Atomkrieg, Terror, Pandemie: Alles hat die Schweiz geübt. Jetzt ist der Ernstfall eingetreten, ähnlich und doch anders als erwartet. Und manche sagen: Nun übe man eben in der Krise

Das Krisenmanagement hat sich im Verlauf der Jahre gewandelt und entmilitarisiert. Doch die Konflikte sind die gleichen geblieben: Wer hat am meisten Einfluss und Ressourcen?

Georg Häsler Sansano, Bern 2 Kommentare
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Die Übung beginnt in der blauen Stunde am frühen Morgen. Es riecht nach Kaffee aus dem Papierbecher. Da und dort ein fauler Spruch gegen die Nervosität. Die Beamer projizieren bereits die wichtigsten Folien an die Wand.

Nach monatelangen Vorbereitungen trainieren alle möglichen Akteure des Sicherheitsverbunds Schweiz (SVS) für den Fall eines Terroranschlags auf den Hauptbahnhof Zürich. Beübt sind, wie es im Jargon heisst, die kantonalen Polizeikorps, Krisenstäbe in der ganzen Schweiz und Teile der Bundesverwaltung.

Es ist November 2019, das Szenario der Übung liegt in einer undefinierten Zukunft. Niemand ahnt, dass dies der letzte Stresstest für das System Schweiz vor der Corona-Krise ist.

Die Stimmung vor dem Startschuss ist vergleichbar mit dem Warten auf eine Prüfung – oder einem Treffen alter Kameraden. Dies ist aber keineswegs despektierlich gemeint. Im Gegenteil:

Das Erlebnis gemeinsamer Übungen spielt für das schweizerische Krisenmanagement eine entscheidende Rolle.

Es gilt das Prinzip «in der Krise Köpfe kennen». Bei der Bewältigung von Extremsituationen hat dieser menschliche Faktor zuweilen mehr Gewicht als alle Organigramme, Weisungen und Reglemente.

Problem «Silo-Denken»

Der Schlussbericht zur Sicherheitsverbundsübung (SVU19) im November liegt erst im Entwurf vor. Doch bereits kam es zu ersten Gehässigkeiten. Kritische Bemerkungen des Aargauer Landammanns Urs Hofmann in seiner Rolle als Präsident der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) an der Schlussveranstaltung der Übung führten zu einer pikierten Reaktion des Bundesrats.

Konkret fehlt den Kantonen so aus Sicht des KKJPD-Präsidenten der Ansprechpartner beim Bund: «Weil weder die Departemente des Bundes noch die Bundeskanzlei aktiv an der Übung teilnahmen, konnten wir diesen wichtigen Bereich schlicht nicht üben.»

Im Dezember kam es zu einer genervten Aussprache unter den Generalsekretären der Departemente und der Bundeskanzlei. Dies nur Wochen vor der Corona-Krise. Doch die Diskussionen um die Sicherheitsverbundsübung (SVU19) stammen scheinbar aus einer anderen Zeit.

Jetzt ist der Ernstfall eingetreten, ähnlich und doch ganz anders als immer wieder geübt. Die Schweiz erlebt die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. La réalité surpasse la fiction.

Wer je an einer solchen umfassenden Übung teilgenommen hat, kniff sich an den Pressekonferenzen zu Beginn der Corona-Krise in den Arm. Die Kadenz der Ereignisse, die Wortwahl der Verantwortlichen und auch die Fragen der Journalisten erinnerten an die Übungsanlagen und Rapporte der vergangenen Jahre.

Die Ereignisübersicht im Lageverfolgungszentrum der Übungsleitung anlässlich der SVU19 im November 2019.

Die Ereignisübersicht im Lageverfolgungszentrum der Übungsleitung anlässlich der SVU19 im November 2019.

Anthony Anex / Keystone

Sind diese Augenblicke der Erinnerung an die Übungen ein gutes Zeichen für die Vorbereitung des schweizerischen Krisenmanagements? Kämpft das Land in der Corona-Krise also tatsächlich, wie es übt? Denn auch dies ist ein Prinzip der schweizerischen Sicherheitskultur: «Übe, wie du kämpfst.»

Mitarbeitende der Bundesverwaltung sagen, die grossen Übungen seien jeweils viel zu dicht. Es passiere viel zu viel in zu kurzer Zeit. Wichtig sei doch, dass man gerade in einer Krise wie gewohnt weiterarbeiten könne.

Genau dort hat es in der Vergangenheit dem Vernehmen nach geharzt. Die Übungsleiter sind wiederholt zum Schluss gekommen, dass die Verantwortlichen auf Stufe Bund zu lange im üblichen Verwaltungsmodus verharrt hätten, statt ins Krisenmanagement zu wechseln. Motto: «Gäng wie gäng.» Ja nicht aus dem eigenen Silo raus. Jeder für sich. Ein Insider sagt im Gespräch mit der NZZ, jetzt übe man halt in der Krise.

Bundesrat legt Themen der Übungen fest

In den letzten zehn Jahren haben sich zwei Übungstypen etabliert: In den Strategischen Führungsübungen (SFU) werden der Bundesrat, die Departemente und die Bundeskanzlei beübt. Die Verantwortung trägt die Bundeskanzlei. Die Sicherheitsverbundsübungen (SVU) dagegen betreffen die operative Stufe. Sie fokussieren auf das Zusammenspiel der Verwaltung mit den Kantonen und Partnerorganisationen wie Polizei oder Zivilschutz über alle Staatsebenen hinweg. Die SFU finden alle vier Jahre statt. Die nächste ist für 2021 vorgesehen.

Das Übungsthema legt jeweils der Bundesrat fest. Ähnlich wie in der Beurteilung der Risiken spielt auch bei den Szenarien die politische Grosswetterlage eine entscheidende Rolle. So stand in den letzten Jahren der internationale Terror im Fokus, ausgelöst durch die jihadistische Bedrohung. Zuvor übten Bundesrat und Verwaltung vor allem Themen aus dem Bereich Existenzsicherung. 2005 und 2014 war eine Influenza-Pandemie Teil des Szenarios.

Zwischen Kitt und Filz

Militärische Bedrohungen als Übungsthema sind nach der strategischen Wende 1989 ganz aus der Mode gekommen. Gewalttätige Konflikte waren höchstens noch unterhalb der eigentlichen Kriegsschwelle vorstellbar. Deshalb wurde das schweizerische Krisenmanagement in den 1990er Jahren grundlegend umgebaut, basiert aber nach wie vor auf dem Fundament der Gesamtverteidigung aus dem Kalten Krieg.

Dieses umfassende Konzept ging von einem europäischen Grosskrieg inklusive begrenzter Atomschläge aus. Die Armee hatte die Aufgabe, für den «hohen Eintrittspreis» zu sorgen, also mit einem starken Militär einen möglichen Gegner vom Gedanken abzubringen, überhaupt anzugreifen. Gleichzeitig setzte die Politik alles daran, damit die Bevölkerung einen möglichen Nuklearschlag überleben kann.

Die Gesamtverteidigung verband diese zwei Ziele. Laut einem Bericht des Bundesrates von 1968 sollte sie die Unabhängigkeit des Landes wahren und das Leben der Bevölkerung «jederzeit und gegen jede Art des Angriffs» schützen: «Sie umfasst alle hierfür notwendigen militärischen und zivilen Massnahmen.»

Gustav Däniker: Der Chefdenker der Gesamtverteidigung.

Gustav Däniker: Der Chefdenker der Gesamtverteidigung.

PD

Gustav Däniker, Militärpublizist, Divisionär und Stabschef Operative Schulung (SCOS), hat die Konzeption massgeblich mitgeprägt. Er war der Chefdenker der Gesamtverteidigung. In seiner Schrift über die politisch-gesellschaftlichen Möglichkeiten des Kleinstaats Schweiz schreibt Däniker 1966, dass auch die Zivilbevölkerung imstande sein müsse, «eine Anzahl Atomschläge des Gegners zu kassieren, ohne zusammenzubrechen».

Däniker sah in einer Kombination strikter Neutralität und umfassender Kriegsvorbereitung die Möglichkeit, zu vermeiden, dass die Schweiz ein Angriffsziel darstellte. Sein Film über die «wehrhafte Schweiz» für die Expo 64 in Lausanne wurde sogar für den Oscar nominiert. Däniker war aber politisch stets umstritten. Genauso wie die Idee der Gesamtverteidigung.

In den 1980er Jahren war Däniker als SCOS auch für die Übungen zuständig. Szenarien und Denkweisen waren militärisch geprägt. Dennoch führten die Gesamtverteidigungsübungen dazu, dass sich die Köpfe im Hinblick auf mögliche Krisen kennenlernten. Es war die Gelegenheit, bei der sich Diplomaten mit Veterinäroffizieren trafen – oder militärische AC-Schutz-Spezialisten mit Politikern.

Die Idee der Gesamtverteidigung wirkt nach

Das System setzte auf eine hohe Beteiligung der Gesellschaft, die es ermöglichen sollte, eine existenzielle Bedrohung gemeinsam zu bestehen. Der Milizgedanke, also das Engagement für den Staat im Nebenamt, spielte dabei eine wesentliche Rolle. Der Wechsel zwischen militärischer Milizfunktion und zivilem Beruf war vor der strategischen Wende eine Selbstverständlichkeit. Die Kleinräumigkeit des Landes und die persönlichen Erfahrungen sorgten für Kitt – oder Filz, wie dies Kritiker nennen würden.

Strukturell verband das Leitungsorgan für Gesamtverteidigung die militärischen und die zivilen Stellen. Es wurde beim damaligen Militärdepartement (EMD, heute VBS) angegliedert. «Dadurch schien der Übergang von der Friedens- zur Kriegsorganisation am reibungslosesten gewährleistet», schreibt der Historiker Fritz Kälin in seiner Dissertation.

Kälin hat die Gesamtverteidigung detailliert aufgearbeitet. Der Schutz der Bevölkerung stand laut seiner Forschung im Zentrum. Deshalb erhielt schliesslich auch jeder Neubau in der Schweiz einen Luftschutzkeller. Ab 1973 rückte zunehmend auch die «Landesversorgung in nicht kriegsbedingten Lagen» in den Fokus. Der zivile Bereich wurde mit einbezogen.

In sogenannten koordinierten Diensten wurde das Zusammenwirken aller möglichen Bereiche der Gesamtverteidigung sichergestellt: von der Versorgung über den Lawinendienst bis zum AC-Schutz.

Der Koordinierte Sanitätsdienst (KSD), der in der Corona-Krise nun eine Schlüsselrolle spielt, stammt also aus der Konzeption der Gesamtverteidigung. Noch heute soll er die Armee, den Bevölkerungsschutz und das zivile Gesundheitswesen miteinander vernetzen. Diese Nachwirkungen der Gesamtverteidigung werden aber kritisiert.

Neuorientierung nach dem Kalten Krieg

Denn bis heute gehört der KSD zur Armee. Schon vor der Corona-Krise führte dies zu Diskussionen. In einem Gutachten von 2018 empfiehlt Thomas Zeltner, ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), der KSD solle direkt dem Generalsekretariat des VBS unterstellt werden.

Zeltner begründet den Reorganisationsvorschlag mit möglichen Zielkonflikten: «Die reale oder allenfalls nur perzipierte Gefahr, dass die Geschäfte des KSD durch eine Armee-dominierte Perspektive betrachtet und beurteilt werden, ist nicht von der Hand zu weisen.»

Sowohl bei der Beurteilung der Risiken als auch in den konkreten Strukturen des Krisenmanagements ging und geht es stets auch um Ressourcen und Definitionsmacht – also um Politik.

Selbst im Kalten Krieg standen laut Historiker Kälin der «Primat der militärischen Absicherung» und die Gesamtverteidigung immer wieder unter einem Rechtfertigungsdruck. Etwa in der Zeit der Entspannung zwischen dem Westen und dem Ostblock bis Mitte der 1970er Jahre.

Nach der Wende 1989 verschob sich das Gewicht endgültig weg vom militärisch dominierten Krisenmanagement zu Themen der Existenzsicherung.

In einer Broschüre über die Sicherheitspolitik der Schweiz von 1992 stellt der damalige Informationschef der Zentralstelle für Gesamtverteidigung fest, dass die strategischen Veränderungen eine Neuorientierung nötig machten: «Breite Kreise unserer Bevölkerung halten die sogenannten neuen Gefahren wie Umweltschäden, Drogen, Epidemien und Katastrophen für bedrohlicher als die zurückgegangene Kriegsgefahr.»

Bereits 1992 übten Bundesrat, Verwaltung und Armee eine ausserordentliche Lage unterhalb der Kriegsschwelle, 1997 standen zivilisatorische Herausforderungen im Vordergrund. Damit werde den gewandelten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen seit dem Ende des Kalten Krieges Rechnung getragen, schrieb der Bundesrat damals in seiner Medienmitteilung: «Die neukonzipierte strategische Schulung für die Stäbe der Verwaltung soll sich an der gesamten Politik und nicht nur an existenziellen Krisen ausrichten.»

Die Gesamtverteidigungsübungen waren Geschichte. Kälin spricht von einer «Debellifizierung» des schweizerischen Krisenmanagements. Beim «Ausbruch des globalen Weltfriedens», wie ein Insider den politischen Zeitgeist beschreibt, sei das von der Armee bereitgestellte Krisenmanagement nur noch belächelt worden. 1998 wurde die Zentralstelle für Gesamtverteidigung aufgelöst. Die zivilen Stellen übernahmen. Es begann eine Zeit des Umbruchs – und auch der Unsicherheit.

Management der Corona-Krise

Es folgte eine schrittweise Neuorganisation der verschiedenen Bereiche des Krisenmanagements und der Mittel der Sicherheitspolitik. Die eingespielte Zusammenarbeit zwischen der Bundesverwaltung und der Armee verkümmerte auf ein Minimum – ebenso die persönliche Vernetzung zwischen Offizierskorps und den zivilen Verantwortungsträgern in den Departementen.

Heute bündelt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs) die wesentlichen Instrumente der Existenzsicherung wie den Zivilschutz, die Nationale Alarmzentrale oder das international renommierte Labor Spiez, das für die atomare, chemische und biologische Bedrohung zuständig ist.

Die Landesverteidigung bleibt der Primärauftrag der Armee, sie kann aber, wie die Corona-Krise zeigt, auch die zivilen Behörden unterstützen. Die Koordination zwischen den einzelnen Akteuren von Bund und Kantonen übernimmt der Sicherheitsverbund Schweiz (SVS). Dank den Übungen der letzten Jahre entwickelten sich in diesem Rahmen Ansätze einer neuen Gesprächs- und auch Streitkultur über die verschiedenen Staatsebenen hinweg – nie ganz frei von politischen Interessen.

Im Juni 2019 erliess der Bundesrat die neuen Weisungen über das Krisenmanagement in der Bundesverwaltung. Diese regeln das Zusammenspiel der Krisenstäbe und machen Vorgaben über die Ausbildung der Krisenstäbe.

Die Verwaltung hat damit einen Leitfaden, an dem sie sich nun auch in der Corona-Krise orientiert: Die Federführung für den Pandemiefall hat der Bundesrat dem betroffenen Fachdepartement übertragen: dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) als Dreh- und Angelpunkt. Somit sind Bundesrat Alain Berset und Daniel Koch als Delegierter des BAG für Covid-19 die Gesichter der gegenwärtigen Krise.

Diskussionen über die Rolle des BAG

Auf der strategischen Ebene wird die Landesregierung vom Krisenstab des Bundesrats Corona (KSBC) beraten. Dieser wird von Lukas Bruhin geführt, ehemals EDI-Generalsekretär und designierter Präsident des Institutsrats der Heilmittelprüfstelle Swissmedic.

Die Departemente delegieren Schlüsselfunktionäre in den KSBC – und senden damit auch politische Zeichen aus. So sitzt für das Aussendepartement (EDA) Staatssekretär Roberto Balzaretti im Krisenstab. Das Wirtschaftsdepartement (WBF) dagegen schickt einen persönlichen Mitarbeiter von Bundesrat Guy Parmelin: den strammen SVP-Mann Gabriel Lüchinger. Vertreten im KSBC sind auch die Kantone.

Der Corona-Krisenstab

Schema der Bundeskanzlei für das Corona-Krisenmanagement
Der Corona-Krisenstab - Schema der Bundeskanzlei für das Corona-Krisenmanagement

Der Bundesstab Bevölkerungsschutz (BSTB) ist für die operative Ebene des Krisenmanagements zuständig und wird in der gegenwärtigen Krise vom BAG geführt. Hier fliessen die Informationen zur Lage und zu den eigenen Mitteln für die Krisenbewältigung zusammen. Der BSTB ist so auch die Schnittstelle zwischen den Bedürfnissen der Kantone und den Möglichkeiten, diese zu unterstützen.

Organisatorisch etwas quer in der Landschaft ist die Task-Force des BAG: ein zusätzliches Fachgremium, das neben dem BSTB steht. Kritiker innerhalb der Verwaltung stellen ohnehin die Frage, ob der Lead beim zuständigen Fachamt sinnvoll sei. Das BAG ist die warnende Stimme aus Sicht der Epidemiologie und der Medizin. Die übrigen Interessen müssten aber gleichberechtigt zu Wort kommen.

Kritikpunkt Lagedarstellung

In der Corona-Krise wurde vor allem eine Überlastung des zivilen Gesundheitswesens befürchtet. Dem BSTB steht deshalb das Koordinationsgremium (Sanko) des Koordinierten Sanitätsdiensts zur Verfügung, um den Spitälern zusätzliche Ressourcen bereitzustellen. Klingt komplex, ist aber zentral, um etwa das geballte Aufgebot von Soldaten und Zivilschützern im März zu verstehen.

Über 300 Gesuche der Kantone gingen ein. Einen Moment lang sah es so aus, als ob auch die militärischen Mittel nicht mehr ausreichten. Die Polemik, die Armee habe sich in Szene setzen wollen, ist ein buchstäblicher Schuss an der Scheibe vorbei. Aber auch da geht es um Politik.

Auch die Lagedarstellung läuft letztlich über den BSTB. Es steht dafür ein elektronisches Mittel des Babs zur Verfügung: Die elektronische Lagedarstellung (ELD). Diese eröffnete die Möglichkeit, dass alle involvierten Stellen über alle Stufen hinweg über das gleiche, konsolidierte Lagebild verfügen könnten. Das Mittel wird aber zu wenig konsequent eingesetzt.

Dieser Aspekt wurde bereits an der SFU 2017 kritisiert. Das fehlende gemeinsame Lagebild sei ein fundamentaler Schwachpunkt in der nationalen Krisenbewältigung, heisst es im Schlussbericht. Die verschiedenen Akteure von den Kantonspolizeien bis zur Armee nutzten die unterschiedlichsten Lage- und Führungssysteme. Die Weiterentwicklung der ELD müsse prioritär behandelt werden.

Eine Schlüsselfunktion im schweizerischen Krisenmanagement übernimmt die Bundeskanzlei (BK). Eigentlich hat sie die Rolle der ehemaligen Organe der Gesamtverteidigung übernommen. Sie trägt zum Aufbau der Krisenmanagementstrukturen bei und leistet Führungsunterstützung für den Krisenstab des Bundesrats. Die BK führt die Krisenkommunikation und ist gegenüber den Departementen weisungsbefugt.

Unstimmigkeiten im Rollenverständnis

Vizekanzler André Simonazzi hat tatkräftig am Aufbau des Krisenmanagements des Bundes gearbeitet. Für ihn sind Vorsorgeplanungen für das Risikomanagement und die ordentlichen Aufgaben wichtige Instrumente, aber der falsche Ansatz zur Bewältigung komplexer Krisen.

Denn solche Krisen seien anders – und nicht vorhersehbar: «Entscheidend sind Flexibilität, klare Entscheidungswege und gute Strukturen, nicht Pläne nach Szenarien, die nie der Realität einer komplexen Krise entsprechen», sagte Simonazzi gegenüber der NZZ. «Es hat sich gelohnt, in den letzten Jahren für den richtigen Weg zu kämpfen.»

Die Zusammenarbeit im Dreieck Krisenstab des Bundesrates, Bundesstab Bevölkerungsschutz und Krisenkommunikation habe sich in der Corona-Krise bisher bewährt, stellt Simonazzi fest. «Aber sicher müssen wir auch unsere Lehren ziehen. Das ist bei einer Krise nicht anders als in einer Übung. Am meisten lernen können wir aber aus echten Krisen.»

Kritiker sagen, auch in der gegenwärtigen Situation werde – ähnlich wie in den Übungen – zu sehr in Silos gedacht und gehandelt.

Erste Erfahrungen in der laufenden Krise zeigen aber auch, dass die Schweiz heute zwar polyvalenter aufgestellt ist als in den Zeiten der Gesamtverteidigung. Es fehlt aber möglicherweise ein konsequenter Prozess, der eine Kontinuität vom Risiko- zum Krisenmanagement garantiert. In den normalen Lagen arbeiten die verschiedenen Stellen in ihren Silos. Die wirkliche Vernetzung findet erst in der Krise selbst statt.

Andere Zeiten, ähnliche Themen

Die Punkte, die am Krisenmanagement kritisiert wurden, blieben über die Jahre hinweg ähnlich. Bereits im Kalten Krieg, als in militärischen Prozessen geführt worden war, kam es im Rahmen der Gesamtverteidigungsübungen laut der Dissertation von Fritz Kälin immer wieder zum Kompetenzstreit über die strategische und die operative Verantwortung.

Umso wichtiger sind die Übungen. Sie bilden das Schmiermittel in den komplexen Strukturen des schweizerischen Systems mit seinen unterschiedlichen Kulturen. Hier die Blaulichtorganisationen und das Militär, die in Lagen und Handlungsoptionen denken. Dort die Politik und die Verwaltung, die zuerst fragt: Was ist meine gesetzliche Grundlage? Bin ich überhaupt zuständig?

Im Kern geht es nicht um die konkreten Themen der Übungen, sondern um die Strukturen. Daran haben weder die strategische Wende 1989 noch die Gewichtsverschiebung vom militärischen in den zivilen Bereich etwas geändert. Das Ziel der Übungsleitung bleibt, die verschiedenen Akteure noch mehr aus ihren Silos herauszuholen – und miteinander zu vernetzen.

Auch deshalb spielt die Politik stets eine Rolle – jetzt, im Ernstfall, aber auch im Training des Krisenmanagements.

Wie entscheidend die persönlichen Kontakte im Notfall sind, dokumentiert Kälin in seiner Dissertation: «Das wenig überzeugende Krisenmanagement bei der Swissair-Krise von 2001 – die Gesamtverteidigungsübungen waren damals bereits Geschichte – zeigte deutlich, dass die früher regelmässig gepflegten persönlichen Beziehungen sehr locker geworden waren.»

Es ist deshalb wohl richtig, dass die Lehren aus der Krise die Basis der nächsten grossen Übung bilden. Die Anekdoten, die dann während der Stabsarbeit erzählt werden, dürften diesmal aus den Corona-Zeiten stammen. Man kennt sich aus der Krise.

Erste Lehren aus der Krisenbewältigung

mdr. Die Corona-Pandemie zeigt Schwächen im Risiko- und Krisenmanagement der Schweiz. Die NZZ analysiert in einer Serie die Aspekte der Krise und versucht, erste Lehren zu ziehen. Der nächste Teil zu den Erfahrungen mit Sars und der Schweinegrippe erscheint am Mittwoch, dem 20. Mai.

Bisher erschienen:

1. Teil: Dem Bund war das Risiko einer Pandemie bekannt

2 Kommentare
Werner Moser

Am meisten Einfluss und Ressourcen hat in einem aufgeklärten, halb-direkt-demokratisch, föderalistisch organisierten Rechtsstaat dieser Staat. Welcher sich via Verfassung und Gesetze das Mandat gegeben hat, alles zu üben, was er im Ernstfall für Volk / Land mandatsgemäss zu erledigen hat. Jetzt ist ein Ernstfall eingetreten (welcher immer anders daher kommt, als erwartet!). Und dieser Rechtsstaat hat auftragsgemäss dieses Mandat bis heute ordentlich erledigt. Da wurde nicht in der Krise geübt, sondern dieser gerecht geworden. Wobei bei einer Pandemie (anders als Atomkrieg/Terror) es von Anfang klar war, dass es die Wissenschaft sein muss, welche de facto für die Politik den Takt schlägt. Wer denn sonst in einer aufgeklärten Bildung-Schweiz? Wo sofort klar war, dass sich ein Virus à la Corona für Krisenübungen nicht eignet.  Diesen gilt es so schnell wie möglich zu "entschlüsseln". Und sich bis zu diesem Zeitpunkt so diszipliniert zu verhalten, dass man sich von ihm nicht vernichten lässt. Natürlich hat sich das Krisenmanagment (Wissenschaft) gewandelt, auch wenn die Konflikte im Kern die gleichen blieben. Wäre zu Beginn des 21.Jh. enorm irritierend, wenn dem nich so wäre. Aufgeklärt und gebildet, eben!