Auch im Nahen Osten breitet sich das Coronavirus aus. Vor allem in Syrien wächst die Sorge vor den Folgen der Pandemie. Nach neun Jahren Krieg ist das syrische Gesundheitssystem ohnehin kollabiert. In der Provinz Idlib, der letzten von Rebellen kontrollierten Provinz im Nordwesten des Landes, können die Ärzte oft nicht einmal eine Grundversorgung leisten, sagt der Gesundheitsexperte Mohammed Isa. Wir erreichen ihn per Skype in der südtürkischen Stadt Gaziantep.

ZEIT ONLINE: Herr Isa, es gibt große Befürchtungen, dass es auch in Syrien zu einer Ausbreitung des Coronavirus kommen könnte. Ist diese Furcht berechtigt?

Mohammad Isa: Ja. Offiziell sagt das Regime zwar, dass es keine Corona-Fälle in Syrien gibt, aber das darf bezweifelt werden. Das Regime hat die Grenzen zu den Nachbarländern noch immer geöffnet, zum Irak etwa, wo es bereits eine große Zahl von Infizierten gibt. Die Grenze mit dem Libanon war bis vorgestern offen, die libanesische Regierung hat nun die Schließung angeordnet. Wir nehmen also an, dass es durchaus Infizierte in Syrien gibt.

ZEIT ONLINE: Nach Angaben der syrischen Behörden soll es in den vom Regime kontrollierten Gebieten verdächtige Fälle gegeben haben, die Tests sollen aber negativ ausgefallen sein.

Isa: Laut Aktivisten und Beobachtern haben sich vor allem in Damaskus und in der Region Latakia viele Menschen mit dem Virus infiziert. Wir können das allerdings noch nicht unabhängig bestätigen, da wir zu den Regimegebieten keinen Zugang haben. Wir haben auch aus verschiedenen Berichten in den sozialen Medien gehört, dass Ärzte, die über Corona-Infektionen in Syrien sprechen, bestraft werden.

ZEIT ONLINE: Der syrische Machthaber Baschar al-Assad ist bekannt dafür, dass er sehr brutal gegen alle vorgeht, die seine Macht infrage stellen. Was wäre der Grund, das Virus zu verschweigen?

Isa: Dass das Regime mit diesen Dingen nicht ehrlich umgeht, kennen wir schon. 2013 gab es im Osten Syriens einen Polio-Ausbruch, aber das Regime wollte es verschweigen. Es gab sehr viele Krankheitsfälle und wir haben versucht, die Ausbreitung von Polio so gut einzudämmen, wie wir konnten. Seitdem vermuten wir, dass das Regime solche Infektionen verheimlicht. Warum es das tut, wissen wir nicht genau.

ZEIT ONLINE: Das syrische Regime will jetzt sicherheitshalber Schulen und Universitäten schließen. Ist das eine ausreichende Maßnahme?

Isa: Solange die Grenzen offen bleiben, ist die Gefahr nicht gebannt. Iran ist eines der am meisten vom Coronavirus betroffenen Länder, dennoch gibt es noch immer Flugverkehr zwischen Syrien und Iran. 

ZEIT ONLINE: Das syrische Gesundheitssystem ist nach neun Jahren Krieg desolat. Assad hat ein Oppositionsgebiet nach dem anderen zurückerobert und dabei – mit russischer Unterstützung – auch gezielt Krankenhäuser zerstört, Ärzte getötet und vertrieben.

Isa: Die gesundheitliche Versorgung in Syrien ist bei Weitem nicht so gut wie in europäischen Ländern – und selbst dort kämpfen Ärzte darum, das Virus einzudämmen. In Syrien gibt es nicht die Kapazitäten, um mit einem solchen Ausbruch fertigzuwerden.

ZEIT ONLINE: Vor allem in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens hätte die Verbreitung des Coronavirus schlimme Auswirkungen. Seit Dezember rücken das Assad-Regime und seine russischen Unterstützer äußerst brutal in Idlib vor. Was erwarten Sie für die Region?

Isa: Im Nordwesten Syriens leben etwa vier Millionen Menschen. Wegen der Militäroffensive des Regimes sind fast eine Million Menschen innerhalb Idlibs auf der Flucht. Sie leben dicht gedrängt auf sehr engem Raum. Wenn sich dort das Coronavirus ausbreitet, werden sich innerhalb kurzer Zeit Tausende Menschen infiziert haben. Noch gibt es keine bestätigten Fälle. Doch das kann trügerisch sein, denn wir können die Menschen derzeit nicht testen. Wir hoffen, dass wir es schaffen, gemeinsam mit Hilfsorganisationen und der Weltgesundheitsbehörde (WHO) in etwa einer Woche die Ausstattung für Corona-Tests nach Idlib zu bringen.