Die Ausnahmesituation muss eine Ausnahme bleiben: warum die Demokratie den öffentlichen Raum braucht

Seit Wochen herrscht in Europa eine Ausnahmesituation. Das ist gut begründet und sinnvoll. Aber es darf nicht zur Normalität werden. Der Schaden für das Projekt Demokratie wäre eminent.

Christine Abbt
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Leere Strassen, leere Einkaufszentren: Der öffentliche Raum lässt uns die Welt als eine uns gemeinsame erfahren. Aber nur, wenn er Begegnung und Austausch erlaubt.

Leere Strassen, leere Einkaufszentren: Der öffentliche Raum lässt uns die Welt als eine uns gemeinsame erfahren. Aber nur, wenn er Begegnung und Austausch erlaubt.

Michael Kristen / Imago

Wo staatlich der Notstand erklärt wird, ersetzen neue Erlasse die bewährten alten Gesetze. Die Staatsgewalt konkretisiert ihre Macht und ihr Ziel: Zum Schutz der Bevölkerung muss und darf sie walten. Das ist auch in Demokratien der Fall. Hier allerdings geht der Notstand unweigerlich mit einer Einschränkung demokratischer Möglichkeiten und Mittel einher.

Das ist heute überall zu beobachten. Parlamente können vorübergehend nicht tagen oder werden ganz entmachtet. Abstimmungen werden verschoben, Grundrechte ausser Kraft gesetzt. Aus demokratischer Sicht ist es zentral, dass die Notsituation konsequent als Ausnahme begriffen wird. Der verordnete Rückzug in die eigenen vier Wände, die Aufhebung des Versammlungsrechts oder die Überwachung der sozialen Beziehungen und die starke Ausdehnung der Grenzen der Wirksamkeit des Staates sind nur unter dieser Perspektive vertretbar.

Die Ausnahmesituation

Ausnahmesituationen sind nicht zu vergleichen mit dem, was vorher war, oder mit dem, was darauf folgt. Sie sind zeitlich begrenzt und wirken weder modifizierend auf die früher wirksamen Gesetze und Regeln, noch stellen sie diese grundsätzlich infrage. Sie geben auch keine Antworten auf die Frage, wie es danach weitergehen soll. Die Denkfigur der Ausnahme führt zu Missverständnissen, wenn übersehen wird, dass eine Ausnahme die Regel nicht aufhebt, sondern im Gegenteil ihre Gültigkeit unterstreicht.

Aus demokratischer Sicht ist es wichtig, die gegenwärtige Notsituation als politische Ausnahme zu verstehen, aus der keine autoritär verordnete Modifikation der politischen und gesellschaftlichen Kultur und Lebensweise folgt. Das betrifft nicht nur die Direktiven der Staatsgewalt. Auch die Hoffnungen auf eine kollektive Läuterung, die manche in die Krise setzen, sind aus dieser Perspektive verfehlt.

Es mag ja durchaus sinnvoll sein, die Zeit mit der Lektüre von Klassikern zu verbringen. Auch die Besinnung auf das Wesentliche statt auf den Konsum, die neue Freude an Herd und Heim oder der sich abzeichnende Digitalisierungsschub mögen einige erfreuen. Ob diese Veränderungen allerdings nach der Krise weiterhin Bestand haben sollen, ist eine Frage, die es demokratisch zu beantworten gilt, und zwar unter der Bedingung der Freiheit.

Der Wunsch nach Freiheit

Ob jemand lieber zu Hause kocht, liest und mit Freunden chattet oder mit Zug oder Flugzeug die Welt erkundet, sich in der Natur bewegt und sich zusammen mit anderen beim Tanzen zerstreut – das soll in Freiheit debattiert und entschieden werden. Die gegenwärtige Notsituation ist eine Notsituation. Sie positiv aufzuladen und daraus erstrebenswerte Modifikationen für das Leben in der Zukunft nach der Pandemie abzuleiten, mag manche emotional über die Krise hinwegtrösten, politisch zukunftsträchtig ist es nicht.

Nichts spricht dagegen, die Erfahrungen, die heute gemacht werden, ebenso ernst zu nehmen wie frühere Erfahrungen und sie auf positive und negative Aspekte hin zu analysieren. Es ist sinnvoll und wichtig, aus Erfahrungen zu lernen. Doch das darf auf keinen Fall heissen, die Ausnahmesituation sukzessiv in einen Normalzustand zu überführen oder sich den Ausnahmezustand für immer zu wünschen.

Auf einen vergleichbaren Fall noch besser vorbereitet zu sein, heisst nicht, den Unterschied zwischen Ausnahme und Normalfall zu nivellieren. Die gegenwärtigen Ereignisse werden das kollektive Gedächtnis prägen, und die Folgen daraus werden uns alle noch lange beschäftigen. Doch man darf dabei nicht vergessen, dass die Krise vorübergehen wird und dass wir mit aller Kraft wieder aus der Lage herauswollen, in die sie uns gebracht hat.

Wir wollen sinnvollerweise in einen Normalzustand hinein mit Bewegungs- und Versammlungsfreiheit im öffentlichen Raum, mit einem regen gesellschaftlichen Leben in einer offenen, lebendigen, vielfältigen und kontroversen Gesellschaft mit Grenzen, die wieder passierbar sind. Dieser Wunsch stärkt die Grundpfeiler der Demokratie. Abschwächungen wären der Verwirklichung der Ideale von Freiheit und Gleichheit aller nicht zuträglich.

Der Verlust des öffentlichen Raums

Dass der öffentliche Raum gegenwärtig stark eingeschränkt und teilweise aufgehoben ist, stellt für Demokratien eine besondere Herausforderung dar. Denn das Projekt Demokratie war und ist mit der Idee des öffentlichen Raumes für alle eng verbunden. In der Antike waren das Forum und das Theater als begeh- und besetzbare Orte grundlegend für die Herausbildung demokratischer Aushandlungsprozesse.

Zum Theater waren damals auch jene zugelassen, die kein politisches Stimmrecht besassen. Der Austausch und die Begegnungen in einem sich als öffentlich erst konstituierenden Raum waren wegweisend für ein neues Selbst- und Fremdverständnis. Öffentlichkeit ist die Sphäre, an der alle teilhaben und die von allen gestaltet und geprägt wird. Es ist ein Raum, der vielschichtig angeeignet werden kann, der aber nicht in Privatbesitz ist.

Der öffentliche Raum gehört uns und gehört uns nicht. Das ist das Beeindruckende daran. Wir bewegen uns frei darin, mit anderen und uns unbekannten Menschen, die mit demselben Recht da sind, uns vielleicht sogar stören oder uns erfreuen, jedenfalls mit uns die Welt als gemeinsame sichtbar werden lassen. Fällt dieser Raum weg beziehungsweise ist er nicht mehr von allen begeh-, besetz- und bespielbar, gefährdet das die Grundlagen demokratischer Ordnungen und Verfahren.

Jeder sitzt zu Hause

Zwar können Austausch, Debatten und Versammlungen auch online stattfinden. Digital finden sie allerdings geschlossener statt als im analogen Raum. Wir werden im Netz dazu eingeladen, an Sitzungen oder Chats teilzunehmen, und laden andere ein. Der digitale Austausch findet in der ausgewählten Gruppe statt. Der digitale Raum ist aber nicht nur nicht öffentlich, weil er oft über Einladungsverfahren strukturiert wird. Er ist auch nicht öffentlich, weil die agierenden Personen dabei nicht physisch zusammenkommen, um gemeinsam zu agieren.

Jeder sitzt zu Hause. Der Andere ist zwar zu sehen und zu hören, aber wir riechen einander nicht, wir erleben keine körperliche Resonanz aufeinander, wir sind nicht ganz zusammen in einem geteilten Raum. Arbeit zu Hause, Schule zu Hause, Universität zu Hause, Kunst zu Hause, TV-Samstagabend-Shows zu Hause. Das alles erfahren wir vermittelt durch ein schwarzes Rechteck, das immer flach und geruchlos vor uns steht, bevor es die Welt zu uns hereinlässt. Die Resonanz einer hitzig geführten Diskussion mit Personen, die in demselben Raum körperlich spürbar anwesend sind, ist davon grundlegend verschieden.

Was digital-vermitteltes und analog-physisches Erleben voneinander unterscheidet, zeigt sich nicht nur im Umgang mit Menschen, sondern schon beim Vergleich des Radfahrens im Wohnzimmer mit jenem durch Städte und Wälder. Nicht zufällig verspüren viele in diesen Tagen einen ungestillten Drang, nach draussen zu gehen, in den öffentlichen Raum zu treten – trotz Vorgaben und Verboten. Der Zugang zum öffentlichen Raum ist, und das geht leicht unter, auch für jene stark eingeschränkt, die zurzeit in unzähligen Überstunden und durch enorme Mehrleistung die Ausnahmesituation zu meistern helfen. Sie arbeiten härter, länger und unter erschwerten Bedingungen. Für eine aktive Teilhabe am öffentlichen Raum reichten Zeit und Kraft nicht.

Menschenleben schützen

Die gegenwärtige Ausnahmesituation ist begründet durch das Ziel, möglichst viele Menschenleben zu schützen. Das ist eine Kernaufgabe demokratischer Staaten. Die damit einhergehenden Verschiebungen müssen allerdings fortlaufend kritisch beobachtet werden. Die Reduktion aller politischen Ebenen auf vorwiegend zwei, nämlich einerseits auf den jeweiligen Haushalt und andererseits auf den Bundesrat, ist nur auf eine klar befristete Zeit hin gerechtfertigt.

Die Akzentuierung von Familie und Staat als Kernelemente des Politischen vermitteln Menschen, die in einer lebendigen, komplexen, rechtsstaatlich begründeten Demokratie leben möchten, Unbehagen. Sie sehnen sich zu Recht nach Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Anderen, sie suchen auch ausserhalb ihrer vier Wände nach Inspiration und sind sich selbst nicht genug. Sie wollen physisch präsent und sozial nahe wieder darüber debattieren, wie sich die Welt gemeinsam unter der Bedingung von Freiheit und Mitbestimmung solidarisch und nachhaltig gestalten lässt.

Christine Abbt ist politische Philosophin und lebt in Zürich.