«Unser Mut war nichts als falscher Schein»: In Damaskus geht die Angst vor dem Coronavirus um

Nach Jahrzehnten der Repression und neun Jahren Bürgerkrieg glaubten die Syrer, nichts mehr könne sie schrecken. Aber die Furcht vor der Pandemie und die neuen Restriktionen verwandeln Damaskus in eine Stadt der lebenden Toten.

Loubna Sweileh
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Erst kamen die Bomben und Granaten. Nun fürchtet man in Syrien einen lautlosen, aber nicht minder tödlichen Feind.

Erst kamen die Bomben und Granaten. Nun fürchtet man in Syrien einen lautlosen, aber nicht minder tödlichen Feind.

Omar Sanadiki / Reuters

Zum ersten Mal seit langem hat Syrien wieder etwas gemein mit dem Rest der Welt: Die Pandemie trifft alle. Endlich sind wir Europa und den zivilisierten Ländern zumindest in einer Hinsicht gleich. Wir sind Teil einer Misere, die nichts mit der geografischen Lage Syriens und unserem primitiven Leben zu tun hat; einem Leben, das noch hinter die Umstände zurückfällt, die man mit dem Ausdruck Dritte Welt verbindet.

Eine neue Art von Angst ist über uns gekommen, anders als die gewohnte. Sie ist unvertraut, sogar für uns, die wir durch Katastrophen aller Art gegangen sind. Nicht einmal in den dunkelsten Korridoren unserer Einbildungskraft lebte zuvor eine derartige Furcht; sie führt uns nun vor Augen, dass unser Mut nichts war als falscher Schein. Denn angesichts dieser Heimsuchung löst sich die Behauptung, dass wir durch frühere Schrecken gegen jede Krise gestählt seien, in nichts auf. Unsere täglichen Stossgebete, dass ein Meteor niedergehen und uns endlich erlösen möge, werden als blosses Geschwätz entlarvt – durch einen Überlebensinstinkt, der alles auszuhalten bereit ist, auch in den grauenvollsten Umständen.

Amorphe Angst

Ich suche nach Worten, die dieses wahnwitzige Festklammern am Leben erklären könnten. Sicher sind es nicht die Liebesbekenntnisse der Dichter an meine Heimatstadt Damaskus. Lebte Nizar Qabbani noch, würde er heute schreiben: «Ich bin Damaszener, öffnet ihr meinen Leib, dann entströmen ihm Trauben und Äpfel»? Jenes Damaskus lebt nur mehr in der Erinnerung. Auf das heutige, das seinen kümmerlichen Rest an Stolz zu bewahren sucht, treffen eher Adam Hatems Worte zu: «Ich stehe auf dem Gipfel des Ruins und bitte Gott, er möge mich zum Fürsten der Ruinen krönen.»

Um die neue Gefahr zu ermessen, tasten wir uns durch Vergleiche, die Halluzinationen ähneln. Wir sortieren in Gedanken die früher erlebten Schrecken nach dem Mass der Angst, die die Erinnerung auslöst: das Gefühl beim Davonrennen, wenn die Geschosse zu fallen begannen und uns durch die Quartiere verfolgten, die wir durchquerten; das triumphierende Knattern der Gewehre, das mich bis zur Haustür begleitete; das Herzklopfen, wann immer ich einen Ort passieren musste, wo vor wenigen Tagen eine Bombe eingeschlagen hatte. Oder die Suche nach dem Plätzchen genau in der Mitte des Hauses, wo wir am ehesten vor dem mitternächtlichen Luftangriff geschützt waren; die endlose Flut von Facebook-Postings, die jede Explosion so entsetzt kommentierten, als wäre es die erste, und die uns dennoch daran erinnerten, dass wir noch am Leben waren, dass diese Nacht vorbeigehen würde wie die Nächte zuvor . . .

Aber das Vergleichen hilft nichts. Die Gefühle, welche die Pandemie auslöst, bleiben obskur, entziehen sich.

Es ist kalt in Damaskus

Was, wenn die Isolation, die die von der Regierung verfügten Schutzmassnahmen mit sich bringen, über Monate andauert? Wie sähe dieses neue Leben aus? Damaskus war früher immer nahe am Kollaps, aber es war die Art von Chaos, die mit der Leere einhergeht; grosse Bevölkerungsdichte heisst nicht unbedingt, dass Leben herrscht.

Ich bin im Viertel al-Mazraa aufgewachsen. Normalerweise fühlen sich Menschen dem Ort verbunden, der ihre frühesten Erinnerungen bewahrt, aber ich habe dieses Quartier nie geliebt. Ich verspürte die Kälte seiner Strassen, die Frostigkeit seiner Bewohner, sah geschlossene Fenster und Balkone, auf denen nichts als Chaos herrschte. Die Strassenecken, wo junge Männer zusammen abhängen, gab es dort nicht, kaum je hörte man ein Mädchen lachen. Kein Tag brachte uns die lärmige Geschäftigkeit, die Leben bedeutet, es war, als hätte sich die Strasse schon vor langer Zeit zur Ruhe gesetzt.

Jenes Gefühl begleitet mich heute wieder. Diese Eiseskälte, die jedes Quartier umhüllt, die unsere Glieder erfasst, auch wenn wir uns noch so viele Kleidungsstücke überziehen. Als wäre ganz Damaskus nun al-Mazraa . . . Warum dieses verlorene Gefühl in unserer Stadt? Wir wissen nicht einmal, ob Frühling, Sommer oder Winter ist. Hier gibt es keine Seelen mehr, nur wandelnde Leichname aus irgendeiner Zombie-Fernsehserie. Vielleicht wird die Serie ja irgendwann abgesetzt, weil die ewige Wiederholung des Elends nur mehr langweilig und öde ist. Nach und nach verlieren wir unsere Fähigkeit zum Mitgefühl; nicht einmal das Schicksal derer, die uns am nächsten sind, berührt uns noch.

Zuflucht bei Márquez

Ich war immer glücklich, wenn ich der Realität entwischen konnte, indem ich mich in eine Figur aus einem meiner Lieblingsromane hineinversetzte. Aber nie habe ich mir gewünscht, ein Charakter aus José Saramagos «Stadt der Blinden» oder Albert Camus’ «Die Pest» zu werden. Nie hätte ich so leben wollen wie die Menschen in Oran, die «mehr schwankten, als sie lebten, richtungslosen Tagen und unfruchtbaren Erinnerungen preisgegeben, irrenden Schatten gleich, und nur hätten Kraft schöpfen können, wenn sie eingewilligt hätten, im Erdreich ihres Schmerzes Wurzel zu fassen».

Schöner wäre es, sich zu den Figuren aus Gabriel García Márquez’ «Die Liebe in Zeiten der Cholera» zu gesellen, denn die Liebe vermag dort Hilflosigkeit, Alter, die Zeit und sogar die grausamste aller Epidemien zu besiegen. Diese Liebe ist es, um derentwillen wir auch heute weitergehen müssen. Denn Márquez schreibt, «dass die Liebe zu jeder Zeit und an jedem Ort Liebe war, jedoch mit der Nähe zum Tod an Dichte gewann».

Loubna Sweileh studierte Ingenieurwissenschaften und ist jetzt im Filmbereich tätig. Der obige Beitrag erschien im Original auf der Online-Medienplattform Raseef 22. Aus dem Englischen von as.