Stillstand in Israel – denn Sicherheit geht vor. Diese Devise hat auch einen Preis

Der israelische Soziologe Natan Sznaider beobachtet die immer massiveren Restriktionen, mit denen die Regierung seines Landes der Corona-Krise entgegentritt. Der Gesellschaftsvertrag, schreibt er, stehe heute grundsätzlich zur Debatte.

Natan Sznaider
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Tel Aviv, Israels quirligste Stadt, steht still. Ein einsamer Sportler hat sich noch in die Nähe des Strandes gewagt.

Tel Aviv, Israels quirligste Stadt, steht still. Ein einsamer Sportler hat sich noch in die Nähe des Strandes gewagt.

Oded Balilty / AP

Es war einmal, und es scheint eine Ewigkeit her zu sein, vor etwa zwei bis drei Wochen, da schien Israel Massstäbe zu setzen in dieser Krise. Es verhängte ein Flugverbot für Reisen nach China vor allen anderen, Quarantäne für Rückkehrer aus dem Ausland vor allen anderen; da war die warnende Stimme Netanyahus, der so viel kompetenter als Trump und alle anderen erschien.

Als man sich in Europa noch draussen tummelte, hatte ich – damals als Gastprofessor noch vor Ort in Zürich – das Gefühl, dass Israel schneller als andere Länder verstanden hatte, was sich abspielte. Das war auch der Grund für meine vorzeitige Abreise, mit einem der letzten Flüge aus Europa nach Israel.

Aber wie überall überstürzten sich in meiner Heimat die Ereignisse, und auch hier herrscht nun die grosse globale Ratlosigkeit. Man sucht nach Schuld und Schuldigen – es ist der Kapitalismus, es ist die neoliberale Grundordnung, es ist die immerwährende Suche nach Profit. Dann gibt es diejenigen, die schon fast hilflos nach neuen Formen der Gemeinschaftlichkeit jenseits des «social distancing» suchen und überall neue Formen von Solidarität entdecken. Die Gesundheitsexperten konkurrieren mit den Politikern im Wettlauf mit der Zeit.

Und dann gibt es natürlich auch jene, die von der grossen Überwachung reden, als sei das etwas völlig Neues, und die mitunter vergessen, dass es gerade diese Überwachung ist, die sie selbst auch vor dem Untergang bewahren kann. Wir sind ratlos. Das ist wohl das Einzige, was mit Sicherheit gesagt werden kann.

Ausnahmezustand als Normalität

Hier in Israel mussten wir uns nicht an das Prinzip Ausnahmezustand gewöhnen. Aber derjenige, den wir nun erleben, ist nicht einfach abrufbar aus der historischen Erfahrung der so vielen Ausnahmezustände, die hier eigentlich normal sind. Wenn, wie in Israel, der Ausnahmezustand die eigentliche Normalität ist, dann werden die Grenzen zwischen Ausnahme und Normalität sowieso verwischt.

Israeli erinnern sich an die Gasmasken, die während des Golfkriegs im Sommer 1990 von allen getragen wurden; Menschen im Süden lebten unter ständigen Raketenangriffen, dann war da auch noch die Bedrohung durch Iran, das Warten auf einen massiven Luftangriff, bei dem Raketen simultan aus Süden und Norden auf Israel regnen sollten.

Wir kannten das alles, regten uns nicht weiter auf. Raketenalarm, immer mal wieder. Es ist immer Krieg, immer Frieden, die Grenzen dazwischen sind aufgehoben. Und die politischen Leidenschaften flammen derzeit auf, als ob es normale Tage wären und das keinerlei Folgen hätte. Nicht die Demokratie ist in Gefahr, sondern das Menschliche, möchte man sowohl den Politikern zurufen, die damit spielen, als auch der Bevölkerung, die sich an alles gewöhnt hat.

Der Ausnahmezustand in Israel ist normal. Man zuckte die Achseln und lebte sein hypermodernes Leben im Hightech-Paradies inmitten frommer und orthodoxer Gemeinden – ein Nebeneinander hoch individualisierter Gesellschaften, die sich alle unterschiedliche Geschichten über dieses Land erzählen. Nun ist das gesamte Land ein Isolationszimmer geworden. Das öffentliche Leben ist rasender Stillstand.

Tel Aviv, wohl eine der lautesten Städte der Welt, ist totenstill. Man vernimmt nur noch das kaum wahrzunehmende Geräusch der Fahrräder, die Mahlzeiten und Lebensmittel in der Stadt verteilen, und es scheint, dass der anfangs gefühlte Heimvorteil vor unseren Augen verschwindet. Auch das konstante Leben im Ausnahmezustand hat niemanden auf diese Situation vorbereitet. Es gibt nicht genug Krankenhäuser, die typisch israelische Streitkultur zwischen den Zuständigen richtet wohl enormen Schaden an, das Militär, das solche Situationen gewohnt ist, wird (noch) nicht eingesetzt.

Aus Todesangst geboren

Was wir derzeit vielleicht beobachten, ist ein «Restart» der Moderne unter anderen Vorzeichen. Am Beginn der historischen Moderne – angesichts der europäischen Kriege des 17. Jahrhunderts – sah der englische Theoretiker Thomas Hobbes in der Todesangst die ursprüngliche Triebfeder für die Schaffung moderner Institutionen. Es ging dabei um die Unterwerfung des Einzelnen unter die Souveränität des Staates, welche das Recht auf Leben garantieren konnte:

«Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie sich durch eigenen Fleiss und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können.»

So stellte sich Hobbes vor weniger als 400 Jahren den Sozialvertrag vor. Die Souveränität wurde zum «sterblichen Gott». Der moderne Staat beruhte ja darauf, dass Menschen ihre Freiheit aufgeben, um sich sicher in der Welt zu bewegen. Sonst wird unser Leben «einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz», in den harschen Worten von Hobbes.

Gerade dieser Anspruch des Staates wurde durch Globalisierungsprozesse herausgefordert. Der Staat verschwand, die Grenzen wurden durchlässig, die Souveränität diffus. Nun hat sich der Staat in bester Manier zurückgemeldet. Nicht zum ersten Mal, das ist klar. Schon die Terrorbekämpfung hatte den Staat auf den Plan gerufen und ihn auf seinen Gründungsmoment zurückgeworfen, den Primat der Sicherheit.

Hier in Israel waren die Menschen solches immer schon gewohnt. Sicherheit ist ja im Hebräischen auch ein sakral aufgeladenes Wort. «Bitachon» bedeutet «Sicherheit» im modernen Sinn, gleichzeitig aber auch das biblische Gottvertrauen. Es gibt in Israel keinen Verteidigungsminister, sondern einen «Sicherheitsminister». Das Wort ist aus dem religiösen in den säkularen Bereich übernommen worden. Gottvertrauen hat man auch, wenn man keinen Staat hat, dem man vertrauen kann.

Liberale Demokratien waren auch Reaktionen auf traumatische Erfahrungen ihres Gegenteils. Es kamen Politik und Psychologie zusammen, um das Verhältnis zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem Sicherheitsbedürfnis vieler auszuhandeln. Dieser Gesellschaftsvertrag zwischen Souverän und Individuum scheint nun zur Debatte zu stehen.

Prekäres Kalkül

Was bleibt am Ende? Langsam, aber jeden Tag mehr beginnt man das Risiko zusätzlicher Todesfälle gegen die Folgen eines wirtschaftlichen Crashs abzuwägen. Ethiker werden bei dieser Frage ernsthaft zu Rate gezogen. Mir fällt da nur Hannah Arendts kleiner Artikel im New Yorker «Aufbau» aus dem Jahre 1942 ein. «Die Ausrottung der Juden» heisst er, es waren ihre ersten Gedanken zu diesem Thema. Ist es Zufall, dass der erste Corona-Tote in Israel ein 88-jähriger Holocaustüberlebender war?

Arendt wollte schon immer das jüdische Schicksal als eine Art Vorhut desjenigen der Menschheit sehen. So schrieb sie 1942:

«Es war einmal eine glückliche Zeit, als Menschen frei wählen konnten: Lieber tot als Sklav’, lieber stehend sterben als auf den Knien leben. Und es war einmal eine verruchte Zeit, als schwachsinnig gewordene Intellektuelle erklärten, das Leben sei der Güter höchstes. Gekommen ist heute die furchtbare Zeit, in der jeden Tag bewiesen wird, dass der Tod seine Schreckensherrschaft genau dann beginnt, wenn das Leben das höchste Gut geworden ist (. . .) Wir Lebenden haben zu lernen, dass man auf den Knien noch nicht einmal leben kann, dass man nicht unsterblich wird, wenn man dem Leben nachjagt, und dass, wenn man für nichts mehr sterben will, man stirbt, obwohl man nichts getan hat. Keine Messe wird man singen, keinen Kaddisch wird man sagen.»

Natan Sznaider ist Soziologieprofessor am Academic College of Tel Aviv-Yaffo – School of Behavioral Sciences und (mit Christian Heilbronn und Doron Rabinovici) Mitherausgeber des Sammelbandes: «Neuer Antisemitismus. Fortsetzung einer globalen Debatte», Suhrkamp-Verlag, 2019. Seine Gastprofessur an der Universität Zürich setzt er nun im Fernunterricht von Tel Aviv aus fort.