Mit Atemschutzmasken und roten Luftballons hatten sich die vier Frauen vor dem Kabinett in der Kairoer Innenstadt positioniert. Die Schriftstellerin Ahdaf Soueif und ihre Schwester Leila, die Aktivistin Mona Seif und die Politologin Rabab al-Mahdi – Ägyptens prominenteste Menschenrechtlerinnen – hatten sich in dieser Woche versammelt, um die Freilassung der politischen Häftlinge zu verlangen. Weil sich das Coronavirus auch in Ägypten verbreitet, hat Machthaber Abdel Fattah al-Sissi verfügt, dass Häftlinge vorübergehend nicht von ihren Familien und Anwälten besucht werden dürfen. Mehr als sonst ohnehin sind die Inhaftierten in Zeiten von Corona von jeder sozialen Interaktion abgeschnitten. Und ihre Angehörigen fürchten nun, mehr als sonst ohnehin, um deren Leben. Doch darüber öffentlich zu sprechen, ist in Ägypten gefährlich.

"Wie wir wissen, sind die ägyptischen Gefängnisse ein Sammelort für Krankheiten", hatte Mona Seif während der Protestaktion in einem Livevideo gesagt, das sie auf Facebook gestellt hatte. Seifs Bruder, der Blogger Alaa Abd el-Fattah, wurde im vergangenen September festgenommen und sitzt seither im Hochsicherheitstrakt des berüchtigten Tora-Gefängnisses in Kairo. Auch für seine Freilassung hatten die Frauen demonstriert. Nur wenig später führten Sicherheitsleute Seif und die anderen ab, gegen alle sollte zunächst Anklage erhoben werden. Die Anklagepunkte lauteten: unrechtmäßiger Protest, illegale Versammlung und Behinderung des Verkehrs. Und: die Verbreitung falscher Nachrichten, wonach Ägyptens Gefängnisse im Falle eines Corona-Ausbruchs nicht sicher seien.

Inzwischen wurden die Frauen wieder freigelassen, doch die Warnung ist deutlich: Wer die Wahrheit über das Ausmaß der Corona-Pandemie in Ägypten sagt, muss sich auf drakonische Strafen einstellen. Denn kaum etwas ist für den Diktator Al-Sissi schlimmer, als schwach und inkompetent dazustehen.

Etwa Hundert Millionen Menschen leben in Ägypten, es ist das bevölkerungsreichste Land Nordafrikas. Die Corona-Pandemie trifft das Land hart; der Tourismus, früher der wichtigste Einkommenssektor für viele Ägypterinnen und Ägypter, ist seit Jahren rückläufig. Das Land ist hoch verschuldet, immer mehr Menschen sind arbeitslos und arm. Die Corona-Krise könnte die Wirtschaft endgültig zum Erliegen bringen. Offiziell haben die Behörden bisher 210 Corona-Infektionen und sechs Todesfälle gemeldet, kanadische Forscher sprechen hingegen von mindestens 6.000 Fällen. Schulen, Universitäten, Theater und Kinos wurden geschlossen, der internationale Flugverkehr ausgesetzt. Restaurants, Cafés, Clubs und Geschäfte müssen ihre Öffnungszeiten begrenzen.

Menschenrechte gibt es nicht mehr

Doch neben diesen sichtbaren Maßnahmen zur Eindämmung des Virus gibt es in Ägypten noch eine andere, beunruhigende Entwicklung: die weitere Abschaffung von Grund- und Menschenrechten. Wenn in Europa diskutiert wird, inwieweit die vorübergehenden Einschränkungen im öffentlichen Leben die Freiheit des Individuums beschränken dürfen, stellt sich in Ägypten wie in vielen autokratisch geführten Ländern eine existenziellere Frage: Wie kann der Einzelne leben – oder überleben – wenn das Regime noch repressiver agiert? 

Seit der einstige Feldmarschall Abdel Fattah al-Sissi im Sommer 2013 Mohammed Mursi aus dem Amt geputscht hat, regiert er mit harter Hand. Kritiker lässt er einsperren oder umbringen. Die politische Opposition ist nahezu ausgeschaltet, die Zivilgesellschaft nicht mehr existent, die Angst vor Strafen bestimmt alles. Wer es noch wagt, offen gegen das korrupte Militärregime zu protestieren, wird in Schauprozessen zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Die Medien sind staatlich gelenkt, die wenigen unabhängigen Journalisten, lokale wie internationale, werden eingeschüchtert und bedroht.  

Der Machthaber Al-Sissi fürchtet die freie Presse umso mehr, wenn ihre Berichte seinen offiziellen Darstellungen widersprechen, auch in der Corona-Krise. Vor wenigen Tagen hat der staatliche Informationsservice (SIS) der Guardian-Reporterin Ruth Michaelson die Akkreditierung entzogen. Grund war ein von ihr veröffentlichter Artikel, in dem sie Experten zitiert, die die offizielle Zahl der Corona-Infektionen in Ägypten als viel zu niedrig erachten und denen zufolge sich bereits sehr viel mehr Menschen angesteckt haben. Der New-York-Times-Korrespondent Declan Walsh wurde verwarnt, weil er in einigen Tweets die offiziellen Zahlen angezweifelt hatte.