Gastkommentar

Der Corona-Moment: Wenn der Staat erstarkt, so ist dies keineswegs ein Übel

Die Welt steckt voller Bedrohungen, und nur der Nationalstaat vermag ihnen wirksam zu begegnen und die Freiheit zu verteidigen. Das Loblied auf die schrankenlose Globalisierung, das dreissig Jahre lang erklang, wirkt im Nachhinein ziemlich blauäugig.

Russell Berman
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Freiheit vermag allein der moderne Nationalstaat zu bieten: Blick auf die Freiheitsstatue in New York (20. März 2020).

Freiheit vermag allein der moderne Nationalstaat zu bieten: Blick auf die Freiheitsstatue in New York (20. März 2020).

Justin Lane / EPA

Früher einmal glaubte man an das Verschwinden des Staats. Es war ein Märchen, das sich Marxisten vor dem Schlafengehen erzählten, und es war auch die Lebenslüge der Kommunisten, nachdem sie die Staatsmacht erobert hatten. Denn während sie ihren Polizeiapparat und ihren Archipel der Gulags ausbauten, versprachen sie immer noch, dass der Staat schliesslich eines Tages verschwinden werde.

Auf eine Weise hatten sie recht, weil der Kommunismus zu Ende ging und mit ihm die kommunistischen Staaten. Doch der Tod jener Systeme spricht gewiss nicht für den Tod von Staatlichkeit an sich. Der Staat ist Ausdruck von Souveränität, und Souveränität ist die Fähigkeit nationaler Gemeinschaften, über ihr Schicksal zu entscheiden.

Solche Unabhängigkeit ist keineswegs veraltet, am wenigsten in den östlichen Ländern der Europäischen Union. Nach Jahrzehnten unter russischer Besetzung haben sie ihre Souveränität als Staaten zurückgewonnen. Und sie werden aus guten Gründen an ihr festhalten.

Die Welt vor und nach Corona

Auch im Kapitalismus gab es Begeisterung für die Phantasie vom Ende des Staats, vor allem in der libertären Gestalt einer Wirtschaft ohne politische Einschränkungen. Hier steigerte sich die Erzählung gegen Ende des Millenniums zur Vision eines Endes der Geschichte, die auf dem Gedanken beruhte, dass die epochalen Veränderungen von 1989 der Beginn eines ewigen Friedens im Sinn von Immanuel Kant gewesen seien.

Kapitalismus unter globalen Bedingungen sollte Grenzen aufheben und nationale Solidaritäten durch einen abstrakten Universalismus ersetzen. Reale Konflikte sollten zu einem Wettbewerb nach geordneten Regeln werden, und existenzielle Bedrohungen sollten sich in einem durch und durch freundlichen Kosmos auflösen. Hatte nicht das Ende des Kommunismus alle Feinde beseitigt und den Staat zu einem Auslaufmodell gemacht?

Eben diese Einstellung erklärt die intensive Abneigung der Idealisten gegenüber Formen des Populismus, wie er sich seit der weltweiten Finanzkrise von 2008 gezeigt hat. Noch heute hält eine öffentlich geachtete Meinung den Populismus für eine Verirrung und setzt darauf, dass die Wahlen der kommenden Jahre wieder in die als normal geltende Entwicklung hin zu immer schwächeren Nationalstaaten, immer stärkeren transnationalen Organisationen und damit zu einer Neutralisierung aller politischen Entscheidungen münden werden.

Und dann kam das Virus aus Wuhan, die globale Pandemie als ein Einschnitt, der das Ende der Globalisierung wie die Wiedererstarkung des Staats sichtbar macht – und zwar aus einer Reihe von deutlichen Gründen.

Die Hoheit über die eigenen Grenzen

Erstens erinnert uns das Virus – entgegen den marxistischen, kapitalistischen oder anarchistischen Träumen vom Verschwinden des Staats in einer freundlichen Welt – an die Tatsache, dass Gefahr nie aufhört. Der Staat ist das Instrument, mit dem eine politische Gemeinschaft auf immer neue existenzielle Bedrohungen antworten kann.

Im Vordergrund der Antworten auf die Pandemie stand, früher oder später (und je später, desto tragischer die Folgen), stets die Einsicht, dass der Staat auf seine Feinde reagieren muss. Die Verantwortung dafür fällt den Politikern zu, die ausschlaggebende Entscheidungen treffen müssen. Ohne sie und ohne den Staat wären wir hilflos (die Utopie, dass der Staat zu einem Ende kommen wird, ist also ein Ausdruck dessen, was Karl Heinz Bohrer einmal «den Willen zur Ohnmacht» genannt hat).

Als Donald Trump Einreisen aus China untersagte, nannten ihn seine Kritiker einen Rassisten. Als er Einreisen aus Europa beendete, klagten dieselben Kritiker, dass der Schritt verspätet sei, während ihm führende Vertreter der EU vorwarfen, die Massnahme nicht abgestimmt zu haben. Innerhalb einer Woche verhängte die EU dann ihrerseits Einreisesperren analog zu denen, die zu den Angriffen auf Trump geführt hatten – allerdings erst, nachdem führende Politiker einzelner Mitgliedsstaaten, wie der österreichische Kanzler Sebastian Kurz, ähnliche Entscheidungen getroffen hatten.

Es ist kein Zufall, dass nationale Führungsansprüche aus dem Bestehen auf der Kontrolle nationaler Grenzen hervorgehen: Ein Staat, der seine Grenzen nicht kontrollieren kann, ist ein gescheiterter Staat. Die Grenzschliessungen von 2020 sind der Widerruf der deutschen Grenzöffnungen von 2015.

Zweitens bringt das Wiederauftauchen des Staats das Ende der Globalisierung in einer anstehenden Reform der Weltwirtschaftsordnung mit sich. Der weit überschätzte freie Fluss des Kapitals öffnete die nationalen Wirtschaftssysteme für direkte Investitionen von aussen ebenso, wie er es in bestimmten Ländern entstandenen Unternehmen ermöglichte, ihre Produktion und ihre Investition von niedrigeren Lohnebenen angezogen nach Übersee zu verlagern.

Doch nicht alles, was glänzte, war Gold. Der Aufkauf europäischer Firmen durch chinesisches Kapital hat den heimischen Märkten geschadet und zu einem beschleunigten, beileibe nicht immer legalen Technologie-Transfer beigetragen, wie mitunter der Fall des deutschen Automatenherstellers Kuka beweist.

Westliche Länder haben begonnen, mit verschärfter nationaler Sicherheitskontrolle auf ausländische Investitionen zu reagieren. Es war nicht besonders weise, heimische Industrien an ausländische Investoren zu verkaufen, die nichtdemokratischen und feindlichen Systemen verpflichtet sind.

Mittlerweile gibt aber auch die Globalisierung von Lieferketten Anlass zur Besorgnis. Der grösste Teil der heute in den Vereinigten Staaten verbrauchten Arzneimittel, sogar Penicillin, wird in China hergestellt: Diese gefährliche Verletzlichkeit verdanken wir blauäugigen Befürwortern der Globalisierung. Glücklicherweise sind nun Bewegungen in Gang gekommen, die Lieferketten zusammen mit gedankenlos nach Übersee exportierten Arbeitsplätzen ins Land zurückzubringen. Ent-Globalisierung ist die Losung des Staats.

Das grosse Missverständnis: China

Drittens beruhte die Bereitschaft, Staatssouveränität im Namen der Globalisierung zu opfern, schon immer auf einem Missverständnis im Hinblick auf China. Der Westen hat sich wiederholt eingeredet, dass das kommunistische China auf dem Weg einer politischen Liberalisierung sei. Doch dazu ist es nie gekommen.

China ist eine Diktatur unter einer marxistisch-leninistischen Partei geblieben. Während des vergangenen halben Jahrhunderts der vermeintlichen Annäherung ist China nicht liberaler geworden, hat kein unabhängiges Rechtssystem eingerichtet und keine freien Wahlen mit verschiedenen Parteien stattfinden lassen. Leider ist die Achtung der Menschenrechte nie eine Bedingung für den Zugang Chinas zu den westlichen Wirtschaften gewesen.

Während sich die westlichen Staaten der Illusion des Postnationalismus hingaben – das beste Beispiel liefert die Europäische Union –, ist China als nichtliberaler Überwachungsstaat immer stärker geworden. So erklärt sich auch die Krise des Virus aus Wuhan.

Chinesische Behörden wussten schon vor Dezember von der Krankheit, doch sie entschieden, die Information zurückzuhalten und stattdessen die mutigen Beamten zu bestrafen, die versucht hatten, Alarm zu schlagen. Möglicherweise hätte sich die Ansteckung durch rasche Schritte zur Isolation in der Provinz Hubei blockieren lassen.

Stattdessen sind wir durch Verschulden der chinesischen Führung und ihrer Lügen mit einer Pandemie, zahllosen Toten und riesigen wirtschaftlichen Verlusten konfrontiert. Parteisekretär Xi sollte für dieses Leiden zur Verantwortung gezogen werden. Es gibt keinen Anlass, je wieder Statistiken aus China zu vertrauen, jedenfalls nicht, solange Peking dem chinesischen Volk Redefreiheit und Pressefreiheit verweigert.

Das Problem China hat freilich nicht nur mit der Herkunft des Virus und den prekären Konsequenzen der Globalisierung zu tun. Der Corona-Moment erinnert uns vor allem daran, dass es der eigentliche Zweck des Staats ist, auf alle Gefahren zu reagieren, die das Leben der politischen Gemeinschaft aufs Spiel setzen.

Die Familie der westlichen Demokratien – nicht allein der geografische Westen, sondern an der Peripherie des europäisch-asiatischen Kontinents auch Südkorea, Japan, Taiwan, Indien und Israel – ist mit den abgestimmten Versuchen Chinas und Russlands konfrontiert, die Weltordnung zu brechen. Natürlich stimmen chinesische und russische Interessen nicht immer überein, und sie stehen in komplizierten Beziehungen zu Nordkorea und Iran, die kaum Satellitenstaaten im Sinn des Kalten Krieges sind, aber letztlich doch Teil einer vielgestaltigen Herausforderung unserer Lebensformen.

Nicht nur weil das Virus aus China kam, sollten wir diese Bedrohungen ernst nehmen; vielmehr erinnert uns das Virus nachdrücklich daran, dass die Welt voller Bedrohungen steckt, ob sie nun epidemisch oder politisch, militärisch oder wirtschaftlich sind. Wer dem Ende des Staats das Wort redet, der wird erklären müssen, wer ausser dem Staat eine Invasion wie die auf der Krim oder im südchinesischen Ozean abwehren soll. Die Antwort heisst: niemand. Die Rede gegen den Staat ist eine Rede zugunsten von Kapitulation und Machtlosigkeit.

Solche Machtlosigkeit hat gewiss ihre Anziehungskraft. Sie entspricht einer Scheu vor Konflikten, die zur menschlichen Natur gehört und besonders unter Akademikern weit verbreitet ist. Doch unsere Fähigkeit, in – individuell oder kollektiv – selbstgeschaffenen Institutionen zu leben, die unseren Traditionen und Hoffnungen entsprechen, beruht auf dem Willen, eine Verteidigung gegen Bedrohungen von aussen zu errichten.

Das vorrangige Instrument zur Selbsterhaltung der politischen Gemeinschaft ist der Staat. Demokratisch legitimierte, staatliche Souveränität ist unsere beste Möglichkeit, Gegner auf Distanz zu halten. Wir verteidigen unsere Freiheit nicht durch globale Illusionen oder heimeligen Provinzialismus, sondern indem wir durch den Staat Macht ausüben. Diesen Einsatz für den Staat nennt man Patriotismus.

Russell A. Berman ist Senior Fellow der Hoover Institution und Walter A. Haas Professor in the Humanities an der Stanford University. Als Senior Advisor gehörte er früher dem Planungsstab des amerikanischen Aussenministeriums an.