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Meinung Viktor Orbán

Ungarn verrät die europäischen Ideale

Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, 76, ist Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, 76, ist Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission
Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, 76, ist Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission
Quelle: picture alliance / SvenSimon
Wir Europäer müssen gegen zwei Viren kämpfen, gleichzeitig und mit gleicher Vehemenz: gegen Covid-19, das uns physisch angreift, und gegen ein zweites, das unsere Ideale infiziert. Ein Aufruf zur Rettung unserer Demokratie.

Am 30. März 2020 hat Viktor Orbán einen zeitlich unbegrenzten Notstand in Ungarn beschlossen. Er hat das ungarische Parlament für unbegrenzte Zeit suspendiert und so die Regierung ermächtigt, durch Dekrete zu regieren, auf eigene Faust und ohne Kontrolle. Damit wurden die unabhängige Gerichtsbarkeit und die Medien weiter beschädigt.

Eine solche Machtkonzentration hat es in der Europäischen Union noch nicht gegeben. Sie dient nicht dem Kampf gegen Covid-19 oder dessen ökonomische Folgen. Sie öffnet vielmehr die Türen für alle Arten von Missbrauch. Denn alles, was uns öffentlich und privat wert ist, hängt nun von der Gnade einer Regierung ab, die kaum noch Rechenschaft abgeben muss.

Das ist der Höhepunkt von Ungarns Drift in den Autoritarismus, die seit zehn Jahren anhält. Sie ist gefährlich.

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Wir haben mit großer Sorge beobachtet, wie Orbán sein Land auf ein Gleis gesetzt hat, auf dem es gegen die europäischen Normen und Werte fährt. Die aktuelle Machtergreifung ist nur ein neues Kapitel in einem langen Prozess, in dem das Land der Demokratie abtrünnig wird.

Wir erkennen an, dass Orbán in den Wahlen 2010 eine erhebliche Wählerunterstützung erhalten hat. Aber seitdem haben seine politischen Reformen die ungarische Demokratie geschwächt, den Rechtsstaat unterminiert und immer wieder Spannungen mit der Europäischen Union ausgelöst.

Es ist wahr, dass Orbán seit 2010 zwei Mal im Parlament erneut eine Mehrheit gewonnen hat, aber diese Ergebnisse ergaben sich mehr und mehr aus einer Verbiegung der Verfassungsstrukturen und aus einer direkten Kontrolle der Regierung über einen immer größeren Teil der öffentlichen und privaten Medien.

Die politische Opposition, der gesellschaftliche Dialog, die freie Rede wurden zunehmend zum Schweigen gebracht. Dabei haben verschiedene Universitäten, Kulturorte, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen unter der Last von Orbáns autoritärer Herrschaft gelitten.

Das Europäische Parlament hat mit dem Tavares-Bericht von 2013 und dem Sargentini-Bericht von 2018 zwei Mal diese undemokratische Drift verurteilt.

Da diese sich jetzt mit der Suspension der ungarischen parlamentarischen Demokratie verfestigt hat, dürfen wir nicht tatenlos bleiben. Damit würde die Union die Diskreditierung aller ihrer Bemühungen riskieren, demokratische Prozesse, den Rechtsstaat, Transparenz, Solidarität und den gesellschaftlichen Dialog nicht nur in den Mitgliedstaaten, sondern auch in den Anwärterstaaten zu stärken.

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Um der aktuellen Pandemie zu begegnen, müssen alle EU-Länder schwierige Maßnahmen treffen, die zu einem gewissen Grade die Grundrechte ihrer Bürger beschränken. Aber diese Maßnahmen müssen verhältnismäßig, zu rechtfertigen und in ihrer Natur zeitlich begrenzt sein.

Das Parlament zu suspendieren, wie das in Ungarn geschehen ist, ist eine schwere Verletzung der EU-Verträge, der Grundrechte-Charta und der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Deshalb ist die Verurteilung und Sanktionierung von Orbáns Angriff auf die Demokratie dringender denn je.

Es ist an der Zeit, gemeinsam zu handeln

Deshalb rufen wir alle Stakeholder – die europäischen Institutionen, die nationalen Institutionen, die Bürgerinnen und Bürger, die Zivilgesellschaft und die Medien – auf, so wachsam wie nur irgend möglich zu sein. Es ist an der Zeit, breit zu mobilisieren und gemeinsam zu handeln.

Wir rufen alle nationalen Medien auf, der ungarischen Situation Teile ihrer Nachrichten zu widmen, wenn nötig täglich. Wir bitten sie auch, ungarischen Bürgern als europäischen Bürgern freien Zugang zu ihren Inhalten zu gewähren als Quelle von pluralistischen und unabhängigen Informationen.

Wir rufen die Kommission als Hüterin der europäischen Verträge auf, schnellstens zu reagieren und Sanktionen zu verhängen, die dem Ernst eines solchen unerträglichen Verstoßes gegen die europäischen Regeln und Werte entsprechen.

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Covid-19 muss und wird geschlagen werden durch demokratische Prozesse, transparente Aktionen und pluralistische Informationen. Indem wir diese Werte verteidigen, mobilisieren wir die europäischen Gesellschaften breit und stellen sicher, dass unser gemeinsamer Weg zur Erholung große Unterstützung genießt.

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Wir fordern alle europäischen Bürger auf, auf das zu schauen, was in Ungarn passiert, und zwar nicht als eine äußere Angelegenheit, sondern als fundamentale Bedrohung unseres gemeinsamen Interesses.

Wir müssen uns jetzt alle in diesem Kampf vereinigen. Auf dem Spiel steht nicht nur unsere Gesundheit, auf dem Spiel stehen unsere gemeinsamen Ideale und das Überleben unserer Union und unserer Demokratien.

Auf Initiative von Mitgliedern von Civico Europa: László Andor (Ungarn), ehemaliges Mitglied der EU-Kommission, und Guillaume Klossa (Frankreich), ehemaliger Direktor der European Broadcasting Union.

Kritik an Einschränkung der Grundrechte wird lauter

Das Parlament in Budapest hat seine Selbstentmachtung beschlossen und seinen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zum Alleinregierenden ernannt. Inzwischen wird auch in Deutschland vor weiteren Einschränkungen der Grundrechte gewarnt.

Quelle: WELT/Matthias Heinrich

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