Jan Philipp Reemtsma über Corona-Demos: „Impfangst als Weltverschwörung“

Hinter den kruden Theorien stehe oft Verunsicherung, sagt Jan Philipp Reemtsma. Gekränkte Narzissten regredieren auf den Status von Kleinkindern.

Mehrere Personen auf einer Demo und ein Schild, das vor Zwangsimpfungen warnt

Das Übel dieser Welt vermuten manche im Impfstoff Foto: Jannis Große/imago

taz: Herr Reemtsma, knapp 1.000 Menschen demonstrieren wöchentlich in der Hamburger Innenstadt. Warum sind die so wütend?

Jan Philipp Reemtsma: Wir befinden uns in der speziellen Situation, dass die Politik unter dem Imperativ der Bekämpfung einer Seuche mehr in das Privatleben und die Wirtschaft eingreift, als wir das gewohnt sind. Gleichzeitig kann das Bedürfnis, zu wissen, wie lange das noch gehen wird und was noch kommt, nicht befriedigt werden. Das produziert Unsicherheit, alte Routinen funktionieren nicht mehr, neue stellen sich noch nicht ein, da werden viele Leute extrem unsicher.

Warum reagieren bestimmte Leute darauf so aggressiv?

Die allgemeine Unsicherheit trifft auf einen Typ von Menschen, die sowieso leicht aus dem Tritt geraten. Konstitutionell Labile kompensieren, indem sie narzisstisch übersteuern, sie regredieren. Was bei Vierjährigen ganz bezaubernd ist, nämlich sich die Welt mit Unsicherheit und Narzissmus zu erschließen, ist bei Erwachsenen grässlich und gefährlich. Trump funktioniert so. Dazu kommt die verbreitete Neigung zu paranoider Weltdeutung. Man vermutet, es stecke irgendwo etwas dahinter, und wenn man das benennt, stellt sich ein Gefühl der Überschaubarkeit ein. Außerdem der Gewinn des Bescheidwissens. Aber auch der Paranoiker ist narzisstisch übersteuert, er bezieht alles auf sich, ist lieber verängstigt und gekränkt als bedeutungslos. Nehmen Sie zum Beispiel die Impfangst: die typische kleinkindhafte Angst vor dem Pieks, aufgeblasen zu einer Weltverschwörung.

Wie würden Sie das Milieu beschreiben, das in Hamburg demonstriert?

Das Milieu stellt sich erst vor Ort her. Vorher wird es imaginiert durch das Internet als virtueller Stammtisch.

Gibt es keinen ideologischen Kitt, der diese Gruppe zusammenhält?

Nein, da zählen nur die Affekte. Die suchen sich vorgegebene politische Parolen, die irgendwie passen. Ob die von links oder rechts kommen, ist egal, sie müssen nur auf die Affektlage passen. Die Rolle des Politisch-Ideologischen wird generell überschätzt. Denken Sie an Horst Mahler. Er hat von Linksterrorismus bis Rechtsradikalismus alles durchprobiert und ist immer derselbe geblieben. Die Verkörperung des Ideals „authentisch“.

67, ist Gründer und Vorstand der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und der Arno Schmidt Stiftung. Er gründete und leitete bis 2015 das Institut für Sozialforschung. 1996 wurde er Opfer einer Entführung.

Aber die Demonstrant*innen knüpfen an rechte Argumentationsmuster an. Sie sind gegen „Mainstream-Medien“, gegen Merkel und Spahn, gegen jüdisch imaginierte Eliten.

Ja, diese Argumente sind gerade en vogue. Rechtes Vokabular spielt in der Bundesrepublik aktuell eine viel größere Rolle als linkes. Deshalb bedienen sich die affektgestörten und narzisstisch übersteuerten Leute dieses Vokabulars. Wäre die politische Großwetterlage eine andere, würden sie linkes Vokabular verwenden.

Viele glauben an die Übertragung des Virus per 5G-Strahlung, an Mikrochips per Zwangsimpfung, eine Neue Weltordnung – haben sie den Verstand verloren?

Ich bekomme sehr viel Post von Verrückten. Sie sitzen ganz alleine zu Hause, machen sich Sorgen über Kondensstreifen am Himmel, über angeblich einflussreiche Juden. Jetzt zu demonstrieren, gibt ihnen die Chance, nicht mehr allein zu sein. Andere, die nicht dauernd so verrückt sind, haben jetzt die Gelegenheit, auf Zeit durchzudrehen – das erleben sie als schön und sich selbst als bedeutungsvoll.

Ist das ein Grundproblem: dass die Menschen keine Freund*innen haben?

Einige haben welche, die sind genauso durchgeknallt wie sie selbst, andere nicht. Es ist nicht so leicht, Freunde zu finden, wenn man so durchgeknallte Spleens hat. Da geht man den Leuten nämlich entsetzlich auf die Nerven. Also braucht man Gleichgesinnte, um überhaupt ein soziales Umfeld zu haben. Viele pflegen ihre Spleens im normalen Leben nicht so intensiv. Jetzt haben sie die Chance, einen großen Freundeskreis um sich zu sammeln.

Woher kommt die Bereitschaft, das Terrain des Rationalen zu verlassen?

Jeder Mensch agiert nur teilweise rational. Die Fähigkeit, das Rationale – oder sagen wir: das, worüber wir in Ruhe und mit Wirklichkeitsbezug reden können – ganz aufzukündigen, hat auch jeder. Einige kultivieren sie aufgrund ihrer persönlichen Entwicklung bis zu bizarren Formen. Es gibt soziale und politische Situationen, die diese Fähigkeit stimulieren und belohnen. Hexenverfolgung, Massenparanoia. Der Antisemitismus als Staatspolitik ist nicht ganz dasselbe, aber funktioniert auf der Ebene der Affektstimulation ähnlich. Darum ist das alles gar nicht lustig. Gefährlich wird so etwas aber erst, wenn es eine politische Bewegung gibt, die das aufnimmt und trägt.

Was glauben Sie, wo die Bewegung hinsteuert?

Die steuert nirgendwo hin. Sie tut, was sie tut, bis zu einem Erschöpfungspunkt, der möglicherweise bald erreicht ist, oder sie wird eine Bewegung mittlerer Dauer, weil es so großen Spaß macht teilzunehmen. Menschen mögen Vergemeinschaftung.

Trifft der Begriff Querfront hier?

Ich würde ihn nicht benutzen. Dass es Leute in der Weimarer Republik gab, die erst die KPD und dann die NSDAP gewählt haben, wissen wir doch. Wir wissen auch, dass es zwischen Linken und AfD einen großen Wähleraustausch gibt. Wir sollten uns eher fragen, warum uns das immer wieder erstaunt. Das liegt daran, dass wir dem politischen Denken einen zu großen Stellenwert zuschreiben. Menschen denken selten politisch. Auch nicht, wenn sie das behaupten.

Dann kommt es mehr auf das Soziale an?

Auf das Affektive. Wir überschätzen das Politische immer, weil wir meinen, über Politik gut miteinander reden zu können. Wir können über Affekte reden, aber mit rein affektiv Gesteuerten nicht. Das möchten wir aber zuweilen tun, und dann vergessen wir, was wir sehen, und reden uns ein, es gehe um Politik. Aber es hat ja keinen Sinn, auf den Jungfernstieg zu gehen und mit den Leuten reden zu wollen.

Was kann man dann dagegen machen?

Nichts. Nicht hingehen. Man bestätigt die Leute nur in ihrer narzisstischen Übersteuerung, wenn man ihnen Aufmerksamkeit gibt. Man muss Polizisten hinschicken, damit nichts passiert. Man muss es einfach aushalten, bis es vorbei ist. Wenn man die Gelegenheit hat, kann man den Leuten vielleicht zeigen, dass man sie verachtet, das mögen sie nicht.

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