Bis vor wenigen Wochen konnten sich wohl die wenigsten vorstellen, dass in Deutschland schon bald Lautsprecherwagen durch die Straßen fahren und die Menschen dazu auffordern würden, das Haus nicht zu verlassen. Oder dass Straßensperren errichtet würden, um Autofahrer anzuhalten, deren Pkw das "falsche" Kennzeichen haben. Solche Bilder kannte man aus Staaten, die einen Putsch erleben, oder aus dystopischen Filmen. Seit das Coronavirus in Deutschland grassiert, sind sie jedoch auch hierzulande zu sehen – im Englischen Garten in München genauso wie an der Bundesstraße 109 zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.

Es soll nicht darum gehen, Ausgangssperren grundsätzlich abzulehnen oder zum Widerstand gegen Maßnahmen aufzurufen, die gegen eine Pandemie nutzen können. Körperliche Distanz hilft, das Verbreiten solcher Viren wie Corona einzudämmen. Doch bei allem Respekt vor der schwierigen Aufgabe, die Corona-Krise politisch zu meistern, ist längst eine Debatte über einige dieser Erlasse und Verordnungen angebracht. Denn ein Teil der Maßnahmen, die in jüngster Zeit im Kampf gegen das Coronavirus erlassen wurden, geht viel zu weit, ist rechtlich unscharf und teilweise vermutlich sogar illegal.

Um die Ausbreitung gefährlicher Krankheiten zu verhindern, darf der Staat die Grundrechte seiner Bürger einschränken – aber jeder Eingriff muss verhältnismäßig sein. Die Maßnahme muss wirklich dazu dienen, eine Pandemie zu begrenzen und Leben zu retten. Und sie darf nur Menschen betreffen, die eine Gefahr darstellen, statt jeden unterschiedslos einzuschließen. Bei einer Reihe der erlassenen Einschränkungen ist das allerdings zweifelhaft.

Pausen gehören zur Bewegung an der Luft

In verschiedenen Städten gelten zum Beispiel inzwischen sogenannte Verweilverbote. Bewegung an der Luft sei weiter erlaubt, nur draußen herumsitzen nicht mehr, lautet das Argument der Regierungsstellen. Juristen halten das für unsinnig. Worin besteht beispielsweise die Gefahr, wenn eine Mutter mit ihren Kindern auf einer Bank im Park sitzt, damit alle etwas Sonne bekommen und in der Wohnung nicht die Nerven verlieren? Ist es angemessen, sie unter Androhung einer Strafe zu verscheuchen, wie es derzeit mancherorts geschieht? Wen kann man anstecken, wenn man allein oder mit seinem Partner im Freien verweilt? "Lasst Euch nicht für dumm verkaufen", twitterte dazu der Strafrechtler Udo Vetter. Eine Pause sei notwendiger Teil der Bewegung an der frischen Luft.

Berlin beispielsweise hat überdies verfügt, dass jeder nun ständig einen Personalausweis dabei haben muss beziehungsweise einen anderen "amtlichen Lichtbildausweis nebst einem Dokument, aus dem die Wohnanschrift der Person ersichtlich ist". Eine solche Ausweispflicht steht allerdings in keinem deutschen Gesetz, es gebe für sie keine Rechtsgrundlage, sagt Clemens Arzt, der als Staats- und Ordnungsrechtler unter anderem an einer Polizeihochschule lehrt: "Das ist aus meiner Sicht grob rechtswidrig. Auf einer Bank zu sitzen begründet nicht, warum ich einen Ausweis vorzeigen müsste", sagte er. Polizeibeamte hätten seiner Auffassung nach in einem solchen Fall "keine Kontrollbefugnis". Die Polizei habe zwar neue Befugnisse bekommen, schreibt Arzt auch im Verfassungsblog. Die Anwendung dieser Befugnisse aber sei in der Regel wohl "nicht rechtmäßig".

Überhaupt Berlin. Dort hat die Landesregierung in ihrer Corona-Verordnung eben nicht nur eine Beschränkung des Aufenthaltes im Freien festgelegt, wie andere Bundesländer. Berlin und Sachsen haben eigentlich komplette Ausgangssperren verhängt, auch wenn sie so nicht genannt werden. Denn in Paragraf 14 der Berliner Verordnung heißt es: "Im Stadtgebiet von Berlin (...) befindliche Personen haben sich (...) ständig in ihrer Wohnung (...) aufzuhalten." Wer nach draußen geht, müsse Gründe "gegenüber der Polizei und den zuständigen Ordnungsbehörden glaubhaft machen".

Doch wie macht man einen Einkauf von Waschmittel glaubhaft? Wie einen Besuch der Arbeitsstelle? Wie die Tatsache, dass man zu einer Prüfung muss? Dazu sagt die Verordnung nichts, es bleibt den Polizisten und Polizistinnen überlassen, das zu entscheiden. Und so entscheiden sie wie hier beispielsweise, dass ein Spaziergang nur noch zehn Minuten dauern darf. Polizei und Ordnungsämter sind, so scheint es, von den in Teilen schwammig formulierten Verordnungen überfordert.

Bürger erleben Willkür

In Sachsen ist die Bewegung an der frischen Luft laut der dort erlassenen Allgemeinverfügung sogar nur "im Umfeld des Wohnbereichs" erlaubt. Doch was ist ein Wohnbereich, was ein Umfeld? Die Straße, das Viertel, die Stadt? Und vor allem, warum? Anstecken kann man andere Menschen überall, einem Virus ist es egal, ob sich jemand in seinem Wohnbereich bewegt oder nicht. So führen solche Sätze nur dazu, dass die Polizisten und Polizistinnen, die sie umsetzen müssen, nach Gutdünken entscheiden. Betroffene Bürger erleben das als Willkür – was der eine Beamte eben noch durchgehen ließ, verbietet die nächste. Solche Willkür aber darf es in einem Rechtsstaat nicht geben.

Die Stadt Jena ging noch weiter als der Freistaat Sachsen. Sie ordnete an, dass Menschen, die in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen waren, anschließend zwei Wochen in häusliche Quarantäne müssen – obwohl beispielsweise Bayern nach Meinung des Robert Koch-Instituts kein Risikogebiet ist. Für die Strafverteidigerin Kristin Pietrzyk kommt das einem Berufsverbot gleich: "Ich kann mir nicht aussuchen, ob ich zu einem Gerichtstermin in Bayern fahre oder nicht. Ich muss dort erscheinen und meine Mandanten vertreten", sagt sie. Nach Protesten gebe es nun zwar eine Ausnahme für Anwälte und Anwältinnen, aber die Anordnung sei immer noch rechtlich unbestimmt. "Wir müssen diese Dinge auf den Boden der Rechtsstaatlichkeit zurückholen", fordert sie.

In manchen Orten besucht die Polizei auch Menschen zu Hause, weil sie den Verdacht hat, sie dürften dort nicht sein. Als Anlass genügte bei einem Redakteur der ZEIT ein Auto vor dem Haus, welches das Kennzeichen eines anderen Bundeslandes trägt. Doch es gibt beispielsweise in Berlin keine Pflicht mehr dazu, sein Kennzeichen umzumelden, wenn man umzieht. Auf welcher rechtlichen Grundlage also finden solche Hausbesuche statt, immerhin stellen die Menschen in dem Haus keine Gefahr für die Allgemeinheit dar?

Die Regierungen in Bund, Ländern und Bezirken haben die zweifellos schwierige Aufgabe, alles Nötige zu tun, um die Corona-Pandemie einzudämmen und Menschen zu schützen. Doch mancherorts scheinen sie dabei – aus der verständlichen Angst vor einer Überforderung des Gesundheitssystems – das Maß zu verlieren. Und das nicht nur im physischen Zusammenleben, sondern auch im Umgang mit den Daten der Bürger.