Wir sind nicht im Krieg: Warum der Machtrausch der Regierungen ein Ende haben muss

Kriegsbeschwörung ist im Zeichen der Corona-Pandemie en vogue. Das ist falsch – und folgenreich. Es ist Zeit für rhetorische und politische Abrüstung.

Paul Widmer
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Allmächtiger Pappkamerad: Silhouette des amerikanischen Präsidenten Donald Trump mit patriotischer Schutzmaske bei einer Corona-Demonstration in Kalifornien.

Allmächtiger Pappkamerad: Silhouette des amerikanischen Präsidenten Donald Trump mit patriotischer Schutzmaske bei einer Corona-Demonstration in Kalifornien.

Mike Blake / Reuters

Die Weltpolitik kann man mit zwei Begriffen erschliessen: mit Krieg und Frieden. Der eine Begriff ist positiv besetzt, der andere negativ, vergleichbar mit Gut und Böse in der Moral, mit Schön und Hässlich in der Ästhetik oder mit Gewinn und Verlust in der Wirtschaft.

Der Krieg ist kein Ziel. Er bedeutet immer, dass man etwas Positives verliert, nämlich den Frieden. Niemand will einen Krieg, auch eigentliche Kriegstreiber nicht. Als Bismarck bezichtigt wurde, bewusst auf einen Krieg mit Frankreich zuzusteuern, soll er kaltblütig geantwortet haben, er suche nicht den Krieg, sondern den Sieg. Mit anderen Worten: Er wollte die Vorteile, die ein Frieden auf einer neuen Grundlage dem Siegreichen verschafft.

Der Krieg ist ein Mittel, um mit einem äussersten Kraftakt eine Entscheidung herbeizuführen. Er hebelt die Regeln aus, die in einer Friedensordnung gelten. Töten ist nicht nur erlaubt, es ist geboten. Der Krieg ist eben, siehe Carl von Clausewitz, eine Fortsetzung der Politik, jedoch mit anderen Mitteln.

Irreführende Rhetorik

Wenn niemand einen Krieg will, kann man dasselbe nicht von der Kriegsrhetorik sagen. Staats- und Regierungschefs finden daran Gefallen. Sie beschwören gern den Krieg, auch wenn weit und breit kein Feind in Sicht ist, auch wenn kein einziger Soldat auf einen anderen schiesst. Mit Krieg hat das alles wenig zu tun. Aber viel mit Metaphern. Diese evozieren höchste Gefahr, entschlossenen Kampf und Sonderrechte für den Kommandierenden.

Seinerzeit rief Präsident Lyndon B. Johnson zum Krieg gegen die Armut auf. Jüngst erklärte Uno-Generalsekretär Antonio Guterres der Energieverschwendung den Krieg. Besonders gefragt ist die Metapher zur Bekämpfung von Krankheiten. Richard Nixon trommelte zum Krieg gegen den Krebs, später gegen die Drogen.

Und nun kommt die Coronavirus-Epidemie. Kaum ein Staats- oder Regierungschef, der nicht die Kriegsmetapher bemühte. Chinas Präsident Xi Jinping gelobte, einen Volkskrieg gegen das Virus zu führen. Donald Trump möchte neustens in die Rolle eines «wartime president» mit absoluten Vollmachten schlüpfen. Und Emmanuel Macron beschwor in ein und derselben Rede Mitte März nicht weniger als sechsmal den Krieg gegen den unsichtbaren, unfassbaren Feind, der kontinuierlich vorrücke.

Der Kriegsbeschwörung widerstehen nur wenige. Bundesrat Alain Berset kam bisher ohne martialische Rhetorik aus. Und der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich ausdrücklich von seinem französischen Kollegen distanziert und betont, die Pandemie sei kein Krieg. Keine einzige Nation kämpfe gegen eine andere. Vielmehr sei es eine gemeinsame Herausforderung, die mehr Solidarität unter den Nationen erfordere. Bezeichnenderweise sprach ein Präsident so, der kaum über Exekutivgewalt verfügt.

PARIS, FRANCE - MARCH 17: French President Emmanuel Macron appears on the front of newspapers with the words "Stay home" on March 17, 2020 in Paris France. On March 17, 2020 France imposed a nationwide lockdown to control the spread of COVID-19.

PARIS, FRANCE - MARCH 17: French President Emmanuel Macron appears on the front of newspapers with the words "Stay home" on March 17, 2020 in Paris France. On March 17, 2020 France imposed a nationwide lockdown to control the spread of COVID-19.

Veronique De Viguerie / Getty

Warum gefällt den Regierenden die Kriegsmetaphorik? Das hängt eben mit den Mitteln zusammen, die im Krieg erlaubt sind, im Frieden jedoch nicht. Das Notrecht gibt ihnen mehr Macht, als die reguläre Gewaltenteilung vorsieht. Kommt noch hinzu, dass sich mehr Macht auch politisch auszahlt. Mit gutem Krisenmanagement winkt der Lorbeerkranz.

Der eigenmächtige Staat

In Krisenzeiten schätzt die Bevölkerung entscheidungsstarke Politiker. Auch jetzt schnellen die Beliebtheitskurven von Trump, Macron oder Merkel hoch, nachdem sie lange auf tiefem Niveau vor sich hingedümpelt haben. Allerdings dürfte die Zustimmung oft weniger mit den einzelnen Machthabern zu tun haben als mit einem neu gewonnenen Vertrauen in den National- und Sozialstaat. Nach all den Demütigungen, die eine forcierte Globalisierung den Nationalstaaten zufügte, begrüssen es viele, dass sich in der Not der eigene Staat wieder als die entscheidende Stütze herausstellt.

Das Gerede von einem Krieg im Zusammenhang mit der Coronavirus-Epidemie ist unangebracht. Erstens ist es unmoralisch. Was Krieg ist, weiss jeder. Es ist ein Bild nicht nur vom Tod, sondern von Schrecken, Gewalt und Zerstörung. Siehe Jemen oder Syrien. Man sage diesen Leuten, die mitten im Krieg stehen, wir befänden uns auch in einem Krieg! Es wäre unanständig, eine Verharmlosung ihrer Leiden. Und im Ersten Weltkrieg wusste man auch, was Krieg ist: der tödliche Kampf zwischen den Nationen um die Vorherrschaft in Europa – und nicht die Spanische Grippe, obschon diese mit 40 Millionen Opfern mehr Tote forderte als der Krieg mit seinen 20 Millionen Soldaten und Zivilisten.

Zweitens verleitet die Kriegsmetaphorik zu falschen Schlüssen. Sie suggeriert, die verfassungsmässige Ordnung mit ihrer Gewaltenteilung reiche nicht mehr aus; die Exekutive benötige, um handlungsfähig zu sein, Sonderrechte wie im Krieg. Doch Vorsicht. Heute hat sich niemand gegen einen militärischen Angriff zu wappnen. Bei der Bekämpfung einer Epidemie zählt anderes: Verhinderung und Eindämmung der Seuche und vor allem die Zustimmung der Bevölkerung zu den erforderlichen Massnahmen. Diese erreicht man besser, wenn man Volk und Parlament in die Beschlüsse einbezieht, statt sie mit Notrecht auszuschliessen.

Punktuell mag Notrecht unumgänglich sein. Aber nur punktuell und zeitlich eng begrenzt. Ein gewaltenteiliges System bedarf der Kontrolle durch das Parlament. Sonst nistet sich in der erweiterten Machtfülle Missbrauch ein. Notrecht ist Gift für ein republikanisches Staatswesen: für die Demokratie, den Föderalismus und die Eigenverantwortung.

Lehren aus der Vergangenheit

Im letzten Jahrhundert installierte die Schweiz zweimal ein Vollmachtenregime. Beide Male klammerte sich der Bundesrat weit länger ans Notrecht, als es erforderlich war. Nach dem Ersten Weltkrieg verzichtete er erst drei Jahre nach dem Krieg auf das Recht, Notverordnungen zu erlassen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg zögerte er die Rückkehr zur Normalität hinaus. Es bedurfte des Drucks von unten. Das Volk forderte ihn 1949 mit einer Initiative auf, zur direkten Demokratie zurückzukehren.

Unter dem Vollmachtenregime fasste die Regierung auch Beschlüsse von weitreichender Tragweite, ohne dass das Volk dazu etwas zu sagen gehabt hätte. So führte der Bundesrat 1915 eine zeitlich befristete Kriegssteuer ein. Doch nach dem Krieg hob er sie nicht auf. Als direkte Bundessteuer besteht sie heute noch. Notstandsrecht führt stets zu einem starken Anstieg der Staatstätigkeit und einer Schwächung des Föderalismus.

Besonders arg unter die Räder gerät in der gegenwärtigen Krise die Eigenverantwortung. Vor einigen Wochen noch schickten sich verschiedene europäische Regierungen an, die Auswüchse des Sozialstaates mit Budgetkürzungen zu stutzen, auch die französische. Nichts davon bleibt. Eine beispiellose Geldschwemme hat den Sparwillen wie ein Sandschloss am Meer hinweggespült.

Sogar in der Schweiz befürchten betuchte liberale Unternehmer, zu kurz zu kommen, wenn sie nicht auch die hohle Hand nach dem Staat ausstrecken. Ein jeder will vom Geldsegen profitieren. Bis diese gesteigerte Anspruchsmentalität korrigiert ist, wird es lange dauern – wenn überhaupt.

Was tun? Weisen wir als Erstes eine dramatisierende Metaphorik zurück. Sie bringt nichts. Misstrauen wir sodann dem Ruf nach mehr Macht. Die Erfahrung lehrt, dass, wer viel Macht hat, noch mehr will. Macht ist eben, wie Jacob Burckhardt sagte, an sich böse, eine Gier. Engagieren wir uns stattdessen mit voller Überzeugung für das geltende Recht. Das ist, zugegeben, langweilig, aber immer noch das Zuverlässigste.

Paul Widmer ist Diplomat, freier Publizist und Autor u. a. von «Die Schweiz als Sonderfall» und «Diplomatie: Ein Handbuch» (beide NZZ Libro).

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