«Senizid» heisst das Wort der Stunde: Das Coronavirus wirkt im höchsten Masse altersdiskriminierend

Alle Menschen sind gleichwertig. Keine Regierung einer modernen westlichen Demokratie wird deshalb in Kauf nehmen, dass alte Bürger in Massen sterben. Was bedeutet dies im Zeichen von Covid-19?

Niall Ferguson
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Blumen und Gedenkbänder an einer Langzeit-Pflegeeinrichtung im amerikanischen Gliedstaat Washington, die besonders von Corona-Infektionen und Covid-19-Erkrankungen betroffen ist.

Blumen und Gedenkbänder an einer Langzeit-Pflegeeinrichtung im amerikanischen Gliedstaat Washington, die besonders von Corona-Infektionen und Covid-19-Erkrankungen betroffen ist.

Brian Snyder / Reuters

Das Word «Genozid» – die Ermordung eines Stammes oder Volkes – ist in aller Munde. Es wurde 1944 von Raphael Lemkin geprägt, einem polnischen, vor den Nazis geflohenen Juden, dessen Familie im Holocaust fast ausgelöscht wurde. Das Wort «Senizid» hingegen – die Ermordung der Alten – ist, obwohl älteren Ursprungs, weniger bekannt. Laut Oxford English Dictionary wurde es erstmals vom viktorianischen Entdecker Sir Henry Hamilton Johnston verwendet. «Die Bewohner Sardiniens», schrieb er 1889, «sahen es einst als heilige Pflicht der jungen Menschen an, ihre alten Verwandten zu töten.»

Lemkins Wort setzte sich durch. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete 1946 nicht nur eine Resolution ohne Gegenstimmen, die den Genozid verurteilte. Im Jahre 1948 hat sie auch – erneut einstimmig – ein Abkommen zur Unterbindung und Bestrafung des Verbrechens des Genozids gebilligt.

Obwohl Amerika dieses Abkommen erst 1985 ratifiziert hat, nahm die Verwendung des Begriffs nach der ersten Veröffentlichung exponentiell zu. (Es widerstrebt mir gegenwärtig, zu sagen, es sei «viral gegangen».) Wer Genozid in eine Suchmaschine eingibt, wird sich durch Tausende von Einträgen arbeiten müssen.

Das gilt nicht für Senizid. Bei Amazon finden sich in der englischsprachigen Welt nur zwei Bücher zu diesem Thema: «The Customary Practice of Senicide. With Special Reference to India by Pyali Chatterjee», sowie «Death Clock Ticking: Senicide, Ageism and Dementia Discrimination in Geriatric Medicine by Itu Taito». Letzteres ist noch nicht veröffentlicht. Ach ja, da gibt es noch einen absolut schauerlichen Song namens «Senicide» von der kalifornischen Heavy-Metal-Band Huntress.

Die Jungen kommen vor den Alten

Das Wort wird noch in ein paar anderen Büchern verwendet – fast überall in Verbindung mit angeblichen Praktiken früherer oder obskurer Stämme (die Padaei Indiens, die Wotiaken Russlands, die Hopi im frühen Amerika, die Netsilik-Inuit Kanadas, die südafrikanischen San-Stämme und die Bororos Amazoniens). Doch das Wort Senizid kommt so selten vor, dass die Rechtschreibprüfung von Microsofts Word es rot unterstreicht und versucht ist, es per Autokorrektur in «Suizid» zu verwandeln.

Doch all das verändert sich gerade. Wenn eine erhebliche Zahl westlicher Staaten, was immer wahrscheinlicher zu sein scheint, mit der durch das Virus Sars-CoV-2 (das neuartige Coronavirus, das im Dezember im chinesischen Wuhan ausgebrochen ist) ausgelösten Pandemie weiterhin falsch umgeht, dann wird eine sehr grosse Zahl alter Menschen vor der Zeit sterben.

Die Statistiken sind eindeutig (Stand: Sonntag, 22. März 2020). In China, wo die Epidemie im Moment unter Kontrolle zu sein scheint, lag die Sterberate für die Personen unter 50 Jahren bei 0,2 Prozent. Für diejenigen über 60 betrug sie 3,6 Prozent, bei Leuten über 70 waren es 8 Prozent und bei den über 80-Jährigen 14,8 Prozent. In Italien – inzwischen das Land, das von Covid-19, der durch das Virus verursachten Krankheit, am schlimmsten betroffen ist – lag die Sterberate für Personen über siebzig bisher bei 11,8 Prozent, bei denen über achtzig waren es 18,8 und bei denen über neunzig 21,6 Prozent.

In einer Hinsicht ist es ein Segen, dass Covid-19 altersdiskriminierend zu sein scheint. Die meisten Pandemien sind mit Kindern nicht so gnädig. In Amerika beispielsweise starben während der Influenza-Epidemie von 1957/58 Kinder unter fünf Jahren mit einer höheren Rate als die Personen über 64. Ausserdem ist es eine Tatsache, dass es nie zuvor in der Geschichte so viele alte Menschen gegeben hat. Heute ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung Japans 65 Jahre alt oder älter. 1960 lag der Anteil bei 5,6 Prozent. In der EU hat sich der Anteil von zehn auf zwanzig Prozent verdoppelt. Weltweit ist dieser Wert von fünf auf neun Prozent gestiegen.

Und es ist auch eine Tatsache, dass Ärzte in einer überlasteten Klinik mit unzureichender intensivmedizinischer Versorgung aus utilitaristischer Sicht richtig handeln, wenn sie statt derer, die sich dem Ende ihres Lebens nähern, bevorzugt die Jüngeren behandeln. Ich mache den italienischen Ärzten, die diese Form der Triage praktiziert haben, keine Vorwürfe.

Doch wenn diese Pandemie ihren Verlauf genommen hat – wenn wir als Spezies «Herdenimmunität» erreicht haben und wenn Impfstoffe wie auch Therapien entwickelt sein werden –, dann wird es erheblich mehr Bestattungen von älteren Italienern und höchstwahrscheinlich auch Amerikanern und Briten gegeben haben als von Taiwanern oder Südkoreanern. Der Grund dafür ist, dass ostasiatische Länder aus den verheerenden Erfahrungen mit Sars im Jahr 2003 die richtigen Schlüsse gezogen haben, während die meisten westlichen Länder aus ihrer relativ milden Begegnung mit H1N1 – gemeinhin als Schweinegrippe bekannt – im Jahr 2009 zu den falschen Schlüssen gelangt sind.

Das Virus überträgt sich leicht

Dass Covid-19 sowohl hoch ansteckend (symptomlose Personen können infiziert sein, und es wird überdies leicht übertragen) als auch weit «tödlicher» ist als die saisonale Grippe, war schon Ende Januar 2020 offensichtlich, als ich an dieser Stelle über die aufziehende Pandemie schrieb. Dennoch zauderten zahlreiche Regierungen – darunter die der USA und Grossbritanniens – noch fast zwei Monate.

Es war nicht allein Donald Trumps verantwortungslose Nonchalance, die den Schaden verursachte. Gerade die Organisationen, von denen erwartet wird, dass sie unsere Länder auf eine solche Gefahr vorbereiten, haben ebenfalls Fehler gemacht.

In Amerika gab es skandalös wenige Test-Kits, so dass das Land in Hinblick auf Tests pro Einwohner noch letzte Woche hinter Weissrussland und Russland lag. Im Vereinigten Königreich beruhte die Politik ursprünglich auf der Vorstellung, das Land würde besser damit fahren, wenn es eine frühe Herdenimmunität anstrebte, anstatt die Ausbreitung der neuen Krankheit einzudämmen – bis Epidemiologen wie mein Beinahe-Namensvetter Neil Ferguson (dem wir alle eine rasche Genesung wünschen müssen, weil er letzte Woche Symptome entwickelt hat, die denen von Covid-19 ähneln) auf die wahrscheinlich katastrophalen Folgen hinwiesen.

Wegen dieser groben Fehler sind Amerika und das Vereinigte Königreich viel zu langsam dazu übergegangen, die Kombination aus Massentests, erzwungener sozialer Distanzierung und der Nachverfolgung von Kontaktpersonen zu übernehmen, mit der die Ausbreitung des Virus in Ländern Asiens eingedämmt wurde. Es gibt einen Grund, weshalb das Virus in Südkorea etwa 100 Opfer gefordert hat, während es in Italien mehr als 4000 sind.

Es trifft die Alten

Wie viele Menschen werden am Ende sterben? Wir wissen es nicht. In Amerika könnten wir, wenn sich die italienischen Verhältnisse in New York und Kalifornien wiederholen, am Ende dieses Jahres ein halbe bis eine Million Tote zählen. Ich habe Schätzungen gelesen, die 1,7 oder gar 2,2 Millionen erreichen. Der vom anderen Ferguson für Britannien angenommene schlimmste Fall belief sich auf 510 000 Tote. Der entscheidende Punkt ist aber, dass die meisten Opfer alte Menschen sein werden. Und die meisten Toten hätten mit besserer Vorbereitung und früherem Handeln vermieden werden können.

Der russische Historiker Nikolai Karamzin definierte Senizid im 19. Jahrhundert als «das Recht der Kinder, Verwandte zu ermorden, die, durch Alter und Krankheit überlastet, für die Familie zu teuer und für Mitbürger nutzlos sind». Wie die Entdecker Knud Rasmussen und Gontran de Poncins berichteten, war Senizid von den Netsilik auf King William Island noch bis in die 1930er praktiziert worden.

Doch in den 2020ern wird ein Senizid niemals toleriert werden, am allerwenigsten in modernen, entwickelten Demokratien. Diejenigen, deren Unterlassungssünden und mangelhaft durchgeführte Aufgaben zu landesweiten Seniziden geführt haben, werden wie die Täter der Genozide im 20. Jahrhundert streng verurteilt werden – nicht nur von der Geschichte, sondern auch von Wählern und ziemlich wahrscheinlich auch von Richtern.

Niall Ferguson ist Senior Fellow am Zentrum für europäische Studien in Harvard und forscht gegenwärtig als Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Der obenstehende Essay ist eine Kolumne, die Ferguson für die britische «Sunday Times» verfasst hat – sie erscheint hier exklusiv im deutschen Sprachraum. Wir danken der «Sunday Times» für die Möglichkeit des Wiederabdrucks. – Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter.