Der Muslim als «Superspreader»: Indiens religiöse Spannungen werden von der Corona-Krise verschärft

Das Treffen einer muslimischen Gemeinschaft hat die Verbreitung des Virus in Indien beschleunigt. Religiöse Hetzer wittern eine Chance.

Samuel Misteli
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Ein verhängnisvolles Treffen: Rund 1800 Mitglieder der Missionsbewegung Tablighi Jamaat wurden Ende März in Quarantäne gebracht.

Ein verhängnisvolles Treffen: Rund 1800 Mitglieder der Missionsbewegung Tablighi Jamaat wurden Ende März in Quarantäne gebracht.

Yawar Nazir / Getty

Tausende von Laienpredigern reisten Anfang März in die indische Hauptstadt Delhi. Sie kamen aus mehreren Ländern und halb Indien. Sie versammelten sich im Hauptquartier der Tablighi Jamaat, einer islamischen Missionsbewegung mit weltweit 80 Millionen Mitgliedern. Sie assen zusammen, beteten, besprachen ihre Arbeit. Als sie abreisten, trugen Hunderte von ihnen das Coronavirus in sich.

Das mehrwöchige Treffen ist Indiens erster «Superspreader»-Vorfall. Am Freitag liess sich fast ein Fünftel der 2500 bis dahin bekannten Corona-Infektionen im Land auf die Versammlung zurückführen. Die Behörden in vielen Teilstaaten versuchen fieberhaft, weitere Teilnehmer aufzuspüren. In Delhi wurde das Hauptquartier der Tablighi Jamaat versiegelt, die umliegenden Strassen wurden abgeriegelt.

Unterdessen hat der Vorfall die Hetzer auf den Plan gerufen, die die 200 Millionen indischen Muslime für alles verantwortlich machen, was im Land schiefläuft. Auf Twitter verbreiteten sich Hashtags wie #CoronaJihad oder #MuslimVirus. Ein bekannter rechtsnationalistischer Fernsehmoderator schäumte: «Diese Lockdown-Betrüger haben uns alle gefährdet. Wir waren am Gewinnen, da taten sie alles, um uns zu besiegen.»

Auch Politiker der Hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP stimmten ein. Ein führender Vertreter twitterte über einen «islamischen Aufstand», der in Indien stattfinde. Ein Parlamentsabgeordneter forderte, die Tablighi Jamaat wegen Aufruhrs strafrechtlich zu verfolgen.

Teilnehmer aus Malaysia, Indonesien, Bangladesh

So spiegeln sich in der Corona-Krise die üblichen Konfliktlinien Indiens. Erst vor wenigen Wochen hatte Delhi die schwersten religiös motivierten Ausschreitungen seit Jahrzehnten erlebt. Über 50 Personen wurden getötet, die meisten von ihnen waren Muslime. Zuvor hatten Zehntausende Inderinnen und Inder während Wochen gegen ein neues Bürgerrechtsgesetz demonstriert, das Muslime benachteiligt.

Indien weist im internationalen Vergleich bis anhin eine geringe Zahl von Covid-19-Fällen aus. Am Sonntag waren es 3600. Experten fürchten aber, dass dem 1,3-Milliarden-Einwohner-Land eine Katastrophe droht, wenn die Zahl der Infektionen hochschnellt. Premierminister Narendra Modi hat deshalb am 24. März eine Ausgangssperre angeordnet, die drei Wochen dauern soll. Nach dem Lockdown waren die Schlagzeilen im Land davon bestimmt, dass sich Hunderttausende von Wanderarbeitern aufs Land zu retten versuchten, wo sie eher über ein soziales Netz verfügen. Viele von ihnen waren zu Fuss unterwegs.

In den vergangenen Tagen hat sich die Aufmerksamkeit auf das Treffen der Tablighi Jamaat verlagert. Dieses hatte bereits Anfang März begonnen, als sich die Missionare im Hauptquartier versammelten. Das Gebäude, das in einem dicht bebauten Viertel Delhis liegt, verfügt über eine Moschee und Schlafsäle, in denen bis zu 5000 Personen Platz finden.

Am 13. März verboten die Behörden in Delhi alle Veranstaltungen mit mehr als 200 Teilnehmern. Die Organisatoren des religiösen Treffens sagen, sie hätten die Zusammenkunft danach abgebrochen. Über 2000 Mitglieder der Gemeinschaft blieben aber in Delhi stecken, weil der gesamte Fernverkehr eingestellt wurde. Erst vergangene Woche wurden die Gestrandeten aus dem Zentrum evakuiert, 1800 von ihnen befinden sich in Quarantäne.

Die Behörden glauben, das Virus sei von ausländischen Teilnehmern des Treffens eingeschleppt worden. Teilnehmer reisten unter anderem aus Indonesien, Malaysia und Bangladesh an. Die Polizei in Delhi hat Anklage gegen sieben führende Mitglieder der Tablighi Jamaat erhoben, weil sie behördliche Anweisungen missachtet haben sollen.

Ein Tablighi-Jamaat-Mitglied auf dem Weg zu dem Bus, der es in ein Quarantänezentrum bringt.

Ein Tablighi-Jamaat-Mitglied auf dem Weg zu dem Bus, der es in ein Quarantänezentrum bringt.

Yawar Nazir / Getty

40 000 Sikhs in Quarantäne

Während antimuslimische Kommentare im Internet die Runde machten, wiesen andere Stimmen darauf hin, dass nicht nur Muslime leichtfertig mit der Virengefahr umgegangen waren. So nahm der Regierungschef von Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichsten indischen Teilstaat, am Tag nach Beginn des Lockdowns an einer hinduistischen Zeremonie teil. Im Teilstaat Punjab wurden 40 000 Personen in Quarantäne gesetzt, nachdem ein Covid-19-Ausbruch auf einen Sikh-Priester zurückgeführt worden war. Der Priester war kurz zuvor aus Italien zurückgekehrt.

Religiöse Versammlungen haben an mehreren Orten in Asien zur Verbreitung des Coronavirus beigetragen. In Südkorea etwa infizierten sich über die Hälfte der rund 10 000 Betroffenen im Land bei Massenveranstaltungen christlicher Sekten.

Auch die Tablighi Jamaat wird für Fälle ausserhalb Indiens verantwortlich gemacht. In Malaysia sollen zwei Drittel aller Infektionen mit einem Treffen von 16 000 Anhängern in Verbindung stehen. Und in Pakistan soll die Zahl der Infektionen wegen einer Zusammenkunft von 150 000 Gläubigen in Lahore in die Höhe geschnellt sein.