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Corona-Ausbreitung in Tschetschenien Wo Infizierte als Terroristen gelten

Der tschetschenische Herrscher Ramsan Kadyrow bekämpft die Corona-Pandemie so, wie er auch regiert: mit Drohungen und Unterdrückung. Wer erkrankt, traut sich nicht zum Arzt.
Desinfektionsarbeiten in Grosny: Kranke haben Angst, zum Arzt zu gehen

Desinfektionsarbeiten in Grosny: Kranke haben Angst, zum Arzt zu gehen

Foto: Musa Sadulayev/ AP

347 Corona-Kranke und sechs Tote meldete Grosny am Donnerstag. Die Dunkelziffer aber dürfte in Tschetschenien um einiges höher liegen, und das liegt vor allem an der Furcht der Menschen, sich an die Behörden zu wenden.  

Angst ist in der russischen Teilrepublik allgegenwärtig. Ramsan Kadyrow führt die Region im Nordkaukasus seit 13 Jahren mit harter Hand, wie von Moskau gewünscht sorgt er nach zwei Kriegen dort für Ruhe. Wer Kadyrow und seinen Machtzirkel stört oder kritisiert, wird weggesperrt oder gar getötet. Gegner werden zu "Extremisten" erklärt, Islamisten als "Terroristen" verfolgt und gnadenlos eliminiert.

Es sei diese Rhetorik, die Kadyrow nun auch im Kampf gegen das Coronavirus einsetze, sagt Jelena Milaschina, Nordkaukasus-Korrespondentin der unabhängigen Zeitung "Nowaja Gaseta". Sie ist eine der wenigen kritischen Journalistinnen, die über Tschetschenien berichtet - und sie wird dafür bedroht. Milaschina prangerte an, wie Homosexuelle dort gefoltert und umgebracht wurden. Doch besonders wütend hat Kadyrow ihr Bericht über das Vorgehen seines Regimes gegen das Coronavirus gemacht.

Ramsan Kadyrow sagt: "Ein Terrorist kann mehrere Menschen töten, dieser eine Infizierte Zehntausende"

Ramsan Kadyrow sagt: "Ein Terrorist kann mehrere Menschen töten, dieser eine Infizierte Zehntausende"

Foto: Musa Sadulayev/ AP

Infizierte gefährlicher als Terroristen

Hatte der Republikchef noch vor nicht allzu langer Zeit geraten, Wasser mit Zitrone und Honig sowie Knoblauch als Gegenmittel zu nehmen, verglich er Covid-19-Infizierte, die sich nicht an die Quarantäne hielten, mit Terroristen. Diese könne man in einer Grube verrecken lassen, "ein Terrorist kann mehrere Menschen töten, dieser eine Infizierte Zehntausende", so Kadyrows Begründung.

Unter Quarantäne werden in Tschetschenien all jene gestellt, die aus Moskau und dem Ausland in die islamisch geprägte Teilrepublik reisen. Oder jene, die Symptome wie Husten und Fieber haben. Doch wer wendet sich an die Gesundheitsbehörden, wenn man ihn selbst oder die Familie als Terroristen abstempeln könnte?

Alle Artikel zum Coronavirus

Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

Wie tief die Angst sitzt, hat Milaschina öffentlich gemacht. Ihren Recherchen zufolge verbargen Menschen aus Furcht vor den Behörden ihre Corona-Infektion.

Wie das Regime in Grosny mit Erkrankten umspringt, zeigt der Fall Achmed Garajew. Der tief gläubige Muslim, gut bekannt mit Kadyrows Vater, starb am 8. April im Alter von 80 Jahren zu Hause in einem Dorf südöstlich von Grosny, sehr wahrscheinlich am Coronavirus, wie Milaschina schreibt. Sie beruft sich auf mehrere Quellen vor Ort. Er soll sich bei aus Mekka zurückgekehrten Pilgern angesteckt haben. Sein Bruder Abdulla und andere Verwandte versammelten sich einen Tag später, um Garajew zu beerdigen. Hunderte kamen, die Rede ist von bis zu tausend Menschen, kontrolliert von Polizisten, welche Vorsichtsmaßnahmen gegen die Corona-Verbreitung überwachten, wie es offiziell hieß.

Dabei ging es Abdulla und dessen Söhnen schon da nicht gut, wie mehrere Zeugen erklärten. Irgendwer alarmierte die Behörden, an die sich die Garajews selbst nicht wenden wollten, wie Kadyrow selbst bestätigte. Mitglieder der Familie, auch Abdulla, wurden auf Corona getestet, erste Ergebnisse fielen laut Milaschina positiv aus.

Doch in ein Krankenhaus brachte man Abdulla erst später, obwohl es ihm immer schlechter ging, er wurde in die Hauptstadt Grosny gebracht. Die Journalistin berichtet, dass Krankenhäuser und sogar notärztliche Ambulanzen in den Regionen aus Quarantänegründen geschlossen werden mussten, dass Ärzten die Schutzausrüstung fehlte.

Fiebermessen in Grosny

Fiebermessen in Grosny

Foto: Musa Sadulayev/ AP

Das Dorf der Garajews mit rund 1000 Einwohnern steht unter Quarantäne, bewacht von Hunderten Polizisten. Die Menschen sind praktisch eingesperrt, für wie lange, ist unklar. Tests auf Corona machten die Gesundheitsbehörden laut Milaschinas Recherchen nicht mehr. Niemand dürfe das Haus verlassen, selbst in den Hof zu gehen, sei nicht erlaubt, zitierte das unabhängige Internetmedium Kawkaskij Uzel eine Bewohnerin. Auch Abdulla soll nun wieder zu Hause sein, steht dort unter Beobachtung.

Es ist der späte Versuch, die Ausbreitung des Virus zu stoppen.

Vergeltungsmaßnahmen gegen Kranke?

Während Kadyrow seine 1,5 Millionen Bewohner in Isolation geschickt hat, regiert er wie bisher: Selbst beim Grillen mit seinen Anhängern ließ er sich vom staatlichen Grosny TV filmen, so als wäre nichts gewesen.

Währenddessen sitzen die Tschetschenen zu Hause in Isolation. Nur für zwei Stunden zum Einkaufen oder für Besorgungen in der Apotheke dürfen sie raus, drei Mal pro Woche. Nachts gilt eine Sperrstunde.

"Es sind kaum Menschen auf den Straßen von Grosny, auch weil Kadyrow selbst die Lage kontrolliert", sagte eine Bewohnerin, die anonym bleiben will, dem SPIEGEL. Ein anderer sagte, die Menschen seien sehr nervös, weil sie nicht wüssten, ob es Vergeltungsmaßnahmen gegen Kranke geben werde. "In dieser Notlage ist Vertrauen der Menschen in die Behörden so wichtig, doch das gibt es nicht", sagt Grigorij Schwedow, Chefredakteur von Kawkaskij Uzel . "Das, was Kadyrow nur kann, ist, Härte zu demonstrieren."

Wer gegen die Auflagen verstößt, wird von den Sicherheitskräften geschlagen, ist ihrer Willkür ausgesetzt, berichtet auch Tanja Lokschina von Human Rights Watch. Menschenrechtler arbeiten nicht mehr vor Ort, zu groß ist der Druck des Regimes geworden. Sie lassen sich über die Lage durch ihre Kontakte informieren. "Lieber einen schlagen, als tausend begraben", wies Kadyrow Kritik an der Prügel eines jungen Mannes zurück, von der noch immer Aufnahmen im Internet zu finden sind.

Menschenrechtler alarmiert, Kreml wiegelt ab

Den Artikel von Milaschina wies er als "antitschetschenische" Kampagne der "Nichtmenschen" der "Nowaja Gaseta" zurück, rief den Inlandsgeheimdienst FSB dazu auf, diese zu stoppen. Kadyrow drohte sogar offen: "Wenn ihr wollt, dass wir ein Verbrechen verüben, sagt das doch gleich", sagte er in einem Video auf seinem Instagram-Account. "Dann nimmt einer die Verantwortung und die gesetzliche Strafe auf sich. Sitzt im Gefängnis und kommt wieder raus. Bemüht euch nicht, Banditen und Mörder aus uns zu machen."

Dieser Ton erinnert sehr an die Morde an der Journalistin Anna Politkowskaja von der "Nowaja Gaseta" und dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Menschenrechtler zeigten sich alarmiert, Amnesty spricht von einer "neuen Qualität der Bedrohung". Mehr als hundert Menschenrechtler, Schriftsteller, Politiker und Persönlichkeiten verlangten Ermittlungen gegen Kadyrow und staatlichen Schutz für Milaschina. Auch die Regierungen Deutschlands und Frankreichs forderten den Kreml auf, die Journalistin zu schützen: "Drohungen seitens staatlicher Funktionsträger sind völlig inakzeptabel und widersprechen jeder Rechtsstaatlichkeit", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung.

Im Kreml hatte man Kadyrows Rede emotional genannt, fand daran aber "nichts Ungewöhnliches", wie Sprecher Dimitrij Peskow mitteilte. Mehr noch, Moskaus Behörden hatten sogar reagiert: Auf Weisung der Generalstaatsanwaltschaft musste die "Nowaja Gaseta" Milaschinas Artikel blocken.

Die Journalistin aber lässt nicht locker, will wissen, was genau die Behörden ihr vorwerfen. Sie veröffentlichte einen zweiten Artikel , in dem sie die Kritik von Kadyrow und dessen Sprecher zurückweist und auf diesem Weg ihre Recherchen noch einmal ausführlich beschreibt - das Grillvideo mit Kadyrow eingeschlossen.

Mitarbeit: Tatiana Sutkovaja, Alexander Chernyshev