Von bösen Mächten wunderbar geborgen – Seite 1

Mitte April verwickelte mich ein guter Bekannter auf der Straße in ein Gespräch über die Corona-Krise. Er sei sich noch nie so im Unklaren gewesen wie jetzt. Ich nickte, ich konnte das nachvollziehen. Dann aber sagte er: "Ich verstehe halt nicht, warum sie dafür die Wirtschaftskrise in Kauf nehmen." Ich fragte ihn, wen er mit "sie" meint, aber er lächelte nur geheimnisvoll. Am nächsten Tag hielt mir auf der Straße eine bürgerlich aussehende Frau mit Kinderwagen unaufgefordert einen Vortrag über die Pläne der Impfmafia. Als ich einem Freund am Telefon davon erzählte, wurde er plötzlich sehr aufgeregt: Er werde eher sterben, als sich zwangsimpfen zu lassen. Seitdem sehe ich von ihm auf Facebook täglich mindestens ein sehr langes Posting zum skandalösen Irrsinn der Corona-Panik.

Solche Begegnungen erleben gerade viele Menschen. Manche äußern sich genervt, herablassend oder besorgt über "Aluhutträger". Mehr denn je scheint sich das Land in die Vernünftigen und die Spinner zu spalten. Aber ist es so einfach? Stimmen die gängigen Annahmen über sogenannte Verschwörungstheoretiker? Oder machen es sich auch vermeintliche Stimmen der Vernunft oft zu einfach? 

Dem Namen nach sind Verschwörungstheorien einfach Theorien über Verschwörungen. Entsprechende Vermutungen müssen keineswegs falsch sein. Es gibt ja durchaus geheime Machenschaften von Gruppen, die sich gegen das Gemeinwohl richten. Drogenkartelle etwa könnten keine Geschäfte machen, gäbe es nicht bis weit in die vermeintlich ehrbare Gesellschaft hinein Menschen, die deren kriminelles Tun decken, befördern, ermöglichen würden; schmutziges Geld zum Beispiel gelangt nicht von selbst gewaschen in den regulären Geldkreislauf. Hinter Watergate, dem bis heute größten Politskandal in der Geschichte der USA, verbargen sich klandestine Aktivitäten hochrangiger Mitarbeiter des Weißen Hauses und der Wiederwahlkampagne des damaligen Präsidenten Richard Nixon – es handelte sich im Kern eindeutig um eine Verschwörung. Aktuell deuten Ermittlungen gegen mögliche rechtsextreme Netzwerke etwa in der Bundeswehr an, dort könnten Menschen in verschwörerischer Absicht zumindest von der Bildung einer Untergrundarmee fantasiert haben.

Die Existenz von Verschwörungen von vornherein auszuschließen, wäre demnach naiv. Ein misstrauisches Hinterfragen von Autoritäten, Experten und Regierungsplänen ist stets sinnvoll. Würde keine Kritik mehr geäußert, stünde es um die Demokratie schlecht.

Glaubensinhalte, keine Theorien

Doch wenn sich das Hinterfragen selbst nicht mehr hinterfragt und Annahmen über dunkle Machenschaften als Wahrheiten gesetzt werden, verwandelt sich Spekulation in Glauben. Im Englischen ist der Begriff conspiracy belief längst etabliert. Im Deutschen klingt das Wort "Verschwörungsglauben" noch etwas ungewohnt, beschreibt aber die Haltung vieler Menschen, die solche Ansichten vertreten, besser als die Zuschreibung "Verschwörungstheoretiker". Denn diese Menschen stellen in der Regel keine widerlegbaren Theorien auf, sondern kultivieren Glaubensinhalte. Anders als die Zeugen Jehovas früher klingeln sie heute oft nicht einmal vorher an der Tür und fragen, ob sie mit einem über die geheimen Strippenzieher sprechen dürfen. Sie verbreiten ihren Glauben massenhaft über soziale Medien, auf Twitter, Instagram und Facebook, in Messenger-Chats auf WhatsApp und Telegram.

In meinem Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft spielte teilnehmende Beobachtung eine ebenso wichtige Rolle wie das möglichst vorurteilsfreie Erforschen verschiedener Glaubenssysteme. Wir sprachen mit Mormonen und Anthroposophen, besuchten Evangelikale und Scientologen. Mein Professor brachte mir bei, die Gläubigen nicht allein als Objekte und mich selbst nicht ausschließlich als Subjekt zu betrachten. Eine solche Abspaltung wirke zwar oft besonders wissenschaftlich, sie würde aber die Subjektivität meiner Beobachtung nur verstärken, so mein Professor. Ich solle nicht so tun, als ob ich nicht selbst auch einen persönlich gefärbten Blick auf die Welt hätte, gespeist aus Überzeugungen, Vorurteilen, Ängsten, Wünschen und Glaubensvorstellungen. Diese solle ich mir vor jeder Beobachtung und Beschreibung bewusst machen. Letztlich verlangte dieser Professor nicht weniger als eine immer wieder durchgeführte Selbstreflexion der Forschenden. 

Wende ich diese Methode auf meine Betrachtung von Verschwörungsgläubigen in meinem Umfeld an, hilft mir das, einen Schritt zur Seite zu treten. Ich kann meine Wut auf meinen Freund im Ausland betrachten und dahinter meine eigenen Ohnmachtsgefühle und Ängste wahrnehmen.

Ich fühle mich ohnmächtig, weil seine angeblichen Fragen ("Es wurden also kaum 5G-Masten während des Lockdowns installiert?") tatsächlich auf Gerüchte zurückgreifen, die sich leicht streuen und nur mühsam widerlegen lassen. Ich bin in diesem Austausch auf eine Statistenrolle in einem Schauspiel festgelegt. Was ich auch sage, bietet nur die Bühne für die Selbstinszenierung meines Gegenübers, gerade wenn ich durch Widerspruch seine Besonderheit unterstreiche. Will ich das nicht mitmachen, bleibt mir nur der Kontaktabbruch.

Angst fühle ich, weil mir die Übereinstimmung über grundsätzliche Fragen zwischen Menschen so brüchig erscheint. Außerdem rührt das fundamentale Misstrauen meines Freundes an die eigene Unsicherheit: Was, wenn wirklich nichts so ist, wie es scheint? Kann ich den Experten trauen? Glaube ich denn nicht auch bloß? Was weiß ich wirklich? Was lässt sich überhaupt zweifelsfrei wissen? 

Das Fundament der Vernunft ist auch nicht belegbar

Ich beruhige mich, indem ich mir klarmache: Ich muss nicht wissen, was im Kopf von Bill Gates vorgeht, schließlich verbreite ich im Gegensatz zu manchen Verschwörungsgläubigen keine Gerüchte über ihn. Die Beweispflicht liegt beim Ankläger. Sind dessen Argumente Fehlschlüsse oder seine angeblichen Beweise unbelegte oder generell nicht belegbare Annahmen, gibt es keinen Grund, ihnen Glauben zu schenken.

Dennoch bleibt eine Restunsicherheit: Auch wenn Logik, Beweisbarkeit und andere wissenschaftliche Standards die vernünftigsten, weil sinnvollsten Instrumente zur Wissenssicherung sind – es bleibt ein Abgrund aus Nichtwissen. Und die Suche nach dem Fundament der Logik wie unserer gesamten Existenz endet in Widersprüchen, wie Mathematiker wie Bertrand Russel oder Georg Cantor in der Formulierung von Paradoxien feststellen mussten. Auf diese Restunsicherheit können Menschen vertrauensvoll reagieren und sich grundlos getragen fühlen. Sie können davon aber auch tief verstört sein und den Kosmos als unheimlich wahrnehmen.

Ob man ein Urvertrauen besitzt oder nicht, sucht man sich nicht aus. Massiver Vertrauensmissbrauch in der Kindheit etwa kann ein grundlegendes Ohnmachtsgefühl hinterlassen, das später durch neuen Missbrauch oder krisenhafte Zustände reaktiviert wird. Bietet ein Verschwörungsglaube also stark verunsicherten Menschen Entlastung, weil so die eigene Verunsicherung ohne psychologische Innenschau erklärbar wird? So naheliegend diese Frage auch sein mag, dazu gibt es keine eindeutige Studienlage.

Den typischen Verschwörungsgläubigen gibt es nicht

Tatsächlich ist der Glaube an Verschwörungstheorien nicht so gründlich erforscht, wie man es bei einem Phänomen erwarten würde, das uns heute derart relevant erscheint. Die Sozialpsychologen Viren Swami und Rebecca Coles verwiesen im Jahr 2010 in einer Forschungsstand-Übersicht auf ganz verschiedene Erklärungsansätze für den Glauben an Verschwörungstheorien. Als Motivation steht mal der Umgang mit Hilf- und Machtlosigkeit im Fokus, mal das Unterstreichen der Individualität, mal der erzählerische Ausdruck negativer Gefühle, mal eine Form des Krisenmanagements oder das Stärken des Selbstwertgefühls.

Den typischen Verschwörungsgläubigen gibt es offenbar nicht und mögliche Faktoren wie Bildungsstand, Medienkompetenz oder Geschlecht sind in ihrem Einfluss nicht so eindeutig belegt, dass man Kausalitäten daraus ableiten könnte. Es sei denn, man pickt sich jeweils die Studie heraus, die der eigenen Sichtweise am ehesten entspricht.

Allerdings weist eine Studienreihe renommierter Forscher darauf hin, dass eine verstärkte Schulung analytischen Denkens den Glauben an Verschwörungstheorien reduziert. Laut einer aktuellen Studie der Western Sydney University glauben Menschen mit einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung sowie primäre Psychopathen und Menschen mit dem Persönlichkeitsmerkmal des Machiavellismus signifikant öfter als andere an Verschwörungstheorien. Das umfasst grob zusammengefasst Menschen, die sehr eigensinnig, affektarm, unangepasst, arm an Freundschaften und ideologisch ungebunden beziehungsweise offen für magisches Denken sein können. Auch können während einer Psychose oder einer akuten schizophrenen Phase Verschwörungsgedanken massive Ausmaße annehmen. Das heißt aber keineswegs im Umkehrschluss, dass Verschwörungstheoretiker automatisch schizoid oder psychotisch sind.

Maximal drei Prozent der Bevölkerung werden im Laufe ihres Lebens als schizotypisch klassifiziert. Deutlich mehr Menschen glauben an Verschwörungstheorien. So sind beispielsweise laut einer aktuellen Umfrage des Pew-Forschungszentrums 29 Prozent der US-Bevölkerung davon überzeugt, dass Covid-19 im Labor gezüchtet wurde. Und in der 2019 veröffentlichten Ausgabe der Mitte-Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung gaben knapp 46 Prozent der Befragten an, es gäbe geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Auch in Deutschland also gäbe es eine breite Basis für Verschwörungsglauben.

Ist diese Bereitschaft nur verblüffend oder schon beunruhigend? Es ist jedenfalls kein reines Zeitphänomen: Der Psychologe und Wissenschaftsjournalist Rob Brotherton argumentiert in seinem 2015 erschienen Buch Suspicious Minds, dass das menschliche Gehirn generell zum Misstrauen und zu den für Verschwörungsglauben typischen verkürzten Annahmen tendiert. Brotherton sieht darin vor allem einen evolutionären Vorteil.

Misstrauen wächst, wenn man es kultiviert

Der deutsche Historiker Dieter Groh definierte in einem Beitrag für den bereits 1987 erschienen Band Changing Conceptions of Conspiracy eine Verschwörungstheorie als einen Erklärungsversuch dafür, warum guten Menschen Böses zustößt. Solche Geschichten haben für jeden etwas Tröstliches. Denn wenn das Übel der Welt menschengemacht ist, kann es letztlich verhindert werden. Gleichzeitig entlastet ein Verschwörungsglaube von der eigenen Verantwortung: Bestimmen Superschurken die Geschicke, trage ich keine Schuld an dem Zustand der Welt, dem meines Umfeldes und letztlich meines eigenen Lebens. Das Christentum, so kann man es auch betrachten, kultivierte schon vor Jahrhunderten den Glauben an einen Mega-Verschwörer: Hinter allem Übel steckt letztlich der Teufel. Der stellt die dunkle Seite der "guten Mächte" dar, von denen der Theologe Dietrich Bonhoeffer schrieb, dass man "wunderbar geborgen" in ihnen sein könne. Auch das Böse aber kann Geborgenheit schaffen.

Der psychologische Entlastungsnutzen von Verschwörungsglauben scheint allerdings einen Haken zu haben: Laut der britischen Sozialpsychologin Karen M. Douglas bedienen Verschwörungstheorien zwar dringende Bedürfnisse, befriedigen sie aber nicht auf Dauer. Wie bei einer Sucht wird das, was bezwungen werden soll – vor allem Ohnmachtsgefühle – langfristig verstärkt.

Misstrauen wächst, wenn man es kultiviert. Die wachsende Skepsis gegenüber allem gesellschaftlich vermittelten Wissen verstärkt wiederum die eigene Unsicherheit und entfremdet einen von vielen Menschen. Ist das ein Preis, den viele Verschwörungsgläubige möglicherweise in Kauf nehmen, um besonders zu sein? Zumindest hat der Sozialpsychologe Roland Imhoff mit seinem Team in einer Studienreihe nachweisen können, dass Verschwörungsgläubige sich als außergewöhnliche Individuen erleben wollen. Je mehr Widerspruch sie erfahren, desto mehr bestärkt es sie in ihrem Gefühl der Einzigartigkeit. Ausgrenzung wird zur Auszeichnung umgedeutet.

Die Erzählungen vom Sündenbock


Dabei erfinden Verschwörungsgläubige gar keine originellen Privatansichten, sondern greifen auf längst vertraute, stark an Gefühle appellierende Gerüchte über dunkle Machenschaften zurück. Da es sich dabei in der Regel um Sündenbock-Erzählungen handelt, in denen eine Minderheit für die Leiden der Mehrheit verantwortlich gemacht wird, lassen sich diese Gerüchte politisch instrumentalisieren. Gerade wenn sie von Experten, Autoritäten und Herrschenden mitverbreitet werden, können Sündenbock-Gerüchte Gewalt begründen und oft erst ermöglichen.

Ohne Verschwörungsglauben wären der Holocaust, die "Säuberungen" und Judenverfolgungen unter Stalin, der Völkermord an den Armeniern oder die Ermordung von "Hexen" in der frühen Neuzeit nicht möglich gewesen. Heutzutage instrumentalisieren rechtspopulistische Parteien vor allem den Verschwörungsglauben an eine angebliche "Umvolkung", die vermeintlich korrupte "Eliten" organisieren: Die Fremden, die Schutz und Auskommen suchen in einem anderen Land, werden in diesem Szenario zu ferngesteuerten Agenten eines großen Plans, den nur Verschwörungsgläubige durchschauen (und die Planer selbst natürlich). Auch in einer verkürzten Kapitalismuskritik, die in verschiedenen politischen Lagern verbreitet ist, findet sich mindestens eine Beimischung von Verschwörungsglauben: Kriege, Hunger und Armut gehen in dieser Sichtweise auf eine mehr oder minder abgestimmte Verschwörung alter weißer Männer zurück – das eine Prozent der Reichen, Machthaber, Lobbyisten, Zocker und Konzernbosse profitiert bewusst von dem Elend. Die Bösen sind immer die anderen.

Kein Zweifel: Verschwörungsgläubige können durch missionierende Übergriffigkeit, aggressive Opferinszenierung ("Man will meinesgleichen mundtot machen!"), Abwehr von Argumenten und zirkuläre Logik ("Natürlich steckt Gates hinter Corona, er profitiert ja davon!") massiv nerven. Aktuell machen "Hygiene-Demos" und "demokratischer Widerstand" auch vielen Menschen Angst: Während einer Pandemie wird besonders deutlich, dass man vom vernünftigen Verhalten anderer abhängig ist; trotz aller Bemühungen, die Kapazitäten der Krankenhäuser auszubauen, ist die Zahl der Intensivbetten im Notfall endlich. Umso mehr ärgert man sich mutmaßlich über Leute wie Ken Jebsen oder Eva Herman, die aus Verschwörungsglauben ein Geschäftsmodell gemacht haben. Dennoch wäre es eine massive Verkürzung, alle Verschwörungsgläubigen, Selbstinszenierer, rechtsextreme Umsturzfantasten und Menschen, die ungelenk Zweifel oder Überforderung anmelden, in einen Topf zu werfen. 

Auch könnte man den Verschwörungsgläubigen in gewisser Weise sogar dankbar sein: Ihre Äußerungen fordern dazu auf, den eigenen Wissenschafts- und Autoritätsglauben zu begründen oder bescheidener zu formulieren. Die Konfrontation mit ihren Glaubensinhalten – und seien sie noch so wirr – kann zu einer Reflexion über die eigene Position führen, zur Selbstbefragung: Wie wird Wissen vermittelt, wie groß ist der Wert des Vertrauens angesichts des Abgrunds aus Nichtwissen, Ungewissheit und vorläufigem Kenntnisstand, der sich auftut durch das Infektionsgeschehen einer Pandemie und ein noch kaum erforschtes, weil neues Virus?

Und wäre es nicht noch gruseliger, wenn es keine Proteste und keine Skepsis gegen tief ins Privatleben eingreifende Regierungsmaßnahmen gäbe, zumal die große Mehrheit der Menschen die Datenlage dahinter objektiv nicht beurteilen kann? So abstoßend man das Gebaren vieler Verschwörungsgläubiger finden kann – Forderungen nach geschlossenen Reihen und einem unwidersprochenen Glauben an Autoritäten und Experten wären in einer offenen Gesellschaft kaum sympathischer.


In einer ironischen Volte werden die Verschwörungsgläubigen aktuell zum Sündenbock in der Corona-Krise. Unterstellt man ihnen etwa wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen, sie könnten dadurch für einen möglichen Anstieg der Infektionsrate verantwortlich werden, entlastet das nur die Mehrheit von den Auswirkungen ihres eigenen, potenziell nachlässigen Verhaltens. Die zentrale Frage der nächsten Monate lautet mit großer Wahrscheinlichkeit nicht: Wie bescheuert sind eigentlich diese Aluhutträger? Sondern vielmehr: Wie vertrauenswürdig, ehrlich, gewaltfrei und ernsthaft solidarisch wird sich der angeblich aufgeklärte Rest verhalten?