Die ältere Frau – ihr Name bleibt ungenannt – hätte nie gedacht, dass sie sich eines Tages eine Waffe kaufen würde. Wegen der Corona-Krise hat sie ihre Meinung jedoch geändert: "Ich bin alt und lebe allein", sagt die Dame aus Oregon dem US-Magazin New Yorker. Man wisse ja nicht, ob es zu Unruhen kommen werde. "Die Welt ist nicht mehr, was sie einmal war." In einem Waffenshop in Hood River, knapp 100 Kilometer von Portland entfernt, hat sie sich für eine halbautomatische Pistole entschieden. 30 Kugeln passen ins Magazin. Damit wolle sich die Frau vor Einbrechern schützen, steht im New Yorker. "Wenn in zwei Monaten in den Städten der Hunger um sich greift, werden sie kommen", sagt sie. Und kauft sich insgesamt 16 Schachteln Munition. Eine kurze Sicherheitsüberprüfung reicht, dann darf sie ihre Ware mitnehmen.  

Es ist in vielen Bundesstaaten der USA nicht besonders schwer, eine Pistole zu erwerben. Der zweite Verfassungszusatz schützt das Recht auf privaten Waffenbesitz schon seit Gründerzeiten. Privatpersonen horten zum Teil regelrechte Arsenale. Die National Rifle Association (NRA) gilt mit ihren mehr als fünf Millionen Mitgliedern als eine der einflussreichsten Lobby-Organisationen im Land und kämpft seit Jahrzehnten gegen strengere Gesetze. Laut einer Studie des Graduate Institute of International and Development Studies gibt es in den USA weit mehr Schusswaffen als Menschen. Auf 100 Einwohnerinnen und Einwohner kommen 120 Gewehre und Pistolen in Privatbesitz. Zum Vergleich: In Deutschland sind es weniger als 20.  

Doch seit die Corona-Pandemie die Vereinigten Staaten erreicht hat, sind die Zahlen der Waffenverkäufe noch einmal in die Höhe geschossen. Geschätzte 2,5 Millionen Waffen wurden dem FBI zufolge im März verkauft, knapp 85 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Die Polizeibehörde des Bundes erfasst zwar nicht die tatsächliche Menge der verkauften Waffen, wohl aber die Anzahl der Sicherheitsabfragen für Waffenkäufer. Branchenexperten sprechen von einem historischen Verkaufshoch. Händler berichten, dass überdurchschnittlich viele Käufer zum ersten Mal eine Pistole erwerben. In der Krise scheinen sich also auch Menschen zu bewaffnen, die sonst wohl eher auf den Revolver im Schlafzimmer verzichten würden.

"Die Menschen sind nervös"

Es dürfte vor allem das gestörte Sicherheitsgefühl vieler US-Amerikaner in Zeiten der Pandemie sein, die zu diesem Anstieg führt. "Die Menschen sind nervös und fürchten zivile Unruhen, wenn eine große Anzahl von Menschen krank ist und eine große Anzahl von Einrichtungen nicht normal funktioniert", sagt Timothy Lytton, Waffenexperte und Professor an der Georgia State University im Gespräch mit der New York Times. "Sie haben möglicherweise Angst, dass sie sich selbst schützen müssen, wenn die Staatsorgane zu erodieren beginnen."  

Und die NRA schürt die Ängste der Bevölkerung noch. In einem Onlinekampagnenvideo erklärt eine Frau mit Gewehr in der Hand: "Ich weiß aus der Geschichte, wie schnell die Gesellschaft während einer Krise zerbricht." In solchen Zeiten sei der zweite Verfassungszusatz wichtiger denn je. "Selbst Liberale in Kalifornien stehen Schlange vorm Waffenladen, weil sie wissen, dass die Regierung sie nicht wird schützen können." Die Botschaft der NRA ist einfach: Die Ordnungskräfte können keine ausreichende Sicherheit bieten, eine eigene Waffe könne das aber schon.  

Damit macht die Waffenlobby sich eine Stimmung zunutze, die in Teilen der Bevölkerung ohnehin weit verbreitet ist. Das Vertrauen in die Ordnungsbehörden ist in den vergangenen Jahren erheblich gesunken. Laut einer Befragung des Pew Research Centers glaubten Ende 2018 nur 37 Prozent der Bevölkerung, dass die Polizei die Menschen immer oder meistens vor Verbrechen schützen kann. Weitere 47 Prozent glaubten wenigstens, dass ihr das gelegentlich gelinge.  

Und nun kommt die Angst vor einem Corona-Notstand hinzu. Sie treibt längst nicht nur die Bevölkerung um, sondern auch Ladenbesitzer. In Manhattan und auch in Chicago haben viele Geschäfte ihre Schaufenster vernagelt – es sieht aus, als befürchteten die Inhaber Plünderungen.

Polizei vielerorts personell geschwächt

Das Unsicherheitsgefühl wird aktuell dadurch noch verstärkt, dass die Polizei wegen Corona-Infektionen in den eigenen Reihen vielerorts personell geschwächt ist. In New York City ist schon jetzt jeder sechste Beamte krank oder in Quarantäne. Das notorisch gewaltbelastete Detroit verzeichnet ebenfalls steigende Infektionszahlen bei Polizeibeamten. In anderen Großstädten schaut die Lage nicht besser aus.  

Die Angst vor einem Anstieg der Kriminalität steht jedoch bisher in krassem Gegensatz zu den Fallzahlen. Die 8,5-Millionen-Einwohner-Metropole New York meldete in den vergangenen Wochen einen Rückgang der Kriminalität. Es gab weniger Straftaten wie Mord, Einbruch und körperliche Angriffe. Auch Los Angeles meldet weniger Straftaten als in den Monaten zuvor.  

Besorgt sind insbesondere jene, die ohnehin schon immer für strengere Waffengesetzen in den USA eintraten. Die Organisation Moms Demand Action warnt, dass Waffen- und Munitionskäufe während der Corona-Krise ein größeres Risiko für bestimmte Bevölkerungsgruppen darstellten. Das gelte insbesondere "für die Millionen von Kindern, die nun mit ungesicherten Waffen im Haus leben, Frauen, die Schutz vor Missbrauch suchen, und alle, die wirtschaftliche und psychische Probleme haben".  

In den liberalen Küstenstaaten versucht man offenbar, die ausufernden Waffenkäufe einzudämmen. New York hat Waffengeschäfte in die Liste der Einzelhandelsbranchen aufgenommen, die während der Corona-Krise nicht mehr öffnen dürfen. Die NRA hat den Empire State deshalb verklagt. In einigen Landkreisen in Kalifornien bleiben die Waffengeschäfte allerdings ebenfalls geschlossen. Dort dürften nun ein paar Waffen weniger in Umlauf kommen. Am Gesamtbild der Waffennation USA wird das allerdings kaum etwas ändern. Im gesamten Land gab es allein 2018 über 393 Millionen Waffen in Privatbesitz.