Wilhelm Heitmeyer, 74, ist einer der bedeutendsten deutschen Soziologen. Er war Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld von 1996 bis 2013. Unter seiner Federführung entstand die Reihe "Deutsche Zustände", die von 2002 bis 2011 jährlich den Stand der Diskriminierung gegenüber Juden, Muslimen, Nichtweißen, Homosexuellen, Obdachlosen und anderen Gruppen untersuchte. Heitmeyer entwickelte den Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und gab der Öffentlichkeit damit ein wichtiges Erkenntnisinstrument in die Hand. Er arbeitet heute als Forschungsprofessor. Sein aktuelles Buch ist "Autoritäre Versuchungen". Im Herbst erscheint "Rechte Bedrohungsallianzen" bei Suhrkamp.

ZEIT ONLINE: Herr Heitmeyer, wie geht es Ihnen?

Wilhelm Heitmeyer: Ich bin zu Hause. Im Institut sind alle im Homeoffice. Mensen, Cafeteria und so weiter, das ist alles weitgehend dicht. Man kann bestenfalls seine Post abholen, und das war's.

ZEIT ONLINE: Sie wirken recht unbeeindruckt.

Heitmeyer: Naja, das sieht nur so aus. Außerdem bin ich privilegiert. Wir wohnen in einem Randbezirk von Bielefeld in einem Haus mit einem großen Garten in einem Waldgrundstück. Da kann man es schon aushalten.

Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer © Nele Heitmeyer


ZEIT ONLINE: Dabei heißt es immer, diese Krise sei eine, die alle gesellschaftlichen Gruppen betrifft.

Heitmeyer: Ja und nein. Eine Krise im soziologischen Sinne zeichnet sich dadurch aus, dass erstens die normalen Routinen nicht mehr funktionieren und zweitens die Zustände vor dem Eintritt der Ereignisse nicht wieder herstellbar sind. Ein solches Ereignis erzeugt massive Kontrollverluste.

ZEIT ONLINE: Was auf Corona zweifellos zutrifft.

Heitmeyer: Ja. Corona ist sogar eine besondere Krise, sie macht nicht Halt vor sozialen Klassen. Es gab vor Corona auch schon 9/11, Hartz IV, die Finanzkrise, die Ankunft der Geflüchteten, die aber jeweils für ganz unterschiedliche Milieus verunsichernd wirkten und in ihren Auswirkungen zeitlich begrenzt waren. Und doch gibt es auch in der Bewältigung dieser Pandemie schon jetzt massive Klassenunterschiede. Wir in unserem Haus am Wald erleben eine völlig andere Realität als eine Familie, die zum Beispiel in Berlin-Marzahn oder in Köln-Chorweiler mit drei Kindern in beengten Verhältnissen wohnt. Die soziale Ungleichheit wirkt sich massiv aus, ja, soziale Ungleichheit zerstört Gesellschaften.

ZEIT ONLINE: Was erwarten Sie von der Nach-Corona-Zeit?

Heitmeyer: Corona ist ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit. Da sind einerseits die psychischen Beschädigungen, die das Virus hinterlässt und die erst nach der Aufhebung der Kontaktbeschränkungen sichtbar sein werden. Und es sieht so aus, als würde eine tiefreichende wirtschaftliche Rezession mit weitreichender Arbeitslosigkeit auf uns zukommen. Die Folgen dürften soziale Desintegrationen und Statusverluste sein, also weitere Kontrollverluste.

ZEIT ONLINE: Auf welche Reaktionen der Menschen müssen wir uns einstellen?

Heitmeyer: Über die gegenwärtigen Verarbeitungsformen wissen wir noch zu wenig. Aus bisheriger Forschung kennen wir einige Formen. Im Negativen sind Vertrauensentzug gegenüber der Politik oder die Einforderung von Etabliertenvorrechten möglich, nach dem Motto: Wir zuerst! Dann ist es nicht weit bis zum "Deutsche zuerst". Herr Höcke von der AfD hat ja schon vor längerer Zeit von großen Remigrationsprojekten gesprochen, die mit "wohltemperierter Grausamkeit" vorangetrieben werden sollen. Denkbar ist auch die Immunisierung nach der Art eines "Weiter so", ohne dass man sich um die sozialen Folgen kümmert. Und es gibt natürlich quer über die Milieus Schuldverschiebungen, wie sie in Verschwörungstheorien erzählt werden.

Man muss abwarten, welche Fantasien jetzt in Gang gesetzt werden

ZEIT ONLINE: Kommt jetzt deren große Zeit?

Heitmeyer: Es gibt jedenfalls einen Zusammenhang zwischen Kontrollverlust und der Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Und da die Kontrollverluste dieser Tage nun wirklich breit gestreut sind, dürften sie größere Reichweite bekommen. Die Frage ist: Welchen sichtbaren Gruppen schiebt man die Schuld zu, wo der Virus doch unsichtbar ist? Man muss abwarten, welche Fantasien jetzt in Gang gesetzt werden. Im rechtsextremen Milieu ist schon einiges unterwegs.

ZEIT ONLINE: Gibt es auch ermutigende Prozesse? Was ist mit den vielen Menschen, die gerade zum Beispiel Älteren helfen?

Heitmeyer: Auch das gehört zu den möglichen Verarbeitungsformen. Es ist ja jetzt auch eine spannende Frage, ob und wie sich möglicherweise eine neue gesellschaftliche Solidarität entwickelt – oder eben auch nicht.