"Wer an Verschwörungen glaubt, ist nicht verloren" – Seite 1

Cory Doctorow ist Autor, Journalist und Aktivist. Viele Jahre lang war der Kanadier Co-Editor des erfolgreichen Blogs "Boing Boing". In seinen Beiträgen beschäftigt sich Doctorow häufig mit der digitalen Welt und den Auswirkungen auf die Gesellschaft. Ein Thema, das ihn seit einiger Zeit beschäftigt, sind Verschwörungstheorien. Im Interview erzählt er, weshalb der Glaube an Verschwörungen seiner Meinung nach mit schwindendem Vertrauen in Institutionen einhergeht und welche Rolle Plattformen wie Facebook haben.

ZEIT ONLINE: Herr Doctorow, in Ihrem Vortrag auf der diesjährigen re:publica haben Sie sich mit Verschwörungstheorien befasst. Weshalb schürt die Corona-Krise so viele absurde Gedanken?

Cory Doctorow: Mit Covid-19 befinden wir uns in einer Art Vakuum. Wir wissen immer noch nicht viel über das Virus und die Krankheit, über die Herkunft, über mögliche Medikamente und Impfstoffe. Mit dieser Unwissenheit und Unsicherheit ist es einfacher, an bestimmte Erklärungen zu glauben – denn wieso sollte die eine Theorie, die jemand aufstellt, richtiger oder falscher sein als eine andere? Diese Ansicht rührt auch daher, dass viele Menschen nicht wissen, wie Wissenschaft funktioniert. Wir lehren unseren Kindern schon in der Schule: Ihr müsst an die Wissenschaft glauben! Wir lehren ihnen aber nicht, wieso das so ist. 

ZEIT ONLINE: Wie funktioniert Wissenschaft denn?

Doctorow: Wissenschaft bedeutet immer, bestehende Hypothesen zu widerlegen, sich zu widersprechen, bis man an den Punkt kommt, an dem man von einer Wahrheit sprechen kann. Man müsste den Menschen eigentlich viel mehr Epistemologie beibringen, ihnen also erklären, wie Wissen entsteht. 

ZEIT ONLINE: Hierzulande hieß es zunächst, ein Mundschutz helfe nicht bei der Eindämmung des Virus. Inzwischen wird empfohlen, ihn so oft wie möglich in der Öffentlichkeit zu tragen. Dieser Umschwung hat viele Menschen irritiert.

Doctorow: Das ist ein gutes Beispiel. Wer die Entscheidungsprozesse dahinter nicht versteht, hört scheinbar widersprüchliche Aussagen und kommt zu dem Schluss, die Wissenschaft hätte keine Ahnung. In dieser Unsicherheit beginnt man, sich eigene Wahrheiten zu suchen. 

ZEIT ONLINE: Das heißt, früher oder später landet man bei Verschwörungstheorien?

Doctorow: Nicht zwangsweise. Verschwörungstheorien ziehen vor allem zwei Sorten von Menschen an. Das sind zum einen Menschen, die bereits viel über echte Verschwörungen wissen. Wer an die Existenz von Ufos glaubt, kann dir gewöhnlich eine ganze Menge über echte Spionagesatelliten und geheime Absprachen zwischen der Regierung und dem Militär erzählen. Impfgegner wissen häufig erstaunlich gut über die Opioid-Krise und die Rolle der Pharmaunternehmen Bescheid. Und zum anderen Menschen, die ein persönliches Trauma erlebt haben. Meine Großmutter hat das Pogrom in Polen überlebt. Noch Jahre später hat sie geglaubt, der nächste lauert bloß um die Ecke. Und wenn du in der Finanzkrise dein Haus verloren hast, hegst du vermutlich ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Bankensystem.

ZEIT ONLINE: Nun ist ein gewisses Misstrauen durchaus nützlich in einer Demokratie. Wo hört gesundes kritisches Denken auf und wo fangen Verschwörungstheorien an? 

Doctorow: Verschwörungstheoretiker sagen immer, man solle nicht alles glauben, was man liest und hört, sondern einfach recherchieren. "Informier dich doch mal selbst!" ist ihr Schlachtruf. Das stimmt. Doch leider wissen sie nicht, was gute Recherche bedeutet, wie man Fakten und Quellen prüft. Ich finde, wer an Verschwörungen glaubt, ist nicht per se verloren. Viele sind bloß im letzten Moment der Wahrheitssuche falsch abgebogen. Und leider können sie sich heutzutage nicht immer auf die Institutionen verlassen, die ihnen dabei helfen sollen, zwischen guter und schlechter Recherche zu unterscheiden. 

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie damit? 

Doctorow: Wir vertrauen traditionell Institutionen wie der Politik und Wissenschaft, um Wahrheiten zu finden. Im besten Fall können wir uns darauf verlassen, dass die Prozesse der Wahrheitsfindung fair und transparent ablaufen. Tatsächlich aber wird die Wahrheit immer häufiger zur Auktion, und zwar vor allem dann, wenn sich die Marktmacht konzentriert. Wir sehen das in verschiedenen Bereichen: Wieso ist die Dringlichkeit des Klimawandels noch nicht allen bewusst? Weil es immer noch einflussreiche Akteure mit viel Geld gibt, die das Gegenteil behaupten. Weshalb fiel die Boeing 737 Max vom Himmel? Weil die Luftfahrtaufsicht ihre Pflicht nicht erfüllt hat. Weshalb sinkt die Qualität des Peer-Review-Verfahrens in der Wissenschaft? Weil wenige Verlage den Markt monopolisiert haben und somit zu Türstehern der Wissenschaft wurden. All diese Entwicklungen sorgen dafür, dass das Vertrauen in die Institutionen weiter schwindet. 

Leider können sich Menschen heutzutage nicht immer auf die Institutionen verlassen, die ihnen dabei helfen sollen, zwischen guter und schlechter Recherche zu unterscheiden.
Cory Doctorow

ZEIT ONLINE: Stattdessen glauben Bürgerinnen und Bürger zunehmend Menschen, "die bloß klingen, als wüssten sie, wovon sie reden", wie Sie es mal in einem Artikel beschrieben haben. Erklärt das auch, weshalb derzeit vermehrt Prominente Verschwörungsmythen teilen?

Doctorow: Die Methodologie von Verschwörern erzeigt nicht nur ein Gefühl von Zugehörigkeit, Wissen und Macht. Es lässt sich auch eine Menge Geld damit verdienen. Viele Verschwörer leben inzwischen davon, Vorträge zu geben, Bücher zu schreiben, Blogs oder YouTube-Kanäle zu betreiben. Verschwörungstheorien erzeugen zwar keine Wahrheit, aber dafür andere, greifbare Güter.

"Big Tech ist schlecht darin, Inhalte zu moderieren"

ZEIT ONLINE: Vor allem soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter stehen in der Kritik, die Verbreitung von Verschwörungstheorien zu fördern. Glauben Sie das?

Doctorow: Ich bezweifle, dass Plattformen wie Facebook die Menschen dazu bringen, etwas zu tun oder zu glauben, auch wenn das häufig behauptet wird. Sie können einen Nutzer nicht dazu zwingen, einen neuen Kühlschrank zu kaufen. Die Plattformen können aber sehr gut Menschen finden, die vielleicht einen Kühlschrank kaufen würden. Weil sie nämlich wissen, wer nach einem Kühlschrank gesucht hat oder auf die Werbeanzeigen geklickt hat. So ist das auch mit Verschwörungsmythen: In sozialen Netzwerken ist es leichter, Menschen zu finden, die an heterodoxe Ideen glauben. Und sind sie erst einmal gefunden, ist es leicht, sie über einen langen Zeitraum immer wieder mit entsprechenden Inhalten zu konfrontieren. Facebook bringt Menschen also nicht dazu, an Verschwörungstheorien zu glauben. Aber es sorgt dafür, dass solche Theorien jene Menschen erreichen, die dafür aus den zuvor genannten Gründen empfänglich sind. 

ZEIT ONLINE: Nun heißt es, die Plattformen müssen gegen Verschwörungstheorien und Fake-News einfach stärker vorgehen. Ist das der richtige Weg?

Doctorow: Die Plattformen hätten niemals so groß und mächtig werden dürfen, wie sie heute sind. Ihnen jetzt zu sagen, gegen Verschwörungstheorien vorzugehen, bekämpft deshalb nur die Symptome, aber nicht die Ursache. Jetzt haben wir das Problem, dass man Big Tech mit Aufgaben vertraut, die eigentlich staatlichen Stellen vorbehalten sind. Ob es sich nun um Urheberrechtsverletzungen, Hatespeech oder extremistische Propaganda handelt: Die Plattformen sollen entscheiden, was gelöscht wird und was nicht. Und das obwohl sie ziemlich schlecht darin sind, die Inhalte zu moderieren. Denn entweder automatisieren sie den Prozess und die Algorithmen treffen falsche Entscheidungen. Oder die Arbeit wird an schlecht bezahlte und häufig traumatisierte Arbeitskräfte ausgelagert. Und selbst wenn sie den Vorgaben gar nicht nachkommen, hat das kaum Konsequenzen. Denn selbst Strafen in Millionenhöhe jucken sie nicht.

ZEIT ONLINE: Was also ist Ihr Lösungsvorschlag?

Doctorow: Systemische Probleme erfordern systemische Lösungen. Ich denke, wir können kollektiv etwas verändern: Wir können entscheiden, dass wir etwas gegen die Marktkonzentration einzelner Firmen und wirtschaftliche Ungerechtigkeit tun. Und wenn wir das schaffen, schwächen wir gleichzeitig verschwörerische Gedanken und das kollektive Trauma, das diese Gedanken für viele Menschen überhaupt erst so attraktiv macht.