Wie lange werden wir diesen Preis zahlen können?

In der Corona-Krise werden existentielle Entscheidungen getroffen. Wie retten wir Menschenleben? Wie verhindern wir den Zusammenbruch der Wirtschaft? Die russisch-tatarische Schriftstellerin Gusel Jachina über Kultur als Navigator für die Menschlichkeit. 

Moskau-Diese Pandemie stellt ein einzigartiges Erleben von Gemeinschaft in der Geschichte der Menschheit dar. Noch nie einte die Länder der Welt eine Katastrophe von solchen Ausmaßen. Noch nie mussten sie alle Phasen des Kampfes gegen sie gemeinsam durchschreiten.

Gusel Jachina, geboren 1977 in Kasan, lebt in Moskau. Ihre Romane „Suleika öffnet die Augen“ und „Wolgakinder“ erschienen auf Deutsch bei Aufbau. 
Gusel Jachina, geboren 1977 in Kasan, lebt in Moskau. Ihre Romane „Suleika öffnet die Augen“ und „Wolgakinder“ erschienen auf Deutsch bei Aufbau. Laif

Weder zwei Weltkriege, noch ein Atomkrieg oder der Kalte Krieg haben der Menschheit dieses Erlebnis gebracht: Stets war sie in feindliche Lager geteilt, die auf Schlachtfeldern miteinander rangen, während sich Einzelne heraushielten. Den Krieg von einigender Wirkung schien es nicht zu geben.

Jetzt stellt sich heraus: Es gibt ihn. Der Krieg, den einige Staatschefs der Pandemie erklärt haben, kann nicht von lokaler Art sein – er nimmt automatisch globalen Charakter an. Ein Kampf für alle Staaten. Dabei befinden sich die einzelnen Länder in verschiedenen Entwicklungsstadien des Prozesses. Während an einem Ort bereits Kühlwagen als mobile Leichenhallen aufgestellt und Tote abtransportiert werden, finden anderswo noch Fußballspiele mit Zuschauern statt. Über die Lage in einer Weltgegend berichten die Medien in Echtzeit; aus anderen dringen erst nach langem Schweigen Katastrophensignale, und wir können nur ahnen, wie schlimm die Situation hinter einer solchen Mauer sein muss. Aber eines ist klar: Dem Kampf gegen das Virus hat sich jeder Staat zu stellen. Ihn hinter einem Grenzzaun, auf einer Insel oder einem Kontinent auszusitzen, wird keinem gelingen.

Das transparente, weltumspannende Internet macht es möglich, dass wir sehen können, was an vielen Orten gleichzeitig vor sich geht. Informationen über die Zahl der Infizierten und Toten, über Monarchen und Staatsoberhäupter in Quarantäne, oder rührende Geschichten in den sozialen Medien erreichen uns permanent von allen fünf Kontinenten. Wir sehen, wie in Indien Polizisten Menschen verprügeln, wenn sie die Quarantäne missachten. Wie in Italien eine abgekämpfte Krankenschwester in Tränen ausbricht. Wie in den von Hunderttausenden bewohnten Elendsvierteln Nairobis Künstler die Mahnung zum häufigen Händewaschen an Mauern pinseln – die wichtigste Propaganda-Losung gegen die drohende Pandemie.

Bei alledem können wir nicht wegschauen. Wir wissen heute viel mehr darüber, wie Menschen anderswo leben. Und wir fühlen mit ihnen. Denn Mitgefühl, das Reagieren auf die Emotionen des anderen, ist das Fundament einer gesunden Psyche des Menschen, das entsteht, wenn das Neugeborene zum ersten Mal das Lächeln seiner Mutter erwidert.

Soeben wurde die Welt noch vom Fieber der Aggression geschüttelt. Sie erlebte Handelskriege, Ölkriege, Sanktionen, Propagandakriege und mancherorts ganz reale Waffengänge. Im Moment ist das – nahezu alles – als unwichtig in den Hintergrund getreten. Aggression wurde auf Pausenmodus geschaltet. Etwas Unvorstellbares ist geschehen: Die Pandemie wirkt wie eine Impfung gegen Aggression.

Wer sich noch gestern im Internet Schimpfkanonaden lieferte, bringt heute betagten Menschen Einkäufe ins Haus. Russland und China leisten Italien humanitäre Hilfe. Da wirken jene, die es nicht lassen können, auch daraus noch ideologischen Profit schlagen zu wollen, wie Barbaren – mögen sie sich auch noch so modern und gebildet geben. Jetzt ist nicht die Zeit, ideologische Kämpfe auszutragen, jetzt geht es darum, Hilfe zu erweisen und Hilfe anzunehmen.

Denn die Lage hat sich extrem vereinfacht: Wenn Menschen sterben, muss, wer kann, alles tun, um sie zu retten. Noch nie war der Preis eines Menschenlebens – im übertragenen Sinne – so hoch wie heute. Von Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Millionen Menschen Opfer von Kriegen, KZs oder Atomversuchen, starben an Hunger und Seuchen. In unserem satten, wohlhabenden 21.Jahrhundert ist es Mode geworden, in der Sorge um die eigene kostbare Gesundheit mit Ärzten oder Pflegern über unhöfliche Behandlung oder eine nicht gefallende Schönheitsoperation zu streiten und zu prozessieren.  

Noch nie war der Preis eines Menschenlebens – auch im buchstäblichen Sinne – so hoch wie heute. Um den Fortgang der Epidemie zu bremsen, werden große Volkswirtschaften in den Standby-Modus versetzt, kommen ganze Länder zum Stillstand. Das kostet viele Milliarden, in welcher Währung auch immer. Wie lange werden wir diesen Preis zahlen können? Wann wird das Schrumpfen der Wirtschaft die Länder zwingen, die Quarantäne aufzuheben, die Menschen an ihre Arbeitsplätze zu lassen und damit einem Risiko auszusetzen oder gar eine gewisse Zahl ihrer Bürger zu opfern? Damit steht unser in Jahrtausenden zivilisierten Lebens erreichter Grad an Menschlichkeit auf dem Prüfstand.

Der Sinn von Kultur bestand zu allen Zeiten in nichts anderem als in der Erziehung zu Menschlichkeit, in der Steigerung des Wertes menschlichen Lebens. Heute fällt ihr auf wundersame Weise eine sehr praktische Funktion zu: Kultur gerät zu einer Krücke, die Politik, Wirtschaft und Gesundheitswesen für sich nutzen. Eine unsichtbare, von uns kaum bemerkte, aber sehr wichtige Stütze.

Streaming-Auftritte von Musikern und Schauspielern aus Home-Studios, die Übertragung von Live-Konzerten aus leeren Sälen, Bücher und Filme, Online-Gespräche mit Stars – aus alledem schöpfen wir Kraft für unser schwieriger gewordenes Leben in der erzwungenen Isolation. Kultur ist zu einem Ersatz für den normalen Alltag geworden – bis unser Leben irgendwann in seine normalen Bahnen zurückkehrt.

Aus dem Russischen von Helmut Ettinger