Die andere Gefahr – Seite 1

Es heißt jetzt doch nicht Ausgangssperre, was Bund und Länder am Sonntagabend beschlossen haben. Es heißt Kontaktsperre. Zwar wird also niemand der Polizei erklären müssen, warum er nicht in seiner Wohnung ist. Doch werden Familien, die einander zufällig auf der Straße begegnen, sich beeilen müssen mit ihren Anekdoten, weil es nicht mehr erlaubt ist, in größeren Gruppen zusammenzustehen. Polizisten werden sie sonst auseinandertreiben.

Man muss das klar sagen: Es geht darum, Zehntausende, vielleicht Hunderttausende Menschenleben zu retten. Es ist keine Diktatur, es ist eine Demokratie, die das veranlasst hat und zwar aus nachvollziehbaren Gründen. Alle Politiker, die an der Entscheidung, jetzt für einige Zeit Freiheitsrechte einzuschränken, beteiligt sind, tun sich schwer damit und sagen das auch. Und trotzdem darf nicht in den Hintergrund geraten, dass dies der umfassendste Grundrechtseingriff ist, den zumindest der Westen des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat.

Man kann zumindest der Bundeskanzlerin nicht vorwerfen, es sich mit diesem Schritt leicht gemacht zu haben. Noch in ihrer Fernsehansprache vom vergangenen Donnerstag unterstrich sie das selbst. Angela Merkel sandte mit ihrer Rede eine Warnung aus, und zwar einerseits an die, die die Situation noch immer nicht ernst nahmen. Unverantwortliche jeden Alters; Menschen, die in Gruppen Champagner auf dem Münchener Viktualienmarkt tranken oder nächtliche Partys in Großstadtparks schmissen. 

Da steht etwas auf dem Spiel

Die Rede der Kanzlerin richtete sich aber auch an jene, die in ihrer Panik nach den härtesten denkbaren Lösungen rufen – in diesem Fall radikale Ausgangsbeschränkungen. Jene, die ihren Mitbürgern noch nie sehr viel zutrauten, vor allem kein verantwortungs- und realitätsbewusstes Handeln. "Für jemandem wie mich", sagte sie, "für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen." Da steht etwas auf dem Spiel, geht damit nicht leichtfertig um – auch so durfte man Merkels Rede verstehen.

Doch die Tage, die seitdem vergangen sind, waren beunruhigend. Nicht in erster Linie, weil es immer noch Menschen gibt, die partout keine Rücksicht nehmen wollen. Das war erwartbar und es scheinen zudem weniger zu werden

Nein, das Beunruhigende war – neben der bedrohlichen Zuspitzung der Viruslage in ganz Europa – dass nicht sehr viele Menschen zu hören und zu lesen waren, die die Aussicht auf eine allgemeine Ausgangssperre erschütterte. Die alles daran setzten, Alternativen zu erdenken und dafür warben. Im Gegenteil. Menschen, die sonst gegen "Verbotskultur" polemisieren und damit Maßnahmen gegen den langfristig ebenso bedrohlichen Klimawandel meinen, feiern jetzt den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, weil der nicht rede, sondern handle. Als gäbe es in dieser Gegenwart so etwas wie unzweifelhaft richtige staatliche Verhaltensweisen. Als gäbe es nur Umsetzungsdefizite und kein gewaltiges gesellschaftliches Dilemma.

Die vielen empörten "Ausgangssperre jetzt!"-Rufe der letzten Tage konnte man als das Bedürfnis nach kollektiv-konformem Verhalten deuten. Aber wahrscheinlich ist es viel menschlicher. Wahrscheinlich stellt diese gewaltige staatliche Sanktion für viele, die ihre Panik zu kontrollieren versuchen, ein letztes Mittel vor der Hoffnungslosigkeit dar. Ob sie wirken wird, ist vielleicht jetzt erst mal weniger wichtig als der Fakt, dass es noch etwas gibt, das wir sofort tun können.

Die Demokratieverächter warten schon

Aber die alte demokratische Denkaufgabe, wie stark wir unsere Freiheit zugunsten der Sicherheit einschränken müssen, haben uns keineswegs die Virologen abgenommen. Im Gegenteil: Sie selbst mahnen, dass die Frage danach, was die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Situation sein könnten, nicht zu kurz kommen darf.

So unvorstellbar das in diesen Tagen erscheint: Das Coronavirus wird wahrscheinlich eines Tages handhabbar sein. Es wird Impfstoffe und Medikamente geben – und hoffentlich treffen die Staaten wirksame Vorkehrungen für den nächsten Ausbruch. Die Wirkungen dessen aber, was jetzt unter und zwischen uns geschieht, werden lang, womöglich länger als das Virus anhalten.

Schon die freiwillige Selbstisolation, in die sich viele begeben haben, macht etwas mit uns. Es gibt zauberhafte Beispiele von schönstem menschlichem Sozialverhalten. Vielleicht kann man sogar von einer Welle der Solidarität sprechen. Menschen kümmern sich um ihre Nächsten, sie fragen aber auch, wer sonst noch ihre Hilfe braucht. Sie machen einander Mut, im Netz, via Messenger und auf den Balkonen.

Und gleichzeitig berichten kluge Leute, dass sie Panikanfälle bekommen beim Einkaufen. Manche brechen unvermittelt in Tränen aus. Menschen werden in den nächsten Wochen und Monaten zu Säufern werden und andere werden darunter leiden. Viele Kinder und Frauen werden voller Angst auf die nächsten Wochen zu Hause schauen, wenn Schläge vom Ehemann oder Vater drohen. In manchen Wohnungen und Eigenheimen droht eine unerträgliche, depressiv machende Enge.

Und was geschieht abseits der großen Städte, wo nicht jeder Dritte twittert oder über zwei Ecken einen Journalisten kennt? Was geschieht mit jenen, von denen es ohnehin schon heißt, dass sie sich ausgrenzen? Die Prepper, die Reichsbürger? Oder jenen, die schon jetzt ausgegrenzt werden, etwa Wohnungslosen, Gefangenen oder Geflüchteten? 

Was wird beim nächsten Mal akzeptabel sein?

Die Situation, in der wir uns jetzt befinden, dient dem Schutz vieler Leben, und das rechtfertigt auch schwerwiegende Eingriffe. Aber natürlich gefährdet sie auch die Stabilität der Gesellschaft. Es könnte sich als gefährliche Bequemlichkeit herausstellen, einfach anzunehmen, dass all die restriktiven Maßnahmen, die jetzt beschlossen werden, sich quasi von selbst wieder abschaffen. Sie mögen in einigen Wochen wieder auslaufen, aber unklar ist, ob die Menschen sich daran gewöhnen, solche drastischen Einschränkungen der Bürgerrechte auch in anderen Krisensituationen hinzunehmen. Wer weiß schon, ob verantwortungsvolle Politiker wie Angela Merkel an der Macht sein werden, wenn die nächste Pandemie oder eine andere Katastrophe Deutschland bedrohen. Bürgerrechte sind nichts Selbstverständliches, und noch weniger temporär eingeschränkte Bürgerrechte.

Und deshalb dürfen wir nicht nur gegen das Virus kämpfen. Wir müssen uns auch gegen eine Stimmung wappnen, in der die Erhaltung der Bürgerrechte als Bürde für das Gemeinwohl gilt. Wir alle müssen uns jetzt dem Notwendigen beugen, um dieses Virus an der Ausbreitung zu hindern. Aber genauso sollten wir uns dagegen wehren, dass viele das ganz normal finden. Die Feinde der Demokratie warten nur darauf.

Mitarbeit: Julia Meyer