In der Corona-Krise stellen wir die Weichen für die Zukunft: Wir müssen den Totalitarismus bekämpfen und den Bürgersinn stärken

Die Pandemie trifft die Welt in einer heiklen Phase: Biometrische Technologien, welche die Seuche einzudämmen versprechen, ermöglichen eine tiefgreifende Massenüberwachung. Doch wir brauchen unsere Freiheit nicht aufzugeben, um unsere Gesundheit zu bewahren. Dazu gibt es andere Mittel.

Yuval Noah Harari
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Die Welt ist im Ausnahmezustand, und nicht selten verfestigen sich Notmassnahmen zu dauerhaften Regierungsmustern.

Die Welt ist im Ausnahmezustand, und nicht selten verfestigen sich Notmassnahmen zu dauerhaften Regierungsmustern.

Ricardo Rojas / Reuters

Die Menschheit erlebt eine globale Krise, vielleicht die grösste Krise unserer Generation. Die Entscheide, die wir in den nächsten Wochen treffen, prägen die Welt wohl auf Jahre hinaus. Sie ändern nicht nur unser Gesundheitssystem, sondern auch die Wirtschaft, die Politik und die Kultur. Wir müssen rasch und mutig handeln. Aber wir sollten auch an die langfristigen Konsequenzen unserer Taten denken.

Wenn wir zwischen Alternativen wählen, müssen wir uns nicht nur fragen, wie wir gegen die akute Bedrohung kämpfen können, sondern auch, in welcher Welt wir leben, wenn der Sturm vorüber ist. Ja, der Sturm zieht vorbei, die Menschheit kommt davon, die meisten von uns werden überleben – aber wir leben danach in einer anderen Welt.

Viele kurzfristige Massnahmen in der Not verfestigen sich zu neuen Gegebenheiten im Alltag. Das haben Krisen so an sich: Sie spulen historische Prozesse im Schnellgang vorwärts. Entscheide, die in normalen Zeiten jahrelange Diskussionen brauchen, fallen innert Stunden. Unausgereifte, ja sogar gefährliche Technologien kommen zum Einsatz, weil Nichtstun das grössere Risiko wäre.

Ganze Staaten dienen als Versuchskaninchen in grossangelegten sozialen Experimenten. Was geschieht, wenn alle zu Hause arbeiten und sich nur auf Distanz austauschen? Was geschieht, wenn ganze Schulen und Universitäten online gehen? In normalen Zeiten würden sich Regierungen, Behörden und Unternehmen nie auf solche Experimente einlassen. Aber wir leben nicht in normalen Zeiten.

In dieser Krise sehen wir uns vor zwei besonders wichtige Entscheide gestellt: Erstens jenen zwischen totalitärer Überwachung und republikanischer Ermächtigung der Bürger. Zweitens jenen zwischen nationalistischer Isolation und globaler Solidarität.

Umfassende Überwachung

Um die Epidemie zu stoppen, müssen sich ganze Bevölkerungen an strenge Regeln halten. Das lässt sich mit zwei Methoden durchsetzen. Einerseits können die Regierungen die Leute überwachen und die Unfolgsamen bestrafen. Die Technik macht es heute zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte möglich, alle Leute permanent zu überwachen.

Der KGB konnte vor fünfzig Jahren nicht 240 Millionen sowjetische Bürger während 24 Stunden im Tag verfolgen, und er konnte all die Informationen auch nicht effektiv verarbeiten. Er musste sich auf menschliche Agenten und Analysen verlassen, und er verfügte schlicht nicht über genug Leute, um jeden Einzelnen zu bespitzeln. Aber jetzt brauchen die Regierungen keine Agenten aus Fleisch und Blut mehr, sie nutzen allgegenwärtige Sensoren und allmächtige Algorithmen.

In ihrem Kampf gegen das Coronavirus haben mehrere Regierungen, vor allem die chinesische, die neuen Überwachungstechniken bereits eingesetzt. Mit dem Monitoring aller Smartphones griff die chinesische Regierung auf Millionen von Kameras mit Gesichtserkennung zu und zwang die Leute, ihre Körpertemperatur und ihren Gesundheitszustand zu melden. Die Behörden konnten so nicht nur Verdachtsfälle von Virusträgern erkennen, sondern alle ihre Bewegungen und alle ihre Kontaktpersonen festhalten. Mehrere Apps warnten die Bürger vor dem Kontakt mit infizierten Personen.

Chinesische Passanten mit Schutzmasken und Smartphones, Peking, 20. März 2020.

Chinesische Passanten mit Schutzmasken und Smartphones, Peking, 20. März 2020.

Kevin Frayer / Getty
Wo die Reise hingeht, liegt auch in unserer Hand: Wir müssen jetzt den richtigen Weg wählen und uns strikt auf die Fakten verlassen.

Wo die Reise hingeht, liegt auch in unserer Hand: Wir müssen jetzt den richtigen Weg wählen und uns strikt auf die Fakten verlassen.

Kevin Frayer / Getty

Diese Technik kommt nicht nur im Fernen Osten zum Einsatz. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ermächtigte den Geheimdienst, Überwachungsinstrumente, die er gewöhnlich für den Kampf gegen Terroristen braucht, zum Tracken von Viruskranken zu verwenden. Als sich die zuständige Parlamentskommission weigerte, diese Massnahme zu bewilligen, rammte Netanyahu sie mit einem «Notstandserlass» durch.

Die Kontrolle geht unter die Haut

Dagegen lässt sich einwenden, das sei alles nichts Neues. In den letzten Jahren setzten sowohl Regierungen als auch Konzerne immer ausgeklügeltere Technik zum Monitoring und zur Manipulation der Menschen ein. Wenn wir aber nicht aufpassen, könnte sich diese Epidemie als wichtige Wasserscheide in der Geschichte der Überwachung erweisen. Nicht nur, weil sie den Einsatz von Massenüberwachung auch in Ländern durchsetzen könnte, die sie bisher ablehnten. Sondern vor allem, weil sie eine dramatische Transition von der Überwachung «über der Haut» zu jener «unter der Haut» bedeuten würde.

Wenn mein Finger bisher den Bildschirm meines Smartphones berührte und einen Link anklickte, wollte die Regierung einfach wissen, was genau ich da suchte. Aber wegen des Coronavirus nimmt sie etwas anderes in den Fokus: Was die Regierung jetzt kennen will, ist die Temperatur meines Fingers und der Blutdruck unter seiner Haut.

Wenn wir herausfinden wollen, wo wir bei der Überwachung stehen, liegt eines der Probleme darin, dass niemand von uns genau weiss, wie wir überwacht werden und wozu das in den nächsten Jahren führt. Die Überwachungstechnik entwickelt sich rasend schnell, und was vor zehn Jahren als aufregende Science-Fiction erschien, erweist sich heute als kalter Kaffee.

Was, wenn sie unsere Emotionen lesen?

Stellen wir uns als Gedankenexperiment eine hypothetische Regierung vor, die jeden Bürger dazu zwingt, ein Armband zu tragen, das rund um die Uhr seine Körpertemperatur und seinen Blutdruck misst. Alle Daten werden von den Algorithmen der Regierung gehortet und ausgewertet. Sie wissen also, dass ich krank bin, bevor ich es selber weiss, und sie wissen auch, wo ich mich aufgehalten und wen ich getroffen habe. Die Übertragungsketten liessen sich also drastisch verkürzen oder sogar unterbrechen. Das tönt wunderbar, oder nicht?

Das Problem ist natürlich, dass das ein furchtbares neues Überwachungssystem legitimieren würde. Wer zum Beispiel weiss, dass ich auf einen Link von Fox News geklickt habe und nicht auf einen von CNN, der erfährt etwas über meine politischen Ansichten und vielleicht sogar meine persönlichen Einstellungen. Aber wer überwachen kann, was mit meiner Körpertemperatur, meinem Blutdruck und meinem Herzschlag geschieht, wenn ich das Video anschaue, der erkennt, was mich zum Lachen oder zum Weinen bringt und was mich richtig wütend macht.

Wir müssen daran denken – das ist entscheidend –, dass Ärger und Freude, Liebe und Langeweile biologische Phänomene sind wie Fieber oder Husten. Dieselbe Technologie, die Erkältungen erkennt, kann auch Gelächter erkennen. Wenn Konzerne und Regierungen unsere biometrischen Daten in Massen abgreifen, dann lernen sie uns besser kennen, als wir uns selber kennen, und sie können dann unsere Gefühle nicht nur identifizieren, sondern auch manipulieren und uns andrehen, was sie wollen, ob Produkt oder Politiker.

Biometrisches Monitoring würde das Daten-Hacking von Cambridge Analytica aussehen lassen wie aus der Steinzeit. Stellen wir uns Nordkorea im Jahr 2030 vor, wenn jeder Bürger rund um die Uhr ein Armband tragen muss. Wer eine Rede des Grossen Führers anhören muss und per Armband seinen Ärger verrät, der ist erledigt.

Notstände sind hartnäckig

Natürlich lässt sich einwenden, die biometrische Überwachung solle es nur als temporäre Massnahme im Notstand geben. Sobald die Krise überwunden sei, werde sie aufgehoben. Aber temporäre Massnahmen haben die Eigenheit, den Notstand zu überdauern, weil ja stets ein neuer Notstand am Horizont droht.

Mein Heimatland Israel rief den Notstand während seines Unabhängigkeitskriegs von 1948 aus. Er rechtfertigte eine ganze Reihe von temporären Massnahmen, von der Pressezensur und der Landkonfiskation bis hin zu speziellen Prozeduren beim Puddingmachen (kein Witz). Der Unabhängigkeitskrieg ist schon lange gewonnen, der Notstand aber nie aufgehoben worden. Und Israel hat viele der «temporären» Massnahmen von 1948 nicht zurückgenommen (immerhin gnädigerweise 2011 das Dekret zum Notstands-Pudding).

Selbst wenn wir die Infektionen durch das Coronavirus auf null bringen, könnten datenhungrige Regierungen argumentieren, sie brauchten die biometrischen Überwachungssysteme weiterhin, weil sie eine zweite Welle fürchteten oder weil ein neuer Ebola-Stamm irgendwo in Afrika drohe oder . . . was auch immer. In den letzten Jahren tobte eine gewaltige Schlacht um unsere Privatsphäre. Die Coronavirus-Krise könnte ihr Wendepunkt sein. Denn Menschen, die zwischen Freiheit und Gesundheit wählen müssen, entscheiden sich gewöhnlich für die Gesundheit.

Die Leute zwischen Freiheit und Gesundheit wählen zu lassen, ist die Wurzel des Problems. Denn es ist eine falsche Wahl. Wir können und sollten sowohl Privatheit als auch Gesundheit geniessen. Wir können unsere Gesundheit schützen und die Epidemie stoppen, indem wir den Bürgern nicht ein totalitäres Überwachungsregime aufzwingen, sondern sie ermächtigen.

Mit einer Strassensperre werden in Delhi die Anordnungen der Behörden zur Eindämmung des Coronavirus durchgesetzt.

Mit einer Strassensperre werden in Delhi die Anordnungen der Behörden zur Eindämmung des Coronavirus durchgesetzt.

Adnan Abidi / Reuters

Einige der erfolgreichsten Anstrengungen, die Corona-Epidemie einzudämmen, wurden in den letzten Wochen von Südkorea, Taiwan und Singapur orchestriert. Diese Staaten setzten zwar auch auf einige Tracking-Apps, vor allem aber auf aufwendiges Testen, auf ehrliches Reporting und auf die willige Kooperation einer wohlinformierten Bevölkerung.

Fakten und Vertrauen sind zentral

Zentralisiertes Monitoring und drakonische Strafen sind nicht das einzige Mittel, das dazu führt, dass sich die Leute an Regeln halten, die ihr eigenes Wohl schützen. Wenn die Bürger die wissenschaftlichen Fakten kennen und wenn sie den Regierungen glauben, dass sie ihnen diese Fakten offenlegen, dann tun sie das Richtige, ohne dass ihnen Big Brother über die Schulter schauen müsste. Eine eigenverantwortliche, aufgeklärte Bevölkerung bringt gewöhnlich viel mehr zustande als eine unwissende und gegängelte.

Nehmen wir zum Beispiel das Waschen der Hände mit Seife. Das war einer der grössten Fortschritte in der Geschichte der Hygiene. Diese simple Massnahme rettet jedes Jahr Millionen von Leben. Wir finden sie selbstverständlich, dabei erkannten die Wissenschafter erst im 19. Jahrhundert, wie wichtig es ist, die Hände mit Seife zu waschen. Vorher gingen sogar Ärzte und Krankenschwestern von einer Operation zur anderen, ohne es zu machen.

Heute waschen sich Milliarden von Menschen täglich die Hände, nicht weil sie die Seifenpolizei fürchten, sondern weil sie die Fakten kennen. Ich wasche meine Hände mit Seife, weil ich von den Viren und den Bakterien gehört habe. Ich habe verstanden, dass diese winzigen Organismen Krankheiten verursachen können und dass Seife sie beseitigen kann.

Um eine solche Kooperation zu erreichen, braucht es Vertrauen. Die Menschen müssen der Wissenschaft, den Behörden und den Medien vertrauen. In den letzten Jahren haben unverantwortliche Politiker dieses Vertrauen in die Wissenschaft, in die Behörden und in die Medien aber bewusst untergraben. Jetzt könnten dieselben Politiker in Versuchung geraten, die Schnellstrasse zum autoritären Staat zu nehmen, indem sie behaupten, wir könnten nicht darauf vertrauen, dass die Leute von sich aus das Richtige täten.

In normalen Zeiten lässt sich Vertrauen, das über Jahre untergraben worden ist, nicht über Nacht wieder aufbauen. Aber in einer Krise kann sich auch das Denken schnell ändern. Wir können uns mit unseren Geschwistern über Jahre bitter streiten, aber wenn es zu irgendeiner Notlage kommt, finden wir ein verstecktes Reservoir von Vertrauen und Zuneigung und eilen einander zu Hilfe. Wir müssen kein Überwachungsregime einführen, stattdessen können wir das Vertrauen der Menschen in die Wissenschaft, die Behörden und die Medien wieder aufbauen; dafür ist es nicht zu spät.

Selbstermächtigung statt Fremdkontrolle

Selbstverständlich sollten wir auch die neuen Technologien einsetzen, aber sie müssen die Bürger ermächtigen. Ich überwache gerne meine Körpertemperatur und meinen Blutdruck, aber meine Daten dürfen nicht dazu dienen, eine allmächtige Regierung zu schaffen. Im Gegenteil, die Daten sollten mich dazu befähigen, dank mehr Information bessere Entscheide für mich selber zu treffen und auch die Regierung für ihre Entscheide zur Verantwortung zu ziehen.

Wenn ich meinen Gesundheitszustand rund um die Uhr beobachten könnte, würde ich nicht nur erfahren, ob ich für andere Leute zum Risiko geworden bin. Ich würde auch erkennen, welche Gewohnheiten sich günstig auf meine Gesundheit auswirken. Und wenn ich Zugang zu verlässlichen Statistiken zur Verbreitung des Coronavirus bekäme, könnte ich beurteilen, ob mir die Regierung die Wahrheit sagt und ob sie im Kampf gegen die Epidemie die richtigen Massnahmen wählt.

Wenn wir über Überwachung reden, müssen wir immer daran denken, dass ein und dieselben Technologien nicht nur dazu dienen können, dass die Regierungen die Individuen überwachen, sondern auch dazu, dass die Individuen die Regierungen überwachen.

Diese Epidemie ist deshalb ein wichtiger Test für unseren Bürgersinn. In den kommenden Tagen sollte sich jede und jeder von uns dazu entscheiden, den wissenschaftlichen Daten und den ausgewiesenen Experten zu vertrauen anstatt haltlosen Verschwörungstheorien und eigennützigen Politikern. Wenn wir bei diesem Entscheid versagen, könnten wir unsere wertvollsten Freiheiten verschleudern, weil wir meinen, unsere Gesundheit lasse sich nur so bewahren.

Globaler Austausch rettet Leben

Der zweite wichtige Entscheid, zu dem wir uns gezwungen sehen, ist jener zwischen nationalistischer Isolation und globaler Solidarität. Sowohl die Epidemie selbst als auch die Wirtschaftskrise, die daraus folgt, sind globale Probleme. Sie lassen sich nur mit globaler Zusammenarbeit lösen.

Vordringlich müssen wir Informationen global austauschen, um das Virus zu bezwingen. Das ist der grosse Vorteil von Menschen gegenüber Viren. Ein Coronavirus in China und ein Coronavirus in den USA können sich keine Tipps geben, wie sie die Menschen am besten anstecken. Aber China kann die USA viele wertvolle Lektionen lehren, wie mit dem Coronavirus umzugehen ist.

Was ein italienischer Arzt am frühen Morgen in Mailand erkennt, kann am Abend in Teheran Leben retten. Wenn die britische Regierung zwischen verschiedenen Strategien schwankt, kann sie sich von der südkoreanischen Regierung beraten lassen, die schon vor einem Monat vor demselben Dilemma stand. Aber dazu kann es nur mit einem globalen Geist des Vertrauens und der Zusammenarbeit kommen.

Die Staaten sollten sich willens zeigen, offen Erkenntnisse auszutauschen und bescheiden um Empfehlungen anzufragen, und sie sollten diesen Erkenntnissen und Empfehlungen vertrauen. Darüber hinaus brauchen wir einen globalen Effort, um medizinische Ausrüstung zu produzieren und zu distribuieren, vor allem Tests und Beatmungsgeräte. Statt jedes Land für sich selber schauen und alles horten zu lassen, was immer verfügbar ist, könnte ein koordinierter globaler Effort dafür sorgen, dass die Produktion beschleunigt und das lebensrettende Equipment fairer verteilt wird.

Im Krieg nationalisieren die Staaten ihre Schlüsselindustrien, ebenso sollte unser gemeinsamer Krieg gegen das Virus die entscheidenden Produktionslinien «humanisieren». Ein reiches Land mit wenigen Coronavirus-Fällen sollte einem armen Land mit vielen Fällen wertvolle Geräte schicken, im Vertrauen darauf, dass es im Notfall von den anderen Ländern Hilfe bekommt.

Ebenso sollten wir über einen globalen Effort beim Austausch von medizinischem Personal nachdenken. Länder, die derzeit kaum betroffen sind, könnten ihre Ärzte und ihre Pfleger in die am schwersten betroffenen Regionen schicken, sowohl, um diesen in ihrer Not zu helfen, als auch, um wichtige Erfahrungen zu sammeln. Wenn die Epidemie später anderswo wütet, könnte die Hilfe in die Gegenrichtung gehen.

Gewisse Reisen bitte zulassen

Globale Kooperation ist aber auch an der ökonomischen Front überlebenswichtig. Angesichts der globalen Ausrichtung der Wirtschaft und ihrer Lieferketten verschärfen Regierungen, die nur ihr eigenes Ding durchziehen, das Chaos und die Krise. Wir brauchen einen globalen Plan, und wir brauchen ihn schnell.

Weiter müssen wir zu einer globalen Übereinkunft betreffend das Reisen kommen. Alle internationalen Reisen monatelang auszusetzen, führt zu ungeheuren Nöten und schadet uns im Kampf gegen das Virus. Die Staaten müssen zusammenarbeiten, um wenigstens ein Rinnsal von wichtigen Reisenden zuzulassen: Wissenschafter, Ärzte, Journalisten, Politiker, Geschäftsleute. Dies lässt sich mit einer globalen Übereinkunft erreichen, wonach die Reisenden von ihren Heimatländern getestet werden. Wer weiss, dass nur sorgfältig getestete Passagiere in ein Flugzeug steigen dürfen, der zeigt sich eher willens, sie in sein Land zu lassen.

Die wichtigsten Reisen sollten nach internationalen Absprachen wieder angetreten werden dürfen.

Die wichtigsten Reisen sollten nach internationalen Absprachen wieder angetreten werden dürfen.

Enric Fontcuberta / EPA

Unglücklicherweise tun die Staaten derzeit kaum etwas. Eine kollektive Lähmung hält die internationale Gemeinschaft im Griff. Man hätte erwarten dürfen, dass sich die globalen Leader schon vor Wochen zu einem Notfalltreffen zusammengefunden hätten, um einen gemeinsamen Aktionsplan zu beschliessen. Die Leader der G-7 führten aber erst letzte Woche eine Videokonferenz, und sie kamen zu keinem Plan.

Wer löst die USA ab?

In früheren globalen Krisen, so 2008 in der Finanzkrise und 2014 bei der Ebola-Epidemie, zeigten sich die USA als globaler Leader. Aber die gegenwärtige amerikanische Regierung lehnt diese Rolle ab. Sie hat nachdrücklich klargemacht, dass sie weit mehr an die Grösse von Amerika denkt als an die Zukunft der Menschheit.

Diese Regierung lässt selbst ihre nächsten Verbündeten im Stich. Als sie alle Reisen aus der EU verbot, hielt sie es nicht für nötig, die EU im Voraus darüber zu informieren, geschweige denn diese drastische Massnahme mit der EU abzustimmen. Und Deutschland wurde vom Gerücht aufgeschreckt, dass die amerikanische Regierung eine deutsche Pharmafirma dazu verleiten wollte, den Amerikanern das Monopol auf eine neue Covid-19-Impfung zu verkaufen.

Doch selbst wenn die amerikanische Regierung gelegentlich ihren Kurs änderte und mit einem globalen Aktionsplan daherkäme, würden wenige einem Leader folgen, der nie Verantwortung übernimmt, nie Fehler zugibt und immer alles Lob für sich beansprucht und alle Schande auf andere abschiebt.

Wenn nicht andere Staaten in die Lücke springen, die die USA hinterlassen haben, wird dies nicht nur unseren Kampf gegen das Virus erschweren, sondern auch die internationalen Beziehungen auf Jahre hinaus vergiften. Aber jede Krise ist auch eine Chance. Wir müssen darauf hoffen, dass die Menschheit in der akuten Krise die Gefahr der globalen Zwietracht erkennt.

Die Menschheit muss eine Entscheidung treffen. Gehen wir den Weg der Zwietracht oder wählen wir den Pfad der globalen Solidarität? Wenn wir uns für die Zwietracht entscheiden, verlängern wir nicht nur diese Krise, sondern verursachen in Zukunft wohl noch weit schrecklichere Katastrophen. Wenn wir uns aber für die globale Solidarität entscheiden, trägt uns das nicht nur den Sieg gegen das Virus ein, sondern gegen alle Epidemien und Krisen, die die Menschheit im 21. Jahrhundert treffen können.

Copyright © Yuval Noah Harari 2020. Die Originalfassung dieses Beitrags erschien in der «Financial Times». Für die deutsche Übersetzung zeichnet allein die «Neue Zürcher Zeitung», die «Financial Times Ltd.» übernimmt keine Verantwortung für deren Korrektheit oder Qualität. Aus dem Englischen übersetzt von Markus Schär.