Wie können wir uns Luft verschaffen? – Seite 1

Die erste große Welle des Coronavirus scheint vorbei, wie es weitergeht, können selbst Virologinnen und Epidemiologen nur schwer voraussehen. Vor allem, wenn sich die Menschen im Herbst und Winter wieder in geschlossenen Räumen aufhalten. Der Wissenschaftsphilosoph Alfred Nordmann glaubt, dass jetzt die Zeit der kreativen Ideen von Wissenschaften gekommen ist, auf die bisher noch niemand schaut. 

Wir dürfen zufrieden sein – und weitgehend sind wir es ja auch. Die Ansteckungswelle ebbt ab. Die bundesweiten Maßnahmen werden gelockert zugunsten eines gewitzteren Vorgehens vor Ort. Wir scheinen gut gerüstet für ein neues Spiel, das wir von Jahrmärkten und Volksfesten kennen. Whack-a-Mole heißt es kurz und knapp auf Englisch, "Schlag den Maulwurf" auf Deutsch. 

Das Virus gleicht hiernach einer Maulwurfplage und in Abwesenheit einer umfassenden Bekämpfungsstrategie liegen wir auf der Lauer: Sobald sich ein Maulwurf zu regen beginnt, kriegt er einen Schlag auf den Kopf. Wir verfügen inzwischen über ein großes Instrumentarium an Mitteln, um rasch zu reagieren und das freche Maulwurftreiben, in einem Restaurant hier, einer Kirche dort, einzudämmen. Und das Schöne daran: Alle machen mit – beste Wissenschaft, gesunder Menschenverstand, praktische Solidarität, kommunalpolitische Erfahrung und Intelligenz. 

Die verdiente Selbstzufriedenheit ist nur etwas getrübt. Es gibt kritische Stimmen, die meinen, wir hätten auf die Ansteckungswelle besser vorbereitet sein müssen. Dass sich Viren rapide ausbreiten können, ist nun wirklich nichts Neues. Und hat tatsächlich jemand geglaubt, dass das Coronavirus vor der deutschen Grenze Halt machen würde? Es gibt auch kritische Stimmen gegen das "Mole Whacking". Derzeit läuft ja alles ganz gut, sagen sie, aber früher oder später kann sich unser Maulwurf als Hydra aus der griechischen Legende erweisen – und für jeden abgeschlagenen Kopf wachsen zwei nach. Früher oder später kommt die zweite Welle, heißt es, noch bevor ein Impfstoff zur Verfügung steht.

Nun gut, meinen die Selbstzufriedenen, auch dafür sind wir jetzt gerüstet, wir haben ja eine Notbremse. So wie wir die erste Welle in den Griff bekommen haben, kriegen wir das auch bei der zweiten hin und im schlimmsten Fall geht es noch einmal ganz von vorn los. Erst die Restriktionen mit ihrer Schließungswelle, dann die Lockerungen und dann ein großer Werkzeugkasten aus Plexiglas und Duschvorhang, des Abstandhaltens und der Wegeführung, der Schnelltests und zusätzlichen Krankenbetten, der noch relativ selten eingesetzten Fiebermessung, der Masken und Visiere. Aber heißt das, dass wir wirklich vorbereitet sind auf die zweite Welle oder wird es im Dezember wieder kritische Stimmen geben, wir hätten die Gefährdung nicht ernst genommen?

Abgesehen von der ganz banalen Ausbreitungslogik des Virus gibt es einen besonderen Grund, die zweite Welle zu befürchten: Im Herbst und im Winter werden wir uns wieder in geschlossenen und geheizten Räumen aufhalten. Derzeit kommt uns sehr entgegen, dass die Tröpfchen- und Aerosolübertragung maßgeblich sind – das Virus hängt draußen nicht so lang in der Luft, lauert uns dort nicht so auf. Solange uns niemand anspuckt, anhustet, anzischt, sind wir da relativ sicher.

In geschlossenen Räumen stellt sich das anders dar, weshalb wir schon die erste Welle auf die Karnevalsvereine und das Après-Ski in Ischgl zurückführen. Was aber befindet sich im Corona-Werkzeugkasten für den Herbst und Winter, wenn wir uns nicht mehr vor der Zufallsbegegnung fürchten, sondern wie vor Jahrhunderten schon vor der "Fäulnis der Luft", zu der es keinen Abstand gibt? Wenn man nicht mehr geduldig bei warmem Wetter auf der Straße wartet, bis man eintreten darf, werden Mitarbeiter und Supermarktkunden wissen wollen, wie gefährlich oder unbedenklich die Atemluft drinnen gerade ist. Wenn offenbar wird, wie unzulänglich pauschale Regeln sind, kommt es auf einfallsreiche Strategien an: Die Strategie von fünf Quadratmetern pro Person in Gaststätten und Kneipen ist schon deshalb nicht überzeugend, weil es um Kubikmeter geht und darum, wie schnell High-Tech-Klimaanlagen oder Low-Tech-Fenster die Luft austauschen oder filtrieren können.

Wir dürfen der Forschung und der Politik beim Denken zusehen

Vor einigen Wochen beschwerten sich britische Wissenschaftler explizit darüber, dass sich die Politik immerzu in ihren Entscheidungen darauf berufe "der Wissenschaft zu folgen". Solange damit nur die Virologie und Epidemiologie gemeint sei, sei das nicht genug und zu einseitig. 

Das sahen selbst die Epidemiologen unter den britischen Kritikern so. An den hiesigen Debatten über den Mundschutz haben wir gesehen, wie schwer es vielen Bürgern fiel, plausible Lösungen zu akzeptieren und nicht alles an klinischen Standards zu messen. Psychologie, Gerontologie, Erziehungswissenschaft, Sozialarbeit haben zunächst wenig Gehör gefunden bei denen, die angeblich auf "die Wissenschaft" hören. 

Das "Mole Whacking" ist vielen suspekt, weil es so unsystematisch ausschaut. Mit der ersehnten Corona-App sollte sich die Informatik als weitere Leitwissenschaft etablieren, aber geradezu beruhigend ist, dass inzwischen auch diese App nicht mehr als Allheilmittel gilt, sondern demnächst bloß in den bunten Flickenteppich unterschiedlicher Maßnahmen eingewoben wird. Mit Herbert Simon gesprochen, dem US-amerikanischen Sozialwissenschaftler und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften: Während die Optimizer noch von großen rationalen Lösungsstrategien wie einem Impfstoff träumen, wissen Satisficer, dass viele kleine Maßnahmen und Durchwurschteln gut genug sind, um die Ausbreitung des Virus zu hemmen, es womöglich sogar zu überlisten. Und doch stellt sich die Frage an beide Lager, was uns Luft verschaffen wird, falls eine zweite Welle kommen sollte. 

Egal welcher Wissenschaftsdisziplin die Politik derzeit folgt, egal wie viel Erfindungskraft in unseren sommerlichen Hygienekonzepten steckt, die größte Schwierigkeit scheint zu sein, schon im Vorweg zu wissen, welche Art Intelligenz und Kompetenz es nunmehr zu fördern gilt. 

Welche einfach interpretierbaren Messinstrumente und Indikatoren können uns helfen, Gefährdungsgrade in geheizten Räumen zu bewerten? Wo Plexiglas und Duschvorhänge klimatisch kontraproduktiv sind, was leisten da unterschiedliche Stoffe an Stellwänden oder Blumenarrangements? Schwelgen wir bald im Luxus neu erfundener Chambres separées oder sitzen wir warm angezogen ganz rustikal an weit geöffneten Fenstern? Statt der App, die unsere Zufallsbegegnungen aufzeichnet, bedarf es nun theoretisch einer App, mit der wir ein kontaminiertes Luftmeer möglichst risikoarm durchqueren. Und durchaus zu bedenken: Firmen, Geschäfte oder Hotels könnten sich mit teuren Filtrierungsanlagen brüsten, damit soziale Ungleichheit vertiefen und Umweltschäden produzieren.

Dass diese Fragen derzeit noch etwas abwegig klingen, ist vielleicht das schönste Zeichen für die sonnige Einstellung mancher Menschen, die sich ein Überwintern mit dem Virus gar nicht erst vorstellen mögen. Mit diesen Fragen kommen Technologien und Disziplinen ins Spiel, die bisher nicht Corona-relevant erschienen.

Was man sich da so alles ausmalen könnte: Vielleicht ist dies die Stunde der Nanotechnologie – womöglich mit Oberflächenbeschichtungen zur Virenabwehr. Vielleicht findet auch irgendjemand einen Nachweis für die anti-viralen Wunderkräfte eines exotischen ätherischen Öls. Oder es erzeugt demnächst ein Industrielabor mit der Crispr-Cas-Genschere eine Pflanze, die Corona-durchseuchte Luft erneuert. Materialwissenschaft, physikalische Messtechnik, Biotechnologie, Lüftungstechnik, Chemie und Meteorologie, Kunst und Architektur, nicht zuletzt die Geschichtswissenschaften müssten jetzt gefragt werden, um eine neue Normalität auch für Innenräume zu erfinden. Vielleicht findet all solche Forschung längst statt, in den Köpfen aber ist das noch nicht angekommen.

In der heutigen Wissens- und Kreativgesellschaft wird von uns Zeitzeugen permanent erwartet, dass wir die Zukunft staunend antizipieren. Angesichts von KI, Robotik, Biotechnologie und anderen Zukunftstechnologien sollen wir uns die Zukunft der Arbeit, der Mobilität, des Menschen ausmalen – als ob wir wirklich wissen könnten, was da in den nächsten Jahrzehnten auf uns zukommt und wie es letztlich ankommt. Das Thema Sars-CoV-2 hingegen wird seine Strahlkraft irgendwann verlieren und uns voraussichtlich nicht auf Jahrzehnte hin beschäftigen. Derzeit sind wir ganz auf die Gegenwart, den täglichen Kurvenverlauf fixiert, fast paralysiert, und erwarten mit demütiger Hoffnung den Impfstoff, der uns vielleicht schon nächstes Jahr erlösen könnte. In Echtzeit entfaltet sich wie selten zuvor die Entwicklung von Wissenschaft und Technik vor unseren Augen – wir dürfen der Forschung und der Politik beim Denken zusehen, wie sich Lernprozesse Tag für Tag vollziehen, wie kleine Korrekturen oder größere Anpassungen vorgenommen werden. Aber zwischen kühnen Zukunftsvisionen und dem "Mole Whacking" in Echtzeit wären ein paar luftige Ideen für die nächsten sechs Monate auch nicht schlecht.