Es gibt keine Corona-Toten in Russland. Punkt – Seite 1

Sie war 79 Jahre alt, Dozentin und der erste Corona-Todesfall in Russland. Am Donnerstag starb die Frau im Moskauer Infektionskrankenhaus Nummer 2. Doch während Italien und Deutschland alle Toten, die positiv auf Corona getestet wurden, in ihren Statistiken aufführen, scheinen die Russen einen anderen Weg einzuschlagen. Diabetes habe die Verstorbene gehabt; Herzprobleme, Bluthochdruck und verkalkte Arterien, verkündete der operative Stab der Stadt Moskau. Offizielle Todesursache: schwere Pneumonie. Die Statistik mit Corona-Todesfällen: bleibt sauber. Es gibt keine Corona-Toten in Russland. Punkt. Und von Präsident Wladimir Putin ist nur eins zu hören: Man habe die Lage im Griff.

Am selben Tag, an dem die Dozentin an einer Lungenentzündung verstarb, meldete sich in Moskau eine junge Frau lautstark mit einem Video auf Youtube zu Wort: Anastasija Wassiljewa. Es war nicht ihr erster Video-Appell an Mediziner. Wassiljewa ist Vorsitzende der Gewerkschaft "Allianz der Ärzte", die 2018 gegründet wurde und eng mit dem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny verbandelt ist.

Dieses Mal rief sie die russischen Ärzte auf, nicht länger über den Zustand der Corona-Epidemie in Russland zu schweigen. "In der ganzen Welt tobt ein Ausbruch des neuen Coronavirus. Doch bei uns in Russland tobt ein Ausbruch an Lungenentzündungen. Und wie immer toben die Lügen der Machthaber und die Einschüchterung des medizinischen Personals." Es fehle an Schutzausrüstung, an Atemmasken und Aufklärung – selbst wenn Corona die Ursache sei, würde man nur von Lungenentzündungen sprechen, meint Wassiljewa. Die Ärzte wüssten nicht, ob sie Corona- oder Pneumonie-Erkrankte behandelten. Dadurch würden sie das Virus weiter verbreiten. "Ärzte, Pfleger, wir bitte Sie: Bitte beenden Sie Ihr Schweigen!", flehte Wassiljewa. Das Moskauer Gesundheitsamt reagierte umgehend: Wassiljewa droht eine Anzeige wegen Verleumdung.

DIE ZEIT: Hinter der Geschichte - Der Podcast für Freunde der ZEIT. Jede Woche berichten Redakteure von ihren spannendsten Recherchen: Corona weltweit – Bericht aus Moskau

In diesen Tagen herrscht viel Aufregung über Corona und der russische Staat geht entschieden gegen Falschberichte vor – oder solche, die er dafür hält. Es kursieren tatsächlich viele unbelegte Zahlen und Theorien (und die wildesten haben die russischen Staatssender anfangs selbst in die Welt gesetzt). Aber sagt der Staat die Wahrheit?

Rasanter Anstieg an Lungenentzündungen

Anonym berichten Ärzte in Moskau von einem rasanten Anstieg an Lungenentzündungen in ihren Krankenhäusern – ob Corona die Ursache dafür ist, wissen sie nicht. Überprüfen lassen sich die Eindrücke nicht: Die Statistiken über Lungenentzündungen für Februar und März liegen noch nicht vor. Doch selbst wenn sie vorlägen, wäre Vorsicht angebracht. Kürzlich veröffentlichte das russische Statistikamt die Zahlen für Januar: In Moskau soll es 37 Prozent mehr Erkrankte gegeben haben gegenüber dem Vorjahr (was durchaus sein kann). Das Moskauer Gesundheitsamt wiederum behauptet, im Januar und Februar sei die Zahl der Erkrankten gar gesunken. Wem also glauben?

Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Infektionsrate in Russland auffällig niedrig – noch. Am Mittwoch gab es offiziell 147 positiv getestete Corona-Fälle, die meisten davon in Moskau. Am Donnerstag wurden 199 Fälle verzeichnet, am Sonntagnachmittag waren es bereits 367.

Die Zahlen sind im Vergleich zu Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien immer noch niedrig– aber es gibt Zweifel. Russland testet sehr viel weniger als Deutschland, aber sehr viel mehr als die Ukraine, wo die offiziellen Infektionsraten nur deshalb so niedrig sind, weil schlichtweg nicht getestet wird. In Russland wurden bisher mit einem eigens entwickelten Corona-Test rund 156.000 Menschen auf das Virus untersucht. Die Tests gingen bisher an das Labor Vektor bei Nowosibirsk, drei Tage brauchte es für ein Ergebnis.

In Krasnojarsk setzen sich 800 Menschen einfach ab

Aber wie verlässlich sind die Tests? Die Zeitung The Moscow Times berichtet, dass die Tests nicht sehr sensitiv seien, unter Umständen also Corona nicht anzeigen würden, auch wenn eine Infektion vorläge. Auch wundern sich Mediziner, wie ein einziges Labor eine derart hohe Anzahl an Tests durchführen kann. Immerhin gibt es seit diesem Wochenende, so zumindest berichtet es der Moskauer Einsatzstab, in der Hauptstadt acht Labore, die nun selbständig auf Corona testen könnten. Auch in Sankt Petersburg bieten Kliniken nun den Test an – kostenlos.

Im Vergleich zu vielen europäischen Ländern hat die russische Regierung schnell auf die Corona-Ausbreitung reagiert. Die Grenzen nach China wurden im Januar geschlossen, seit Mitte März dürfen Ausländer – bis auf wenige Ausnahmen – bis zum 1. Mai nicht nach Russland einreisen. Vor allem der Bürgermeister von Moskau, Sergej Sobjanin, hat sich als effektiver Manager der Krise hervorgetan. Er hatte schon Anfang März eine zweiwöchige Quarantäne für alle verhängt, die aus Ländern mit hohen Infektionsraten eingereist waren.

Moskau baut ein Corona-Hospital

Wer dagegen verstößt, kann mit Haft von bis zu fünf Jahren bestraft werden. Mit Gesichtserkennungskameras werden die Verstöße aufgedeckt – mehr als 200 bislang. Sobjanin mahnt zur Heimarbeit an, er appelliert an Menschen über 60 Jahre, zu Hause zu bleiben. Die Schulen und Kindergärten sind zu, am Samstag ließ er zudem alle Schwimmbäder und Fitnessstudios schließen. Zurzeit lässt er ein großes Krankenhaus bei Moskau aus dem Boden stampfen. In einem Monat sollen hier 500 neue Betten stehen – davon 20 Intensivbetten. Auch eine Quarantäne für ganz Moskau wird erwogen. Dann wäre die Stadt vom Rest des Landes abgeschottet.

Während Sobjanin voranprescht, ziehen die Moskauer zögerlich nach. Es ist, als lerne jedes Land von den anderen mit einer einwöchigen Verzögerung. Ja, die U-Bahn ist eher leer, aber noch immer zu voll. Viele Restaurants und Cafés sind noch geöffnet und gar nicht schlecht besucht. Die Straßen sind voller Menschen, an den Metrostationen stehen Leute und verteilen Werbeflyer. Abstand halten? Ach wo!

Noch unbekümmerter begegnet man dem Virus außerhalb der Hauptstadt. In Krasnojarsk hatten 800 dichtgedrängte Menschen genug vom Warten auf die Anweisungen für Selbstisolation; sie setzten sich ab. In Sankt Petersburg rühmte sich die Kirche, dass 70.000 Besucher den Schrein von Johannes dem Täufer geküsst haben, wie im orthodoxen Glauben üblich; erst vor wenigen Tagen wurde der Schrein zurück nach Israel gebracht. In Kasan wird die Kommunion den Gläubigen sogar noch mit dem immer selben Löffel in den Mund geschoben. 

Führende Infektiologin verheimlicht eigene Infektion

In der Region Stawropol verheimlichte eine der wichtigsten Infektiologinnen der Gegend, dass sie, während das Virus schon grassierte, nach Spanien gereist war, um die Hausquarantäne zu umgehen. Nach ihrer Rückkehr arbeitete die Frau einfach weiter, nahm an Konferenzen teil, dozierte an der medizinischen Fakultät der Universität von Stawropol. Während sie das örtliche Gesundheitsministerium über den Stand der Corona-Epidemie informierte, verbreitete sie das Virus als Erste in der Region, berichten russische Medien. Jetzt stehen alle Ärzte, die mit ihr Kontakt hatten, unter Quarantäne. Elf Menschen soll die Frau angesteckt haben. Derzeit liegt sie im Krankenhaus. Diagnose: Lungenentzündung.