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Umstürze und Verschwörungen: Wie Extremisten die Coronakrise ausnutzen wollen

Islamisten, Links- und Rechtsextreme bespielen ihre Kanäle mit Corona-News – doch wirklich Auftrieb hat nur eine Gruppe.
Foto: Marc Röhlig

Dieser Beitrag wurde am 06.04.2020 auf bento.de veröffentlicht.

Die Identitären in Bautzen sind sicher, dass demnächst alles noch viel schlimmer wird. Kurz bevor man durch eine mögliche Corona-Ausgangssperre daran "gehindert" wird, müsse man daher noch mal raus, schreibt die rechtsextreme Gruppe auf Telegram – mutige Graffitis sprayen.

Auf ihrem Kanal teilt sie dann die Bilder der Aktion: "Liebe machen" steht auf einem Graffiti, "Europa verteidigen" auf einem anderen. Die Botschaften spielen mit der rechtsextremen Verschwörung, dass Europa von Muslimen unterwandert werde. Das gehe gerade völlig unter, behaupten die Identitären: "Die vorherrschende Panik über den Coronavirus lenkt uns zunehmend von den großen Problemen ab." 

Propaganda, Verschwörung – und das Hoffen auf den Umsturz

Dem Telegram-Kanal der Bautzner Rechtsextremen folgen nur etwa 300 Nutzerinnen und Nutzer. Doch mit ihrem Blick auf die Coronakrise sind die Identitären nicht allein. Im Netz versuchen gerade Neonazis, Reichsbürger, Esoteriker, Linksextremisten und Islamisten, mit Propaganda oder Verschwörungen aus der aktuellen Notsituation Kapital zu schlagen. Manche träumen gar ein Ende der Republik herbei. Sie hoffen dabei auf gelangweilte Nutzerinnen und Nutzer, die zwischen Homeoffice und Uni-Aus in ihren YouTube- oder Telegram-Kanälen hängenbleiben.

Längst nicht alle Messengerkanäle sind dabei so dürftig besucht wie die Bautzner Identitären – der Chef-Identitäre Martin Sellner oder der Verschwörungstheoretiker Heiko Schrang erreichen Zehntausende. "Vor allem rechtsextreme Kanäle haben seit Ausbruch der Coronakrise in Deutschland einen extremen Zuwachs", sagt Josef Holnburger zu bento.

Josef studiert Politikwissenschaften und arbeitet als poliltischer Referent für die DGB Jugend. Mitte März hat er gemeinsam mit anderen eine Datenanalyse zur Reichweite rechtsextremistischer Kanäle auf Telegram gestartet – auf Twitter veröffentlichte er nun erste Ergebnisse. Vor allem Kanäle, die Verschwörungstheorien verbreiten, bekommen täglich Tausende neue Nutzer. Ihre Videos werden in anderen Kanälen, auf YouTube oder weiteren Messengern weiterverbreitet – und erreichen zwischen 40.000 und 60.000 Aufrufen.

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Das war nicht immer so. Lange wurde der Coronavirus ignoriert oder als Hoax bezeichnet, auch noch zu Zeitpunkten, in denen es in Deutschland erste Todesfälle gab und die ersten Einschränkungen erlassen wurden. Nun kann Josef den Anstieg der Klicks auf den Tag genau festmachen: es ist der 18. März, der Tag von Angela Merkels Fernsehansprache zum Umgang mit der Coronakrise (SPIEGEL). 

Rechte träumen vom Umsturz – die Coronakrise passt in ihr Narrativ

Mehrere Kanäle hätten ab dem Moment begonnen, massiv Videos zu teilen. Die rechtsextreme Bürgerbewegung "Ein Prozent" hat dazu auch einen Podcast gestartet. In den folgenden Tagen holten sie mehr und mehr Follower. 

Das beliebteste Narrativ der Rechten: Die Regierung macht nicht genug oder alles falsch oder vertuscht gezielt Informationen. Oft wird das gepaart mit Aufrufen zur Gegenwehr. Einen "Umsturz" wünschen sich gerade Reichsbürger und Rechtsextreme schon länger, nun – so ihre Hoffnung – können sie ihn in Zeiten von Corona den Bürgerkrieg aktiv herbeischreiben.

Fast immer geht es dabei auch um Zugezogene. Viele Kanäle wollen das Virus mit Geflüchteten in Verbindung bringen. Der Identitäre Martin Sellner empfiehlt seinen Anhängern, Kontrollfahrten vor Asylunterkünften – um zu überprüfen, ob auch alle Anwohnerinnen und Anwohner sich an Ausgangssperren halten. Oft verbreitet wurde in den vergangenen Tagen auch ein Video von angeblichen Plünderungen durch Migranten in Paris. Tatsächlich ist es ein Jahr alt und zeigt einen Gang-Kampf (Mimikama ). 

Beliebt sind Verschwörungstheorien – selbst wenn sie sich widersprechen

Eines der erfolgreichsten Videos sei ein nur 13-sekündiger Schnipsel aus einer italienischen Pressekonferenz, sagt Telegram-Beobachter Josef. Darin geht es um die Zählung von Corona-Toten: "Der Ausschnitt ist echt, aber er wird mit dem Framing verbreitet, dass bei Zahlen geschummelt werde." Das Beispiel sei nicht untypisch für die rechten Kanäle: Echte Quellen, aber völlig aus dem Zusammenhang gerissen und umgedeutet – mit dem Ziel, das Krisenmanagement der Bundesregierung anzugreifen. 

Verschwörungen verbreiten sich immer in Krisenzeiten besonders schnell – das wollen die Rechtsextremen nun ausnutzen.

Josef Holnburger

Josef fiel dabei auf, dass sich viele der verbreiteten Verschwörungstheorien gegenseitig widersprechen. So gibt es Kanäle, die behaupten, die Krankheit Covid-19 sei eine bewusste Falschmeldung der Regierung, um das Bargeld abzuschaffen. Wenig später teilen sie eine Theorie, nach denen das Coronavirus doch real sei – aber in Wahrheit kein Virus, sondern ein geheimer Impfstoff für die Massen.

Dass sich Verschwörungstheoretiker selbst widersprechen, ist ein bekanntes Phänomen. Forscher haben es bereits 2012 in einer Studie  nachgewiesen. Wichtig ist denen, die daran glauben demnach nicht, ob die Theorien schlüssig sind – sondern nur, ob sie ihr Weltbild stützen.

Derzeit organisieren sich Rechtsextreme, Schamanen und Esoteriker in einem gemeinsamen "Onlinekongress". Wer teilnehmen will, muss 100 Euro zahlen, dann werden YouTube-Interviews freigeschaltet, die "ganzheitlich" und "unzensiert" über die Coronakrise berichten würden. Die Sprecherliste ist ein "Who is Who" der deutschen Verschwörerszene. Mehr als 26.000 Interessierte sollen sich angeblich registriert haben.

Islamisten bezeichnen das Virus als "gottgesandt" – aber haben trotzdem Angst

Auch islamistische Kreise haben spät auf die Coronakrise reagiert – aber sind nun eifrig dabei, krude Theorien und Umsturzaufrufe zu verbreiten. In vielen Kanälen wird das Virus als "Soldat Gottes" oder "Zerstörer der Unterdrücker" bezeichnet, wie der Islamismusexperte Aymenn al-Tamimi auf seinem Blog  schreibt. Es treffe wahlweise nur den Westen – oder sei herabgesandt worden, um die chinesische Regierung dafür zu bestrafen, die muslimische Minderheit der Uiguren im Land zu verfolgen. Dass mittlerweile auch viele muslimische Länder vom Coronavirus befallen sind, ignorieren die Hassprediger. 

Widersprüchliches hat die Terrormiliz "Islamischer Staat" über ihr Propagandablatt "An-Naba" verbreitet: Dschihadisten sollten zum einen "das Land der Pandemischen", also den Westen, meiden. Allerdings seien westliche Länder selten so ungeschützt wie jetzt, das Coronavirus sei entsprechend eine "Chance" zum Anschlag.

Bei jungen Muslimen in Deutschland verfängt diese Rhetorik kaum, glaubt Mehlike Dannemann. Die Politologin arbeitet bei Vaja  in Bremen als Streetworkerin und Beraterin. Der Verein ist seit knapp 30 Jahren in der Straßensozialarbeit tätig, hilft Jugendlichen in Distanzierungsprozessen. Da alles im direkten Gespräch erfolgt, trifft Mehlike derzeit niemanden – durch ihre Blicke in Chatgruppen kann sie dennoch nachvollziehen, wie Muslime auf Hasspredigen und Verschwörungen rund um Corona reagieren. 

Die deutsche Islamistenszene bleibt ruhig

"In vielen Telegram-Kanälen klagen die Nutzerinnen und Nutzer, dass über das Coronavirus das Leid vieler Muslime auf der Flucht oder in Kriegsländern vergessen wird", sagt Mehlike. Das gehe aber nicht damit einher, dass nun zu Gegenangriffen aufgerufen wird: "Wenn das vereinzelt einer schreibt, ist das eher ein Aufplustern als eine echte Drohung." 

Auch Thomas* glaubt nicht, dass die islamistische Szene in Deutschland nun plötzlich aktiv wird. Der Deutsche war noch vor wenigen Jahren selbst aktiv und wurde als islamistische Gefährder eingestuft. bento hat ihn vor drei Jahren zum Gespräch getroffen (Hier gehts zum Text). Nun sagt er von sich, er habe den Extremisten abgeschworen und nehme an Deradikalisierungsprogrammen teil. Die Anschlagsdrohungen des IS hält Thomas für heiße Luft. Und überhaupt: 

Wen wollen diese IS-Vollidioten denn in die Luft jagen, wenn gerade alle zuhause sind?

Ex-Islamist Thomas

Der Berliner Verfassungsschutz kommt zu einer ähnlichen Einschätzung. In einem Stratgiepapier, dass dem "Tagesspiegel"  vorliegt, heißt es, islamistische Kanäle würden es bei Hetze belassen und auch aus linksextremen Kreisen liegen bislang keine konkreten Hinweise auf Anschlägspläne vor.

Rechtsextreme Einzeltäter könnten zum "Beschleuniger" werden

Einzig das rechtsextremistische Spektrum umtreibt die Geheimdienstler. Zwar gebe es auch dort keine Hinweise daraf, dass die aktuelle Lage für gewaltsame Aktionen ausgenutzt werde. Aber: 

Gewaltorientierte Aktionen ungebundener, auch irrationaler Einzelakteure – lone actors – sind gleichwohl weiterhin möglich.

Berliner Verfassungsschutz

Was der Verfassungsschutz meint: Einzeltäter wie zuletzt in Halle oder Hanau könnten sich durch die aufwiegelnden Parolen aus den Telegram-Chats und YouTube-Videos motiviert fühlen. Auch Telegram-Analyst Josef hält diese Gefahr für realistisch. "Es gibt Menschen, die ein Ende der Demokratie oder einen Umsturz herbeisehnen", sagt Josef, "und die sind jetzt gefährlich".

*Name geändert

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