China-Versteher machen alles noch schlimmer – Seite 1

Kristin Shi-Kupfer leitet den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien und das MERICS Lab. Sie ist Expertin für Chinas Digitalpolitik und Ideologie.

Die Welt hat gerade nicht nur ein großes Problem mit dem Coronavirus. Es geht jetzt zunehmend auch darum, zu ermitteln, wer für diese Krise eigentlich verantwortlich ist – und dabei rückt die chinesische Regierung in den Fokus. Donald Trumps anhaltendes Gepolter über das "China-Virus" mag man dabei ignorieren. Es wächst jedoch auch unter europäischen Regierungschefs der Unmut über die anfängliche Verschleierung der Epidemie im chinesischen Epizentrum Wuhan und fehlerhafte, nach Europa gelieferte medizinische Ausrüstung Made in China. Afrikanische Länder haben ihrer Empörung über die Diskriminierung ihrer Bürger in China Luft gemacht. In den USA wie in Europa rufen Politiker und NGOs dazu auf, die chinesische Regierung international anzuklagen. 

Peking begegnet dieser Verhärtung, indem es Gegenvorwürfe erhebt: Sars-CoV-2 stamme aus den USA oder aus Italien. Chinesische Diplomaten im Ausland suchen gezielt nach Nachrichten, um die Ineffizienz und die Unverantwortlichkeiten liberaler Demokratien zu belegen – mit wechselhaftem Erfolg. Auf in der Volksrepublik gesperrten Soziale-Medien-Plattformen werfen chinesische Offizielle, selbsternannte Patrioten und willige Bots Kritikern aus dem Ausland vor, die Gefühle der chinesischen Bevölkerung verletzt zu haben.

So klagte die chinesische Botschaft in Sri Lanka über ihr Twitter-Konto nach einer temporären Sperrung desselben, dass man ihr Meinungsfreiheit vorenthalte (die in China selbst gar nicht existiert). Das US-amerikanische Unternehmen Twitter messe offensichtlich mit zweierlei Maß und gewähre nur den anderen die Freiheit, um Rassismus und Hass zu schüren. Parallel sucht die chinesische Führung Verbündete im Ausland, die ihr ein gutes Zeugnis im Kampf gegen das Coronavirus ausstellen. 

Chinas Kritik an der Kritik findet auch bei uns Zuspruch

So manche Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler, Ärzte, Journalisten und auch China-Experten aus liberalen Demokratien schließen sich den Klagen aus Peking an. Sie werfen ihren Landsleuten, welche die chinesische Regierung kritisieren, Arroganz und bisweilen auch Rassismus vor. Sie meinen es gut, so sagen sie. Denn mit ihrer Kritik an all jenen, die Peking kritisieren, würden sie vor moralischer Überheblichkeit des Westens, dem Messen mit zweierlei Maß und Haarspalterei warnen wollen. 

Dabei merken sie nicht, dass sie mit ihrer Haltung Rassismus und Arroganz in China fördern: Die von ihnen in Schutz genommene chinesische Führung diskriminiert ethnische und soziale Minderheiten und unterdrückt alle und alles, was ihren absoluten Herrschaftsanspruch gefährden könnte. Wer die Kritiker des chinesischen Regimes pauschal als Rassisten und Hetzer verurteilt, der lädt eine besondere Schuld auf sich: Sie oder er missachtet die vielen mutigen Chinesinnen und Chinesen, die sich ihrer Regierung entgegenstellen: der erste Whistleblower der Corona-Krise, der Arzt Li Wenliang beispielsweise, die Journalistin Fang Fang oder die Bewohner von Wuhan, die "Fake, fake, alles fake" riefen, als eine hohe Delegation aus Peking in ihrem Wohnviertel den Sieg über das Virus feierlich inspizieren wollte.

Aber auch all diejenigen Chinesinnen und Chinesen, die ihr Engagement für Freiheit und Gerechtigkeit teuer bezahlen mussten. Beispielsweise mit lebenslangem Gefängnis wie der uighurische Ökonom Ilham Tohti, mit Folter wie der in Deutschland lebende Bürgerrechtler Liu Dejun, oder gar mit dem Tod wie der verstorbene Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo

Dass es Menschen außerhalb Chinas gibt, die Kritik am chinesischen Regime äußern und sich mit diesen Bürgern Chinas solidarisieren, sie sogar unterstützen wollen, können oder wollen sich die selbsternannten Beschützer Chinas offenbar nicht vorstellen. Sie sprechen westlichen Beobachtern die Fähigkeit und die Befugnis ab, den chinesischen Machtapparat zu kritisieren. Nicht selten begründen sie dies mit der historischen Bürde der westlichen Zivilisation, als die Kolonialmächte im 19. und 20. Jahrhundert auch China unterdrückt und kolonialisiert haben. Die historische Schuld, die der Westen auf sich geladen hat, verbiete daher jede Kritik an dem einstigen Opfer China. So nehmen die Verfechter dieser Linie die heutigen Opfer eines allmächtigen Einparteienstaats offenbar schweigend in Kauf.

China ist eine Diktatur, die USA eine Demokratie

Ferner streiten diese Kritiker die Existenz universeller Menschenrechte oder eines Wertekodex generell ab. Es seien westliche Werte, die man den Chinesen nicht missionarisch überstülpen dürfe. Folgt man dieser Logik, dann sind chinesische kritische Intellektuelle und Aktivisten entweder gehirngewaschene Westler oder Verräter am Vaterland. Dies sind aber genau die Argumente, die die Kommunistische Partei Chinas bemüht, um chinesische Kritiker im In- und Ausland zu diskreditieren und zum Schweigen zu bringen.    

Diejenigen, die zweierlei Maß beklagen, fordern von den Kritikern der chinesischen Regierung in liberalen Staaten zuallererst Selbstkritik. Wenn man mit einem Finger auf andere zeigt, sind drei Finger auf einen selbst gerichtet, sagt man. Richtig. Folgt man diesem Argument, müsste das gleiche auch für all die chinesischen Offiziellen gelten, die mit dem Finger auf Kritiker im In- und Ausland zeigen. Doch wetternde chinesische Botschafter oder beschwichtigende chinesische Geschäftspartner scheinen von dieser Logik ausgenommen.

Diejenigen, die mit zweierlei Maß messen, sagen zudem oft: "Peking macht doch auch nichts anders als Washington", oder: "Xi ist aber doch verlässlicher als Trump." Fakt ist: Donald Trump kann noch so unzuverlässig sein, er kann aber weder die Spuren seines unverantwortlichen Regierungshandelns verwischen, noch offene Kritik, auch aus den eigenen Reihen, verstummen lassen. Das alles könnte Xi Jinping – zumindest Kraft der KP-Statuten. Dass in China kritische Stimmen immer noch vernehmbar sind, sollte uns hoffnungsvoll stimmen. Es sollte uns aber nicht animieren, eine Diktatur mit einer immer noch funktionierenden Demokratie zu verwechseln.   

Pekings Kritiker im eigenen Land brauchen Solidarität

All jene, die den Kritikern der chinesischen Führung Haarspalterei vorwerfen, betonen, wie wichtig gerade in diesen Zeiten eine pragmatische Zusammenarbeit mit China ist. Diese dürfe nicht – auch aus eigenen Interessen und im Namen der Stabilität – aufs Spiel gesetzt werden, ohne China sei keine globale Krise zu lösen. Zudem: Eine Unterscheidung zwischen böser Kommunistischer Partei und guter Gesellschaft sei zu einfach. Eine solche Sichtweise verkenne, dass die KP Chinas sich aus der Gesellschaft rekrutiere und erfolgreich in diese hineinwirke. Zudem würden sich die meisten Kader – wie Politiker in anderen Ländern auch – immer um das Beste für ihre Bevölkerung bemühen. Dabei sei klar: Auch Politiker machten Fehler. 

Diese Position verkennt: Es ist nicht die Kritik an dem chinesischen Regime, die Solidarität und Zusammenarbeit weltweit im Kampf gegen die Corona-Pandemie gefährdet. Viel gefährlicher ist die Feigheit, notwendige, aber unangenehme Wahrheiten nicht beim Namen zu nennen. Immer mehr chinesische Bürgerinnen und Bürger zwingen mit ihrem Mut zur Wahrheit auch ihr eigenes System zu Kompromissen: Bürgerjournalisten und Reporter des Magazins Caixin haben durch ihre investigativen Berichte dafür gesorgt, dass Teile der fürchterlichen Wahrheit in Wuhan nicht völlig verschwiegen werden konnten. Peking hat, wohl auch auf massiven internen Druck hin, die Todeszahlen in Wuhan nach oben korrigiert – wenn auch in einem immer noch kaum glaubwürdigen Umfang. 

Dies zeigt: Auch im Sinne einer effektiveren, erfolgreicheren Kooperation mit China müssten diese kritischen Stimmen aus China bestärkt werden.

Nicht die Kritiker an der chinesischen Führung sind schuld, wenn das politische Peking jedwede Zusammenarbeit mit dem liberalen Ausland aufkündigt. Im Gegenteil: Ein kollektives Schweigen des Westens gegenüber einem autokratischen China würde die Regenten in Peking ermutigen, erhaben über jedwede Kritik so weiterzumachen, als wäre nichts gewesen.