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Christian Stöcker

Corona-Debatte Das hier ist kein Krieg

Christian Stöcker
Eine Kolumne von Christian Stöcker
Ökonomen, Politiker und Virologen bemühen ein ums andere Mal den Krieg als Metapher, Philosophen finden, wir sind zu weich, weil wir das Virus bekämpfen. Covid-19 lässt bei so manchem die Maßstäbe verrutschen.
Foto: Universal Pictures

Die erschütterndste Szene in Sam Mendes' Weltkriegs-Höllenritt "1917" ist die, in der Menschlichkeit mit dem Tode bestraft wird. Die zwei britischen Helden des Films beobachten darin, wie ein feindlicher deutscher Pilot mit seinem Propellerflugzeug abstürzt. Sie zerren den um sein Leben kreischenden Mann aus der brennenden Maschine. Einer will ihm etwas Wasser holen. Derweil rammt der Pilot dem zweiten seiner Retter ein Messer in den Bauch.

So ist der Krieg: Menschen werden bewaffnet und aufeinandergehetzt, um einander umzubringen. Wenn dabei jemand vorübergehend vergisst, dass die Regeln der Menschlichkeit gerade außer Kraft gesetzt sind, bezahlt er das womöglich mit dem Leben.

Von Krieg ist auch in diesen Tagen wieder viel die Rede. Frankreichs Präsident Emmanuel  Macron sagte in seiner Rede an die Nation Mitte März gleich sechsmal den Satz "Wir sind im Krieg". Donald Trump übernahm die Formulierung wortgleich, nachdem er dann doch irgendwann eingesehen hatte, dass man eine globale Pandemie nicht weglügen kann.

Die Bereitschaft, andere sterben zu lassen

Auch der Ökonom Hans-Werner Sinn begann einen Artikel  zum Thema mit dem Satz "Der Kampf gegen das Corona-Virus ist ein Krieg". Eine Virologin pflichtete in einer Talkshow fast wortgleich  bei.

Die Wortkoppelung "Corona-Krieg" liefert schon etwa 4000 Suchmaschinentreffer.

Umgekehrt entdecken auch diejenigen, die die Pandemie gern herunterspielen möchten, gerade ihre Begeisterung für ein bisschen neue Härte, sprich: die Bereitschaft, andere Leute sterben zu lassen. Der Philosoph Peter Sloterdijk zum Beispiel, der Europas Regierungen in einem Interview mit der französischen Zeitschrift "Le Point " erklärte, sie täten doch viel zu viel, in einer "mütterlichen" oder, je nach Übersetzungsvariante "bemutternden" Übertreibung.

Fakten geflissentlich ignoriert

Sloterdijk verwahrt sich zwar gegen Kriegsrhetorik, möchte Corona aber gern mit einer Pandemie vergleichen , die in Europa schon einmal etwa ein Drittel der Bevölkerung auf einen Schlag getötet hat: "Die Pest hat den Aufstieg Europas nicht verhindert, und das tausendmal harmlosere Coronavirus wird jenen Chinas nicht stoppen." Wie sein Kollege Giorgio Agamben  ist auch Sloterdijk der Auffassung, man habe es hier doch eher mit so einer Art Grippe zu tun. Alles halb so wild.

Beide reden auch darüber, dass die staatlichen Reaktionen auf Covid-19 totalitäre Züge hätten - und übersehen dabei geflissentlich, dass große Unternehmen schon lange vor den staatlichen Maßnahmen ganz freiwillig Flüge ihrer Mitarbeiter untersagt, Social Distancing und Homeoffice angeordnet hatten. Das Kapital scheint das Thema eher zu begreifen als so mancher europäische Intellektuelle.

Irgendwann sterben die Leute doch sowieso

Sloterdijk wird demnächst 73. Ob er diese neue Härte im Denken und Handeln auch dann noch gut fände, wenn ihm jemand auf der Intensivstation das Beatmungsgerät wegnimmt, weil im Zimmer nebenan gerade ein Jüngerer zu ersticken droht?

Bei Sandra Maischberger am vergangenen Mittwoch trug der Epidemiologe Stefan Willich noch einmal kühl vor, dass doch die meisten der vielen Tausend Toten in Italien entweder über 80 oder vorher schon krank oder beides gewesen seien.

So etwas gefällt all jenen, die finden, dass man doch der Wirtschaft zuliebe bald mal wieder Schluss machen müsse mit den Distanzierungsmaßnahmen. Irgendwann sterben die Leute doch sowieso. Und bei uns doch sowieso viel weniger als anderswo.

"Ja, im Moment!", möchte man da jedes Mal einwerfen und den Leuten noch ein weiteres Mal die Exponentialfunktion erklären.

Ist der Tod zu telegen?

Jakob Augstein gab in der gleichen Talkshow zu bedenken, dass sich all die Einsamen und Depressiven in ihrer häuslichen Isolation eben "schlechter bebildern" ließen als das Sterben auf Intensivstationen, und man doch schon deshalb langsam mal über eine Lockerung der Distanzierungsmaßnahmen nachdenken müsse. Als sei es ein unfairer medialer Vorteil des Todes, dass er den Leuten Angst macht.

In der Debatte über die Pandemie scheinen bei vielen ein bisschen die Maßstäbe dafür abhandengekommen zu sein, was unsere humanistisch begründeten liberalen Demokratien eigentlich ausmacht. Die Gesundheitssysteme der Industrienationen dienen allesamt dem gleichen, bislang nun wirklich unstrittigen Zweck: Sich der größten Zumutung des Menschseins, der Unausweichlichkeit des Todes, so lange und entschlossen wie möglich entgegenzustellen. Und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass das eben Unvermeidliche, wenn es dann irgendwann kommt, so erträglich und würdevoll wie möglich passiert.

Wie ist es mit Frühgeborenen? Oder Diabetikern?

Wer einmal selbst miterlebt hat, wie deutsche Palliativmediziner und -pflegekräfte um die Würde ihrer Patienten und um die Reduktion von Leid bis zuletzt kämpfen, weiß diese Entschlossenheit und Kompromisslosigkeit sehr zu schätzen und wünscht sie jedem. Ebenso wie viele Menschen Dienstleistungen wie Sauerstofflieferungen nach Hause zu schätzen wissen, die ihnen auch mit schweren Erkrankungen noch Monate oder Jahre selbstbestimmten Lebens erlauben.

Wenn wir anfangen, Menschen aufgrund ihrer medizinischen Situation für verzichtbar zu erklären, wo hören wir dann wieder damit auf? Würden wir auch Frühgeborene dem Wirtschaftswachstum opfern? Querschnittsgelähmte? Diabetiker? Leute mit Autoimmunerkrankungen?

Wir lassen Leute nicht einfach ersticken, das gilt gemeinhin als zivilisatorische Errungenschaft. Wenn aber zu viele Menschen mit schweren Symptomen auf den Intensivstationen landen, dann wird genau das passieren. So wie in Italien, China, den USA und anderswo. Wenn es noch mehr Patienten werden, dann werden auch Jüngere sterben, weil die Versorgung eben nicht für alle reicht.

Wären Sie doch letztes Jahr gestorben!

Mal probeweise eine Situation herbeizuführen, in der es dazu kommen könnte, wie es derzeit so mancher immer unverhohlener fordert, heißt letztlich eins: Die Bereitschaft zu erklären, diese gewaltige zivilisatorische Errungenschaft vorübergehend aufzugeben. Denn wenn man dann feststellt, dass die schweren Erkrankungen dann doch schneller zunehmen, als erhofft (und das ist wahrscheinlich), dann ist es zu spät. Dann kommt der Kollaps.

Sie müssen sterben? Das ist jetzt unglücklich, ist gerade Corona. Da werden sie jetzt leider unter Qualen zugrunde gehen müssen. Wären sie doch letztes Jahr gestorben! Da hatten wir noch jede Menge Beatmungsgeräte und Zeit für schwere Fälle wie Sie. Und einen gesellschaftlichen Konsens zum Thema Menschenwürde.

Es geht nicht um Mensch gegen Mensch

Eine Pandemie ist kein Krieg. Es geht nicht darum, einen Hügel zu erstürmen und von oben alle Feinde zu erschießen. Es geht nicht darum, einen Gegner mit überlegener Feuerkraft in die Knie zu zwingen. Es geht nicht um Mensch gegen Mensch, sondern um Mensch für Mensch.

Kriegsmetaphern sind völlig unangemessen, egal, ob zur Rechtfertigung von Maßnahmen gegen das Virus oder zu deren Verdammung. Der Kampf gegen eine Pandemie ist das Gegenteil von Krieg.

Es geht nicht um Tapferkeit. Es geht um Würde.