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Kontrolle: Ein Mann in Schutzanzug mit einem Thermometer am deutsch-polnischen Grenzübergang von Frankfurt (Oder)

© dpa/Patrick Pleul

Das Coronavirus und die EU: Das „Meine-Nation-zuerst-Virus“ infiziert die Staaten

Europa muss umsteuern, wenn es auch nach der Coronavirus-Krise seine Einheit bewahren und eine Rolle in der Welt spielen will. Ein Gastbeitrag.

Der US-Präsident wendet sich vor dem Repräsentantenhaus am Capitol Hill in Washington nicht nur an seine Nation, sondern an die ganze Welt. Eine Rede so stark, dass sie an die vielleicht berühmteste Rede der jüngeren amerikanischen Geschichte erinnert, als Präsident Franklin D. Roosevelt am 8. Dezember 1941 den Eintritt Amerikas in den II. Weltkrieg begründete.

Nur, dass es bei dieser Rede des zu Beginn des Jahres 2021 nicht um einen Waffengang zur Rettung der Freiheit in der Welt geht, sondern um einen Kampf gegen eine Pandemie, die Gesundheit und Zukunft der ganzen Welt in Gefahr bringt.

Es ist eine Rede, in der ein amerikanischer Präsident der Welt die gesamte industrielle Stärke seines Landes verspricht, für die schnelle und massenhafte Produktion von medizinischem Gerät, Hilfsmitteln und der Suche nach einem Gegenmittel.

Ein Präsident der zugleich ankündigt, dass er die Hilfe auch dem stärksten Konkurrenten der USA gewähren wird, China. So wie es sein Vorgänger Franklin D. Roosevelt mit der Sowjetunion machte. Es wäre anders als die Rede Roosevelts keine „Infamy-Speech“, sondern das Gegenteil: Eine Speech of Honor.

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Vielsagender Traum

Zugegeben: Das ist das exakte Gegenteil dessen, was wir zurzeit erleben. Man kann es Träumerei nennen, aber dieser Traum zeigt doch zweierlei: Wie sehr uns der „alte Westen“ mit seiner Führungsnation USA fehlt und wie weit sich die Welt inzwischen voneinander entfernt hat. Die USA empfinden sich unter ihrem Präsidenten Donald Trump weder verantwortlich für einen gemeinsamen globalen Kampf gegen das Virus, noch suchen sie überhaupt die Zusammenarbeit mit Anderen.

Hintergrund über das Coronavirus:

Weit mehr als im Streit um die Rolle der Nato zeigt sich in der aktuellen Sprachlosigkeit, dass von einer transatlantischen Gemeinschaft kaum noch die Rede sein kann. Mehr noch: Ebenso wie China bedienen die USA lieber Verschwörungstheorien: So wie China behauptet, das Coronavirus sei in militärischen Labors der USA entwickelt worden und diene zur Schädigung des chinesischen Aufstiegs, spricht die Trump-Administration vom „China-Virus“ und schürt damit geopolitische Ressentiments.

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Zugleich versucht China sich mit Hilfe der Corona-Krise zu profilieren. Nicht die USA und auch nicht Europa liefern derzeit Unterstützung an Italien, Spanien oder Afrika, sondern China. Selten konnte man die Ablösung westlicher Führung durch das große Land der Mitte so deutlich beobachten.

Europas Zukunft hängt vom Umgang mit dem Corona-Schock ab

Bei der letzten großen Krise 2008 war China noch nicht so stark und die USA noch nicht so auf sich bezogen. Als die Jongleure an den Finanzmärkten sich und den Rest der Welt in den Abgrund geführt hatten, fand kurz nach dem Höhepunkt der Krise in den USA das Treffen der Finanzminister der wichtigsten 20 Industriestaaten der Welt statt, um gemeinsame Reaktionen zu beraten.

Kritisiert das Handeln der EU-Staaten in der Coronakrise: SPD-Politiker Sigmar Gabriel
Kritisiert das Handeln der EU-Staaten in der Coronakrise: SPD-Politiker Sigmar Gabriel

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Bislang gab es nicht einmal den Ansatz zu einem ähnlich gelagerten Vorgehen. Immerhin hatten die Präsidenten Frankreichs und Chinas einen Sondergipfel der G 20 gefordert, der am Donnerstag kurzfristig in Videoform stattfand.

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Der Antagonismus zwischen den USA und China war bereits vor dem Auftreten von Covid-19 zentral für die Frage, welche Rolle Europa in der Welt von morgen einnehmen kann und will. Klar ist, in einer von diesen beiden Mächten bestimmten G-2 Weltordnung würde Europa keine Rolle spielen, obwohl ja Europas Wohlstand unmittelbar mit der Offenheit der Märkte zusammenhängt.

Europas Einheit und seine Rolle in der Welt werden entscheidend davon beeinflusst werden, wie es mit dem Covid-Schock umgeht. Und da kann man derzeit an Europa fast verzweifeln. Denn die Europäische Union versagt bislang kläglich. Wirklich gehandelt hat nur die unabhängige Europäische Zentralbank (EZB).

Alles, was es braucht

Wie schon in der Euro-Krise haben wir es der „What-ever-it-takes“ Politik der Zentralbanker zu verdanken, dass die Währung stabil gehalten und den Mitgliedsstaaten der Euro-Zone geholfen wird. Von der Europäischen Kommission oder dem Rat der Staats- und Regierungschefs ist bislang nichts Vergleichbares zu hören.

Eher das Gegenteil: Deutschland brachte es fertig, anfänglich ein Exportverbot medizinischer Hilfsmittel nach Italien zu verhängen, als in der Lombardei die Menschen schon in Massen starben. Das werden uns die Italiener vermutlich lange nicht vergessen!

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Wir sind gerade Zeitzeugen eines „Schön-Wetter-Multilateralismus“, in dem man europäische und internationale Zusammenarbeit predigt, wenn es nichts kostet. Ein „Europa à la carte“, in dem vor allem die deutsche Politik gern Exportmeister sein und viel Geld verdienen will, sich aber in der Krise erstmal selbst absichert. Es lag auch an der deutschen Politik, dass die Finanzminister der Euro-Zone sich in dieser Woche nicht auf gemeinschaftliche Hilfen für Italien und Spanien einigen konnten.

Eine unfassbare politische Dummheit

Auch in Europa gibt es neben Covid-19 einen zweiten Infektionsherd: der „my-nation-first-Virus“. Während in Italien und Spanien mit dem Tod gerungen wird, wurden in der Euro-Gruppe die gleichen unsinnigen Debatten geführt, die vor einigen Jahren schon zur Verlängerung der Griechenlandkrise beigetragen hatten.

Jetzt auf die Idee zu kommen, Hilfen für betroffene Euro-Mitgliedsländer nur unter der Bedingung großer Reformprogramme genehmigen zu wollen, ist eine unfassbare politische Dummheit. Man kann nur hoffen, dass die Staats- und Regierungschefs wie schon 2015 klüger sind als ihre Finanzminister. Interessant ist, dass alle deutschen Ökonomen  – auch diejenigen, die traditionell die gemeinschaftliche Schuldenaufnahme ablehnen – in der aktuelle Phase das Gegenteil empfehlen.

Der italienische Ministerpräsident nimmt an einer Videokonferenz mit den G20-Regierungschefs teil.
Der italienische Ministerpräsident nimmt an einer Videokonferenz mit den G20-Regierungschefs teil.

© AFP/Palazzo Chigi press office

Denn natürlich können Italien und Spanien die notwendigen Finanzmittel zum Kampf gegen das Virus und vor allem zur Stabilisierung ihrer Wirtschaft nicht allein schultern. Dazu braucht es die Bereitschaft aller Mitgliedsstaaten des Euro, die notwendigen Kredite gemeinschaftlich zu tragen. Ob man das Euro-Bonds oder Corona-Bonds nennt, ist eigentlich völlig egal.

Die Helmut-Schmidt-Einstellung

Noch ist es Zeit, umzusteuern. In Europa wie auch international. Wenn die Erfahrung der Menschen aber sein sollte, dass am Ende gegen globale Gefahren nur der Schutz durch den eigenen Nationalstaat übrig bleibt, dann ist das vielleicht die gefährlichste Folge des Coronavirus. Dann befällt der Virus nicht nur Menschen, sondern auch unsere mühsam und oftmals mit viel Blut bezahlten internationalen Einigungsprojekte – auch die Europäische Union.

Ob Europa aber die Krise bewältigt und auch in Zukunft seine Einheit wahrt, um überhaupt noch eine Rolle in der Welt zu spielen, wird entscheidend davon abhängen, dass es dem „rette sich wer kann“ eine erstrebenswerte Alternative entgegenhält. Diese kann nur gemeinsam als Gesellschaft gefunden werden. Wir brauchen nicht den einen Helmut Schmidt, der uns aus dem Schlamassel holt.

Es geht darum, dass jeder den Helmut Schmidt in sich entdeckt und seinen Beitrag für eine bessere Zukunft leistet. Nur wenn politische Entscheidungsträger diese Haltung in ihren Gesellschaften erkennen, werden sie sich in die richtige Richtung bewegen. Das bedeutet auch den Aufbruch ins Ungewisse, denn natürlich können wir noch nicht jede Frage abschließend beantworten. Und dennoch liegt in der Auseinandersetzung mit dieser Frage nach der besseren Idee auch eine große Chance für Europa – wir können uns neu erfinden. Nutzen wir sie.

Sigmar Gabriel war SPD-Vorsitzender und mehrfach Bundesminister. Von Januar 2017 bis März 2018 war er deutscher Außenminister. Er ist Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört. Außerdem ist er Vorsitzender der Atlantik- Brücke. Demnächst geht er als Aufsichtsrat zur Deutschen Bank.

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