erreichen, wählte der Kommandant des subsidiären Einsatzes «Corona», Korpskommandant Aldo Schellenberg. Er verfasste einen Tagesbefehl, der über die Linie an die Soldatinnen und Soldaten gelangte. So hat es auch General Henri Guisan in kritischen Momenten des Aktivdiensts getan. Schellenberg weist auf die Verlässlichkeit des schweizerischen Milizsystems hin: «Leisten Sie Ihren Auftrag zugunsten der zivilen Partner professionell, und zeigen Sie, dass auf die Armee Verlass ist», schliesst er seinen Befehl: «Ich vertraue Ihnen und danke Ihnen für Ihre Professionalität und Ihre Solidarität zugunsten von Land und Leuten.»

Der Bundesrat hat erst seit der letzten Armeereform wieder so rasch so viele Truppen zur Verfügung. Zwischen 2004 und 2016 war die Mobilmachung faktisch abgeschafft. Jetzt verfügt die Armee wieder über ein abgestuftes System, um bis zu 35 000 Soldaten innert Wochen aufzubieten. Die Mittel der ersten Stunde sind Berufsformationen wie die Militärpolizei oder die Durchdiener, die ihre Dienstpflicht am Stück absolvieren. Dazu gehören Infanteristen oder auch Sanitäter. Als erste Stufe der Bereitschaft sind innert 48 Stunden 800 weitere Soldaten einsatzbereit, die gerade ihren WK leisten.

Die zweite Stufe ist die Miliz mit hoher Bereitschaft (MmhB). Darunter die vier Spitalbataillone, Rettungstruppen oder auch zwei Infanterieverbände, die innerhalb von vier Tagen einrücken können. Für den weiteren Ausbau des Aufgebots in der dritten Stufe ist allerdings nicht mehr für alle Verbände die volle Ausrüstung vorhanden.

Kerngeschäft noch dritte Priorität

In der gegenwärtigen Krise stellt der Bundesrat den zivilen Behörden in zweiter Priorität auch logistische Leistungen der Armee zur Verfügung. Die Soldaten können unter anderem Transporte übernehmen. So auch, wenn es Engpässe bei der Lieferung von Lebensmitteln gäbe. Weiter können die aufgebotenen Milizsoldaten die Armeeapotheke und das Labor Spiez unterstützen.

Erst in dritter Priorität stehen laut Bundesrätin Amherd Aufträge im Kerngeschäft der Armee, der Sicherheit. Mit den Durchdienern, der Militärpolizei und einem Bataillon, das gerade im WK ist, können die Polizeikorps und der Zoll entlastet werden. Die Militärangehörigen würden wieder die Bewachung der Botschaften übernehmen. Weil ab Montag Mitternacht entlang der gesamten Landesgrenze wieder Kontrollen durchgeführt werden, dürfte die Armee zudem die Eidgenössische Zollverwaltung bei Aufgaben hinter der Grenze unterstützen.

Marschbefehl in den Echteinsatz

Ein Aufgebot der beiden Infanterieverbände mit hoher Bereitschaft, das Infanteriebataillon 11 und das Gebirgsinfanteriebataillon 29, steht laut dem Chef der Armee gegenwärtig nicht zur Diskussion. Dies könnte sich ändern, wenn der Bundesrat ähnlich wie in Italien oder Österreich ganze Gebiete unter Quarantäne stellt – oder die Situation noch weiter eskaliert. Die Infanteristen verfügen über eine profunde Ausbildung, um auch Checkpoints zu betreiben oder Räume zu überwachen.

Bundesrätin Viola Amherd hat das Aufgebot der Armee mit der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD) abgesprochen. Es ist vorgesehen, die Soldaten in einer ersten Phase einsatzbezogen auszubilden und dann, je nach Lage, auch wieder mit Bereitschaftsauflagen nach Hause zu schicken. Die 8000 Soldaten bilden eine Obergrenze und sollen die Handlungsfreiheit der Behörden erhöhen.

Der Corona-Einsatz führt zur grössten Mobilisierung von Truppen seit dem Zweiten Weltkrieg. Nicht einmal die Terrorjahre in den 1970er Jahren, als zeitweise die Landesflughäfen bewacht werden mussten, führten zu einem vergleichbar grossen Aufgebot. So löste sich in Zürich Kloten jeweils ein verstärktes Bataillon im Aktivdienst ab, also etwas über 1000 Soldaten. 1970 entführten palästinensische Terroristen in einer koordinierten Terroraktion je ein Flugzeug der amerikanischen Gesellschaft TWA, der britischen BOAC und der Swissair auf das jordanische Wüstenflugfeld von Zerqa und sprengten diese anschliessend.

Doch der Corona-Einsatz übertrifft die Vergangenheit bei weitem: Mehr Angehörige der Armee auf einmal im Dienst als in den kommenden Monaten waren wohl bloss während der grossen Manöver der Armee 61. Trotz den Bedrohungen des Kalten Krieges war aber immer klar: Es ist eine Übung. Diesmal erhalten die Angehörigen der Armee aber einen Marschbefehl für den Ernstfall. Eine weitere Aufstockung ist je nach Lageentwicklung nicht ausgeschlossen.

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