Historiker Malte Thießen: „Seuchen verschärfen Ungleichheit“

Ein Blick in die Geschichte der Epidemien zeigt, wie wichtig internationale Koordination ist, doch anlässlich von Corona erleben wir Isolationismus.

Rot-Kreuz-Frauen mit Atemschutzmasken während der Spanischen Grippe 1918 in St. Luis (Missouri). Sie tragen Bahren und hitner ihnen stehenHolzwagen zum Abtransport

Rot-Kreuz-Frauen mit Atemschutzmasken während der Spanischen Grippe 1918 in St. Luis (Missouri) Foto: www.imago-images.de

taz am Wochenende: Herr Thießen, steht die Coronakrise in einer Reihe mit den großen Seuchen der Geschichte?

Malte Thießen: Jein. Seuchen sind unser ständiger Begleiter, das lehrt die Seuchengeschichte. Auch wenn wir denken, Seuchen seien in eine düstere Vorzeit abgewandert wie die Pest im Mittelalter. Wir vergessen, dass sie auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch sehr präsent waren. In den 50er und 60er Jahren meinte der Begriff der Kinderkrankheiten keine Verniedlichung. Sondern er hat gezeigt, dass die Todeszahlen der Jüngsten sehr hoch waren.

Viele waren überrascht, dass uns eine solche Pandemie treffen kann. Warum?

Wir leben im Zeitalter der Immunität. Seit den 70er und 80er Jahren gibt es Impfungen und Therapeutika für alles, was früher ein Problem war. Wenn das einmal nicht so ist, wie es zunächst bei HIV der Fall war, ist die Angst schnell sehr groß.

In den vergangenen Wochen wurde oft auf die Spanische Grippe Bezug genommen, an der zwischen 1918 und 1920 weltweit bis zu 50 Millionen Menschen gestorben sind. Sind solche Vergleiche sinnvoll?

Vergleiche helfen bei der Einordnung, aber Gleichsetzungen sind gefährlich. Der Kontext bei der Spanischen Grippe war ein komplett anderer als heute, auch weil sie am Ende des Ersten Weltkrieges auftrat. Sinnvoller scheint mir, sich neuere Seuchen anschauen – Diphtherie oder die Hongkong-Grippe 1968 bis 1970, die in der Bundesrepublik bis zu 40.000 Menschen das Leben kostete.

Was kann man davon lernen?

Malte Thießen

46, ist Professor für Geschichte und leitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster. Einer seiner Schwerpunkte ist die Geschichte der Gesundheit, der Gesundheitsvorsorge und des Impfens.

Wie wichtig globale Koordination ist. Aber wir sehen derzeit das Gegenteil: Isolationalismus, selbst in Europa werden Grenzen hochgezogen. Das ist falsch. Seuchen agieren immer global – und müssen global bekämpft werden. Das erfolgreichste Beispiel sind dafür die Pocken, eine hochansteckende Krankheit, die auch in den 50er und 60er Jahren in Deutschland immer wieder aufgetreten ist. In den 70er Jahren, mitten im Kalten Krieg, ist es gelungen, sie weltweit auszurotten. Mit Hilfe der WHO und eines koordinierten globalen Impfprogramms. Dahinter fallen wir jetzt zurück.

Woran liegt das?

Seuchen sind meist nicht der Auslöser politischer oder sozialer Krisen, sondern ihr Verstärker oder Katalysator. Isolationismus sehen wir schon eine Weile – nicht nur bei US-Präsident Trump, sondern auch in Europa. Das wird jetzt verstärkt. Das hat auch damit zu tun, dass Seuchen erst mal als das Fremde gesehen werden, Sozialwissenschaftler nennen das „Othering“. Auch Corona war zunächst etwas „Chinesisches“, der Spiegel etwa hat „Made in China“ getitelt. Dieses Phänomen sieht man in der Geschichte oft. Durch „Othering“ scheint nationale Abschottung das Mittel der Wahl zu sein.

Abgeschottet wird ja auch im Land, durch Isolation und Quarantäne. Hat sich das historisch als hilfreich erwiesen?

Ja, als 1972 zum letzten Mal die Pocken in Hannover eingeschleppt wurden oder bei der Pest im 14./15. Jahrhundert zum Beispiel. Da wurden in Italien ganze Städte und Landstriche abgeriegelt – und das half zum Teil auch. Aber es funktioniert nie umfassend. In Italien sollten Händler damals ihre Waren vor der Stadtgrenze ablegen, aber aus Sorgen um ihr Geld haben sie sich nicht daran gehalten. Und es gibt immer Blockadebrecher, zum Beispiel die Wohlhabenden in den Städten, die sich aufs Land zurückziehen. In einer globalisierten Welt spiegeln Isolation und Quarantäne den Wunsch nach Kon­trol­le, diese ist aber letztlich eine Illusion. Aufklärung ist das bessere Mittel.

Auch historisch betrachtet?

Es gab immer wieder Versuche, die Seuche zu regieren. Michel Foucault hat ganz richtig behauptet, dass Seuchen nicht nur Albtraum, sondern eben auch ein Traum der Regierenden sind, weil man dadurch Gesellschaften disziplinieren kann.

Welche historischen Beispiele gibt es dafür?

Bei der Pest im 16./17. Jahrhundert wurden in Europa Menschen isoliert und ihrem eigenen Schicksal überlassen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten Geschlechtskrankheiten dazu, dass Prostituierte weggesperrt wurden. Und bei Aids wurde auch hierzulande in den 70er und 80er Jahren über Internierung von HIV-Infizierten diskutiert. Der Wunsch nach autoritären Maßnahmen ist leider nicht von gestern.

Wie groß ist aus historischer Perspektive die Gefahr, dass Seuchenbekämpfung politisch missbraucht wird, wie derzeit zum Beispiel in Ungarn?

Seuchen werden gern zur Mobilisierung genutzt – zum Beispiel bei der Einwanderungs- und Nationalitätenpolitik. In den 2000er Jahren wurde in den USA bei der Grenzziehung zu Mexiko noch mit Seuchen argumentiert, nach dem Motto: Die schleppen uns Tuberkulose ein. Besonders schlimme Beispiele stammen aus dem „Dritten Reich“, gibt es aber auch in der Weimarer Republik und im deutschen Kaiserreich. Pocken und Fleckfieber wurden häufig mit Osteuropäern oder eben mit Juden assoziiert. Grenzziehung, Gettobildung werden mit Seuchenangst begründet. So werden Räume neu geordnet.

Heute wird der gesundheitlichen Schutz mit dem Eingriff in die Bürgerrechte abgewogen. Ist das eine neue Entwicklung?

Es gab durchaus solche Diskussionen – zum Beispiel bei der Einführung der Impfpflicht gegen Pocken 1870, die erste für ganz Deutschland. Da wurde diskutiert, ob der Staat eine solche Pflicht verhängen darf. Auch damals gab es schon die Position, dass der Staat auf Aufklärung setzen sollte, weil das effektiver und Pflicht oft kontraproduktiv ist.

Inwiefern?

Die Diskussion über eine Melderegister für Aidsinfizierte hat zum Beispiel dazu geführt, dass Betroffene versuchten, ihre Krankheit zu verstecken und Beratungsstellen nicht aufgesucht haben. Das war kontraproduktiv: Das Virus verbreitete sich weiter. Hinzu kommt, dass Menschen Maßnahmen eher mitmachen, wenn sie beteiligt werden. Diesen Lerneffekt gibt es auch ausgerechnet während des Nationalsozialismus. In den 30er Jahren gab es eine große Diphtheriewelle, 10.000, 15.000 tote Kinder jedes Jahr. Statt für eine Impfpflicht entschied man sich für Aufklärung und einen niedrig­schwelligem Zugang zur Impfung. Ende der 30er Jahre lag die Impfquote dann bei bis zu 98 Prozent.

Als Corona in Deutschland ankam, hieß es: Es kann uns alle treffen. Wo bleibt da die soziale Dimension?

Seuchen sind die sozialsten Krankheiten überhaupt. Sie verschärfen soziale Ungleichheit, das zieht sich historisch durch. Reiche können sich Maßnahmen entziehen; schlechte Lebensbedingungen verschärfen Krankheiten; die Möglichkeit, sich zu isolieren, setzt Raum voraus, den viele nicht haben. Auch der Zugang zu Informationen ist unterschiedlich.

Sie sagen: Seuchen sind ein Stresstest für die Gesellschaft.

Ja, Seuchen sind ein Verstärker von Ängsten, aber auch von Hoffnungen, entsprechende Verhaltensweisen werden sichtbarer und spitzen sich zu. Denken Sie an die Hamsterkäufe oder auch die Ausgrenzung, die man beobachten kann. Das soziale Verhalten reproduziert sich. Wir sehen es und richten unser eigenes Verhalten danach aus. Das führt zu einer enormen Verstärkung.

Wie bei diesen merkwürdigen Hamsterkäufen von Klopapier...

Eine self-fulfilling prophecy. Gilt aber leider auch für Ausgrenzung. Bei HIV zum Beispiel war die Angst vor Homosexuellen groß, bei Corona wurden anfangs asiatisch aussehenden Menschen rigide angegangen. Das ist homophob und rassistisch, und es ist auch eine Reproduktion sozialen Verhaltens. Hinzu kommt der Stresstest für den Sozialstaat und das Gesundheitswesen.

Dennoch versuchen auch viele, der Krise etwas Positives abzugewinnen.

Menschen versuchen, sich Dinge zu erklären, deshalb wird schon immer nach dem Sinn von Seuchen gesucht – und auch nach möglichen Gegenmaßnahmen. 1892 bei der Cholera-Epidemie in Hamburg wurde noch diskutiert, ob Seuchen aus der Luft, aus dem Boden oder von Menschen kommen – oder ob es am unmoralischen Lebenswandel liegt. Religiöse Erklärungsmuster haben natürlich auch stets Konjunktur.

Die Seuche etwa als Strafe Gottes.

Genau, für unmoralisches Verhalten – das wurde mancherorts ja sogar noch bei HIV in den 80er Jahren diskutiert. Man will das Fremde, das Bedrohliche erklären.

Sehen Sie bei den Erklärungen lange Linien?

Drei Erklärungsmuster findet man immer wieder. Eines ist die Globalisierung, und da ist ja auch was dran. Globale Wirtschafts-, Handels-, aber auch Touristenströme sind ein wesentlicher Faktor für die Ausbreitung. Die Auswüchse der Globalisierung stehen in der Kritik. Das zweite ist das sogenannte Outbreak-Motiv...

... nach dem bekannten Film aus den 90ern mit Dustin Hoffmann.

Da schlägt die Natur zurück. Auch da ist was dran, wenn man an die heutige Tierzucht denkt. Das dritte ist die Verschwörungstheorie. Die im Labor gezüchtete Seuche, die bestimmte Bevölkerungsgruppen schwächen soll, die zur Kriegsführung oder in der Wirtschaftskonkurrenz eingesetzt werden soll oder Teil einer Weltverschwörung ist. Alles drei Muster, die man lange zurückverfolgen kann.

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