"Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand
entscheidet." Vielleicht kommen wir mit Carl Schmitt nicht gegen Corvid-19 an,
aber das Virus gibt trotzdem Grund, zwischen allen Podcasts mit dem
sympathischen Virologen Christian Drosten auch mal wieder Schmitts Politische Theologie
zu lesen, die mit diesem berühmten Satz anhebt. Und wenn nicht zu Carl Schmitt,
dann könnten wir zu Giorgio Agamben blicken, der in seinem Homo-sacer-Werk mit
Schmitts Diktum die Strukturen totalitärer Macht im 20. Jahrhunderts beschrieb
und auch aktuell vor ihrer zumindest spurenweise Wiederkehr in der Gegenwart meint
warnen zu können. Manchmal schießt er dabei über das Ziel hinaus, und das ist
derzeit sowohl höchst problematisch wie dennoch debattenrelevant.
So war sich Agamben zu Beginn der italienischen Corona-Epidemie
noch sicher, dass wir es mit einem Ausnahmezustand im gefährlichen Sinne zu tun
haben, wobei er die Gefahr weniger in den Viren als in der
Einschränkungsvirulenz des Staates sah. Er prangerte ein Vorgehen an, das die
bürgerlichen Grundwerte und -rechte aushöhle und einen Ausnahmezustand in die
Normalität zu überführen drohe wegen etwas, das doch kaum mehr sei als eine
Grippe. Vermutlich hätte Agamben selbst das eine Woche später schon anders
formuliert, zuvor sprang aber schon der ebenso wie Agamben politisch links
stehende Philosoph Slavoj Žižek in die Quere und rückte die Dinge etwas
zurecht: "Agambens Reaktion ist nur die äußerste Form
einer bei der Linken weitverbreiteten Einstellung. Die durch die Ausbreitung
des Virus verursachte 'übertriebene Panik' soll demnach dem doppelten Zweck
dienen, einerseits durch soziale Kontrolle Macht auf Menschen auszuüben und
anderseits Rassismus salonfähig zu machen ('gebt China die Schuld'). Diese
gesellschaftliche Interpretation behandelt das Virus also als Konstrukt und
blendet den Realitätsgehalt der Gefahr vollständig aus."
Auch, wenn man Agambens Einschätzung nicht
teilt, ja sogar strikt zurückweist, sind Beiträge wie seiner wichtig, damit wir
wach bleiben und darüber diskutieren, was derzeit passiert. Es geht im Kern um die simple Frage, wie positive
Freiheit zur negativen steht, also die Freiheit, etwas zu tun, zur Freiheit,
vor etwas bewahrt zu werden. Als schlichte Faustregel dafür kann man sagen: Die
Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen verletzt wird. Oder
wie es die linksliberale Denkerin Judith Shklar formuliert: "Jeder erwachsene
Mensch sollte in der Lage sein, ohne Furcht und Vorurteil so viele
Entscheidungen über so viele Aspekte seines Lebens zu fällen, wie es mit der gleichen
Freiheit eines jeden anderen erwachsenen Menschen vereinbar ist." Da wir es aber mit einer komplexen Situation zu tun haben,
bei der die sich bedeckt haltende Zukunft mal wieder eine wichtige Rolle
spielt, ist es nicht ganz so leicht zu beantworten, wo genau die Grenze
verläuft.
Weder Sabotage noch Alarmismus ist derzeit
hilfreich, sondern das faire Hinterfragen der Mittel. Genau das macht ja eine
freiheitliche Gesellschaft aus, auch in Ausnahmezeiten. Verschwörungstheorien
und reflexartiges, undifferenziertes Staatsmisstrauen waren noch nie sonderlich
hilfreich. Auch allen, die jetzt von radikal linker Seite auf den Systemsturz
hoffen, muss man entgegnen: Exzellent erkannt, Krisenzeiten können zu eben
jener Destabilisierung führen, die für einen Umsturz günstig ist. Allerdings
sind da auch schon die extrem Rechten draufgekommen. Und gewiss ist Agambens
Warnung in diesem Punkt nicht falsch: Die Gewöhnung an einen Ausnahmezustand mit
Einschränkungen der gewohnten Freiheiten bereitet eher auf die Akzeptanz eines
autoritären Staates vor als auf Anarchie.
Man könnte dafür mal wieder Agamben gegen Agamben
lesen. Den Ausnahmezustand, vor dessen Wiederkehr er dieser Tage zu
warnen meinte, hat er in seinem Großprojekt Homo sacer ja genau
untersucht. Es geht um Artikel 48 der Weimarer Verfassung, der durch
übermäßigen Gebrauch während der Weimarer Republik quasi zur Norm wurde und
schließlich durch die Notverordnung der nationalsozialistischen Herrschaft
ersetzt. Der Ausnahmezustand war "nicht mehr auf eine äußere und vorläufige
Situation faktischer Gefahr bezogen und tendiert[e] dazu, mit der Norm selbst
verwechselt zu werden".
Es ist eine paradoxe Beruhigung, wenn man feststellen kann: Genau das ist derzeit nicht der Fall, denn die faktische Gefahr besteht ja. Auch sind die Einschränkungen der gewohnten Bürgerrechte, von der Beschränkung der Bewegungsfreiheit bis zur Missachtung des Postgeheimnisses, im Falle einer Epidemie verfassungsrechtlich verankert. Es gibt also klare Grenzen und die Auswertung etwa von Bewegungsdaten kann nicht einfach, weil man sich so bequem daran gewöhnt hat, für andere Zwecke weiterverwendet werden. Seinen Vergleich zur heutigen Situation in Italien kann Agamben nur dadurch bewerkstelligen, dass er die reale Lebensgefahr, die von der epidemischen Verbreitung des Virus ausgeht, negiert und wenn nicht zu Fake News, dann doch zu aufgebauschter Panikmache erklärt. Das ist doppelt ärgerlich, denn zum einen ist Verharmlosung einer realen und nicht nur konstruierten Pandemie gefährlich. Zum anderen brauchen wir derzeit neben allem, was zum Schutz der Menschen vor dem Virus zählt, eben gerade auch einen wachen Blick für die Dynamiken staatlicher Macht, um bei einem tatsächlichen Missbrauch nicht längst eingelullt zu sein. Ein solcher Blick aber muss präzise sein.
Ein ebenso relevanter Unterschied zwischen
der heutigen und der in Homo sacer analysierten historischen Situation
zeigt sich im Zugriff der damaligen nationalsozialistischen Staatsmacht auf das
nackte Leben, das in den Konzentrationslagern getötet werden durfte und getötet
wurde. Genau das gegenteilige Verhältnis von Staatsmacht zum Menschen aber
drückt sich in den Maßnahmen aus, die zum Schutz jedes einzelnen Lebens derzeit
umgesetzt werden. Angebrachter als ein Rundum-Misstrauen gegenüber staatlichem
Handeln in Epidemiezeiten ist die Frage, ob Schutz und Wert des Lebens
womöglich doch Einschränkungen unterliegen. Ist ein Nationenkalkül bei der
Verteilung von dringend benötigten medizinischen Hilfsmitteln nicht längst
anachronistisch? Der Schutz der eigenen Bevölkerung darf nicht zu einer Ausrede
werden, das Leben anderer geringer zu bewerten. Ob der Versuch, das Leben zu
schützen, gelingt, wird sich gerade an Orten wie dem katastrophal überfüllten
Flüchtlingslager auf Lesbos zeigen. Wenn wir dort wegsehen, werden wir als
solidarische Gemeinschaft versagen.
So wenig es derzeit darum geht, die
aktuellen Vorsichtsmaßnahmen zu boykottieren oder desavouieren, so sehr bleiben
es außerordentliche Einschränkungen bürgerlicher Rechte in demokratischen,
freiheitlichen Gesellschaften. Deshalb sollten wir uns die Balance staatlicher
Macht und bürgerlicher Freiheiten vor Augen führen – damit eben nicht das
geschieht, wovor Agamben warnt, nämlich ein sanftes Übergleiten einer
Ausnahmesituation mit bestimmten Restriktionen in einen Normalzustand
beziehungsweise ein späterer Missbrauch dieser Ausnahmesituation durch
tatsächlich antifreiheitliche, antiliberale Herrschaftswünsche. Frei nach dem
Motto: Die Leute haben sich ja jetzt dran gewöhnt, also weiter so! Ein solches
Nachdenken ist allemal sinnvoller als der nächste Hamsterkauf.
"Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand
entscheidet." Vielleicht kommen wir mit Carl Schmitt nicht gegen Corvid-19 an,
aber das Virus gibt trotzdem Grund, zwischen allen Podcasts mit dem
sympathischen Virologen Christian Drosten auch mal wieder Schmitts Politische Theologie
zu lesen, die mit diesem berühmten Satz anhebt. Und wenn nicht zu Carl Schmitt,
dann könnten wir zu Giorgio Agamben blicken, der in seinem Homo-sacer-Werk mit
Schmitts Diktum die Strukturen totalitärer Macht im 20. Jahrhunderts beschrieb
und auch aktuell vor ihrer zumindest spurenweise Wiederkehr in der Gegenwart meint
warnen zu können. Manchmal schießt er dabei über das Ziel hinaus, und das ist
derzeit sowohl höchst problematisch wie dennoch debattenrelevant.