"Die Angst ist das Problem" – Seite 1

Kaum ein Ökonom hat sich so intensiv mit sozialer Ungleichheit beschäftigt wie Branko Milanović. Der serbisch-amerikanische Ökonom arbeitete für die Weltbank und lehrt heute an der City University of New York. Wir erreichen ihn per Zoom in seinem Haus in Washington, wo er mit seiner Frau seit dem Ausbruch der Pandemie lebt.

ZEIT ONLINE: Herr Milanović, Millionen Menschen auf der Welt verlieren gerade wegen der Corona-Pandemie ihre Arbeit. Geschäfte, Buchhändler, Restaurants müssen schließen. Wird die Pandemie die Welt zu einem ungerechteren Ort machen?

Branko Milanović: Interessante Frage. Man könnte auch so fragen: Wird das Virus wie ein großer Gleichmacher wirken oder nicht?

ZEIT ONLINE: Das müssen sie erklären.

Milanović: Oberflächlich betrachtet sieht es doch so aus: Wir sind alle dem Virus ausgesetzt, egal ob wir reich oder arm oder Teil der Mittelschicht sind. Die Frage, wie Pandemien auf die Ungleichheit wirken, hat in der Wirtschaftsgeschichte eine lange Tradition. Walter Scheidel…

ZEIT ONLINE: … der österreichische Stanford-Historiker …

Der Ökonom Branko Milanović © Alexander Paul Englert

Milanović: … hat 2017 in seinem Buch The Great Leveler argumentiert, dass Katastrophen wie Kriege, Revolutionen oder Epidemien in der Geschichte zu mehr Gleichheit geführt haben. Während der Pest im 14. Jahrhundert starb ein Drittel der Bevölkerung Europas, Arbeitskräfte wurden knapp, die Löhne stiegen. Die Seuche trug damals auch zur Befreiung der Leibeigenen bei. Weil so viele von ihnen durch die Seuche starben, fiel es den Feudalherren schwerer, die verbliebenen Untergebenen an einem Ort festzuhalten. Die Frage ist nun: Wird die Corona-Epidemie heute wieder zu mehr Gleichheit führen?

ZEIT ONLINE: Sie klingen skeptisch.

Milanović: Ich sehe, was zum Beispiel in New York geschieht. Dort sind dichter besiedelte und ärmere Viertel weit stärker dem Virus ausgesetzt. Menschen, die physisch bei der Arbeit anwesend sein müssen, sind schlechter geschützt als die Glücklichen, die Videokonferenzen führen können, ohne das Haus zu verlassen. Ähnlich scheint mir es in Europa zu sein. Wer sorgt dafür, dass dort die U-Bahnen weiterfahren? Menschen, die nur dann Geld bekommen, wenn sie zur Arbeit erscheinen. In dieser Hinsicht scheint die Pandemie bisher kein Gleichmacher zu sein.

ZEIT ONLINE: Man könnte auch sagen: Während der Seuche sind jene im Vorteil, die sich abschotten können.

Milanović: Ich würde noch eine Idee anfügen. Seit Adam Smith glauben wir an die großen Vorteile der Spezialisierung, sowohl für Individuen als auch für Staaten. Und es stimmt ja: Im normalen Leben steigt unsere Produktivität, wenn wir in etwas gut und zu Spezialisten werden. In der Extremsituation einer Pandemie ist das anders. Als Spezialisten sind wir abhängig von der Stabilität um uns herum. Wenn du zu Hause bist und dein Licht geht aus, brauchst du einen Elektriker, um das Problem zu lösen. Wenn dein Computer nicht mehr funktioniert, brauchst du jemanden, der dir hilft. Spezialisten sind im Moment verletzlicher als Nichtspezialisten. Spezialisierung wird zum Defekt.

ZEIT ONLINE: Wenn Menschen mit unterschiedlichen Berufen so unterschiedlich vom Virus betroffen sind: Wird langfristig auch die Ungleichheit der Einkommen steigen?

Milanović: Als Ökonom, der zu Ungleichheit forscht, würde ich gerne sagen: Ungleichheit wird entscheidend. Ich glaube aber, dass wir eher eine Analogie zur Finanzkrise ziehen können. Ich will nicht sagen, dass die Situation gleich ist, aber es gibt Ähnlichkeiten. Ähnlich wie damals sind sowohl die Menschen am oberen Rand, die Bezieher von Immobilien- und Kapitaleinkommen, vom Einbruch an den Märkten betroffen als auch Menschen am unteren Ende durch Jobverluste. Ich rechne damit, dass wegen der Corona-Krise die 50 bis 60 Prozent am unteren Rand signifikante Verluste werden hinnehmen müssen. Zwischen manchen Teilen der Bevölkerung wächst dadurch zwar die Ungleichheit. Insgesamt aber bleibt sie zumindest kurzfristig stabil, denn auch am oberen Rand entstehen erhebliche Verluste. Das Kernproblem in dieser Krise ist nicht Ungleichheit.

ZEIT ONLINE: Sondern? 

Milanović: Dass große Teile der Bevölkerung  über längere Zeit Einkommen verlieren werden. In diesem Jahr wird das nahezu unvermeidlich sein. Die Frage lautet nun: Was für eine Art der Erholung der Wirtschaft erleben wir? Theoretisch ist es denkbar, dass das Virus eines Tages wieder verschwindet, wir alle Lichter wieder anschalten und zurück zum Ausgangszustand gelangen. Dann hätten wir es mit einer kurzen, schweren Krise zu tun, die nach sechs Monaten vorbei wäre. Wenn ich aber die Einschätzung der Epidemiologen lese, weiß ich, dass das nicht so kommen wird. Wir können nicht einfach den Schalter wieder anmachen, weil die Gefahr einer zweiten Infektionswelle zu groß wäre.

"Die Zeit nach der akuten Pandemie wird die schwierigste sein"

ZEIT ONLINE: Viele Fachleute raten zu einer Strategie des Stop-and-go. Das öffentliche Leben wird dabei abwechselnd hoch- und wieder zurückgefahren, je nach Infektionslage.

Milanović: Ja, aber auch das bedeutet, dass Menschen weiterhin Einkommenseinbußen hinnehmen werden müssen, 18 Monate, zwei Jahre, vielleicht länger, bis es einen Impfstoff gibt. Das wird die Geduld vieler Leute auf die Probe stellen.

ZEIT ONLINE: In einem Beitrag für Foreign Affairs haben Sie erst kürzlich vor einem "gesellschaftlichen Kollaps" gewarnt. Sie schrieben, dass sich jene, die nun in der Krise abstürzen, gegen den Rest der Gesellschaft wenden könnten. Es klang fast so, als fürchteten Sie eine Revolution.

Milanović: Revolution ist vielleicht ein zu großes Wort. Für völlig unmöglich halte ich aber auch das nicht. Es stimmt, dass wir bisher kaum Unruhen oder soziale Verwerfungen auf der Welt gesehen haben. Aber erstens sind viele Menschen noch im Lockdown. Zweitens haben sie akut Angst vor dem Virus. Drittens herrscht derzeit noch Solidarität untereinander, weil wir alle das gleiche Virus fürchten müssen. Das alles bedeutet aber nicht, dass wir auf Dauer Solidarität ohne Konflikte erleben werden.

ZEIT ONLINE: Warum sind Sie da pessimistisch?

Milanović: Wir wissen aus der Geschichte, dass es während Kriegen und Epidemien anfangs immer Wellen der Solidarität gab. Diese lösten sich aber mit der Zeit auf. Wenn große Schocks andauern, entsteht Druck auf das soziale Gefüge. Deshalb glaube ich, wird die Zeit nach der akuten Pandemie die schwierigste sein. Das sage ich auch im Hinblick auf Staaten mit hoher Ungleichheit wie Brasilien, Südafrika, sogar Indien und den USA. Wenn die Menschen auf Dauer kein Einkommen haben werden, lassen sich Situationen vorstellen, in denen Unruhen ausbrechen. Wir können diese Möglichkeit nicht ausschließen.

ZEIT ONLINE: Ist diese ökonomische Krise in der Geschichte einzigartig?

Milanović: Meiner Meinung nach erleben wir gerade den Beginn von etwas, das historisch ohne Beispiel ist, ja.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Milanović: Diese Krise lässt sich nicht mit der Steuerung der Nachfrage lösen, noch nicht mal mit Geldpolitik wie zu Zeiten der letzten Finanzkrise. Es ist eine Krise auf beiden Seiten: der Angebots- und der Nachfrageseite. Auf der Angebotsseite, weil die Produktion stillsteht, wenn niemand zur Arbeit gehen kann. Selbst wenn die Zinsen negativ wären oder man Beihilfen für Fabriken zahlen würde, könnte niemand produzieren. Auf der Nachfrageseite, weil die Leute nicht konsumieren können, obwohl sie Geld haben. Das Problem ist die Angst. Und die Angst wird bleiben, wenn wir in den kommenden Monaten alles wieder öffnen, selbst wenn die Menschen Geld haben, selbst wenn sie gewisse Güter kaufen wollen. Nehmen Sie das Beispiel eines Fußballspiels. Gerne würde ich es besuchen. Ich habe auch das Geld dafür. Aber ich werde noch lange Zeit Angst davor haben, ins Stadion zu gehen.

ZEIT ONLINE: Wie kann der Staat auf eine solche Situation reagieren?

Milanović: Im Wesentlichen, indem er das tut, was alle westlichen Staaten bisher getan haben: Das Einkommen von Menschen auszugleichen, die ihren Job verloren haben. Die Frage ist nur: Wie lange geht das? Viele Staaten können das nicht zwei oder drei Jahre durchhalten.

"Es wird Jahre brauchen, um zum alten Zustand zurückzukehren"

ZEIT ONLINE: Allein in Deutschland summieren sich die Hilfen auf bis zu einer Billion Euro.

Milanović: Das Interessante daran ist, dass wir dabei einige unserer Prioritäten überdenken müssen. Bisher haben wir den Leuten in den meisten Fällen Geld gegeben, damit sie etwas dafür tun. Such dir einen Job! Zeig Einsatz! Jetzt müssen wir Geld an Menschen ohne Gegenleistung geben, weil wir ja gerade nicht wollen, dass sie arbeiten.

ZEIT ONLINE: Man könnte sagen: Es handelt sich fast um ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Milanović: Ich würde eher sagen: Es ist ein bedingtes Einkommen. Wobei die Bedingung lautet, dass man möglichst nicht nach Arbeit suchen sollte.

ZEIT ONLINE: Werden es Staaten mit einem gut ausgebauten Sozialsystem leichter haben?

Milanović: Definitiv ja. Vor allem deshalb, weil es in diesen Ländern eine Tradition des solidarischen Handelns gibt. 

ZEIT ONLINE: Wie wird die Krise die politische Debatte verändern?

Milanović: Wir werden sicherlich mehr Zentralisierung erleben. Auch die Rolle des Staates wird wichtiger werden. Ich finde in diesem Zusammenhang das Beispiel Deutschlands interessant. Viele Studien haben dem deutschen Gesundheitssystem immer wieder bescheinigt, es sei ineffektiv und es gebe zu viele Krankenhausbetten. Nun verwandelt sich aber diese angebliche Ineffektivität in Effektivität. Im Moment bemerken viele, dass man gewisse Sektoren nicht wie ein Unternehmen steuern kann: den Gesundheitssektor, den Bildungssektor. Gesundheit herzustellen, ist eben nicht dasselbe wie das Herstellen von Schuhen.

ZEIT ONLINE: Wird die Corona-Krise die Globalisierung zurückdrehen?

Milanović: Das hängt davon ab, wie lange es dauern wird. Im Moment sitzen fast alle Staaten in einem Boot. Solange das Virus auf der Welt aktiv ist, läuft jedes Land Gefahr, es wieder durch Handel zu importieren. Das bedeutet auch, dass wir womöglich länger als zwei Jahre nicht mehr den internationalen Handel betreiben können, den wir gewohnt waren. Wenn das passiert, werden die Unternehmen irgendwann ihre globalen Handelsketten überdenken.

ZEIT ONLINE: Aber spricht denn wirklich vieles dafür, dass das auf Dauer sein wird? Wenn die Krise vorbei ist, wird kein Konsument ein sehr viel teureres Produkt kaufen, nur weil die Lieferkette stabiler ist.

Milanović: Der Ökonom Paul Krugman hat mal gesagt: Der Preis für wirtschaftliche Anpassungen wäre gleich Null, wenn die Geschichte keine Rolle spielte. Die Geschichte spielt aber eine Rolle, wenn Unternehmen erst mal weltweit ihre Produktion an die neue Situation angepasst haben. Eine Rückkehr zum Zustand vor der Krise wäre dann nicht nur mit hohen Kosten verbunden. Es gäbe auch Widerstand all jener, für die der neue Zustand eine Verbesserung ist. Ich sage nicht, dass die Globalisierung dadurch an ihr Ende kommt. Ich sage nur, dass es Jahre, vielleicht ein Jahrzehnt brauchen wird, um wieder zum alten Zustand zurückzukehren.

ZEIT ONLINE: Ihre Prophezeiungen sind düster. Gibt es etwas, das Sie in dieser Krise mit Hoffnung erfüllt?

Milanović: Ich hoffe natürlich, dass diese Krise kurz sein wird und möglichst wenige Menschen sterben werden. Für die Zeit danach sollten wir alle die Lehre ziehen, dass wir als Staaten miteinander verbunden sind. Diese Pandemie zeigt, dass wir mehr internationale Koordinierung brauchen, nicht weniger. Die Welt wäre besser davongekommen, wenn die Weltgesundheitsorganisation stärker gewesen wäre, wenn es mehr internationale Absprachen gegeben hätte. Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg hat die Weltgemeinschaft genau das verstanden: Dass wir effektive internationale Organisationen brauchen. Ich weiß, ich klinge vielleicht idealistisch. Aber wir könnten da einige Dinge sehr viel besser machen.