Ein Staat, dem die Bürger nicht mehr vertrauen, ist am Ende – nähern wir uns diesem Zustand?

Wenn es eine Lektion aus den letzten Ausnahmemonaten gibt, dann wohl diese: Staat und Bürger merken gerade, dass sie sich schon lange entfremdet haben. Niemand hat diese Erfahrung präziser beschrieben als Hegel. Höchste Zeit, den deutschen Philosophen neu zu entdecken.

Thomas Sören Hoffmann 42 Kommentare
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Am 12. Mai öffnete der Markt am Bürkliplatz mit speziellen Sicherheitsmassnahmen wegen der Corona-Pandemie.

Am 12. Mai öffnete der Markt am Bürkliplatz mit speziellen
Sicherheitsmassnahmen wegen der Corona-Pandemie.

Karin Hofer / NZZ

Ausgerechnet in das Corona-Jahr 2020 fällt auch der 250. Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem Vollender des deutschen Idealismus und immer noch provozierenden Dialektiker. Der Denker aus Schwaben erlangt dabei gerade im laufenden Jahr eine besondere Bedeutung – auch deshalb, weil er ausdrücklich die Auffassung vertrat, dass auch Gedanken «ansteckend» sein können, ja dass man den «Geist» ganzer Epochen eben als Form der «Gedankenansteckung», nicht als Resultat etwa eines «argumentativen Prozesses» verstehen müsse. Und in der Tat sind für die allermeisten Menschen die Grundgewissheiten, auf deren Basis sie ihr Leben organisieren, nicht «argumentativ» vermittelt. Sie verfügen vielmehr über Gewissheiten, die jeweils «in der Luft» liegen oder aber sich praktisch bewährt haben.

Als die Künstler im Mittelalter anfingen, «gotisch» zu denken, und sich der neue Stil wie eine «Infektion» über dem Kontinent ausbreitete, beruhte das nicht auf theoretischen Einsichten, Absprachen oder gar kollektiver «Planung». Wenn Sprachen einer Lautverschiebung oder einem sonstigen Wandel tief unterhalb der Oberfläche unterliegen, äussert sich darin keine Machenschaft Einzelner, keine Intentionalität. Allenfalls kann man sagen, dass neue Stil- oder Sprachkonstellationen sich immer nur so etablieren, dass sie zur Lebensform und in diesem Sinne «praktisch» werden. Das gilt nach Hegel auch für das Leben im Staat: Niemand ist dem Staat aus rationaler Erwägung beigetreten, niemand hat das Leben im Staat zuerst aus der Theorie gelernt und nicht aus dem Vollzug, aus Teilhabe an einer auf den Staat bezüglichen, ja ihn konstituierenden Lebensform.

Machtstaat contra Rechtsstaat

Wir sind nach Hegel in einem bestimmten Sinne geborene Staatsbürger – was nicht nur sagt, dass uns der Staat von Geburt an mit Papieren versieht und bürokratisch erfasst. Es sagt, dass das Vernunftwesen Mensch sich seiner ganzen Natur nach nur als immer auch «politisches Wesen», nur als Glied der Anerkennungsgemeinschaft des Rechts entfalten kann.

Genau an diesem Punkt jedoch – mit der Frage nach der Ethos-Bindung aller Staatlichkeit – gewinnt Hegel im Corona-Jahr 2020 seine besondere Bedeutung. Das Jahr der Corona-Krise hat nämlich das Zeug dazu, ein Jahr der Krise der Staatlichkeit zu werden.

Eine Krise der Staatlichkeit ergibt sich nach Hegel nicht einfach aus dem Auftreten eines Virus. Hegel selbst ist der Cholera sicca erlegen – einer Epidemie mit einer Letalität von 70 Prozent, nicht von 0,2 Prozent wie bei Covid-19. Dennoch hätte der Denker des «objektiven Geistes» auch der Cholera nicht eine eigentliche Macht über den Staat zugesprochen. Das Geschäft des Staates ist es vielmehr immer, der Natur, auch einer feindlichen, ein Leben in Anerkennungsverhältnissen abzuringen – und das in Zeiten der Epidemien genauso wie auch sonst.

Eine Krise der Staatlichkeit kann sich nur in der Art und Weise äussern, wie der Staat und mit ihm die Rechtsgemeinschaft auf – zum Beispiel – Naturkatastrophen und auch Epidemien reagiert. Und zwar läge diese Krise genau darin, dass sich der Staat durch die Natur genötigt sähe, selbst nur in Form von Naturkausalität, also als Machtstaat, nicht aber in den Bahnen einer Logik der Anerkennung, also als Rechtsstaat, wirksam zu sein. Hegel wird, wie gesagt, an diesem Punkt für uns heute höchst relevant.

Der Staat gründet nach Hegel auf dem freien Willen des vernünftigen Selbstbewusstseins. Er ist nicht einfach «zufällig» entstanden, und er wurde der Menschheit auch nicht durch äusseren Zwang aufgenötigt. Bei allen Fehlformen von Staatlichkeit, die historisch auftreten (und die im Kern immer Freiheitsdefizite betreffen), ist der Staat doch wesentlich ein Bedürfnis der vernünftigen Lebensgestaltung und uns daher nicht äusserlich.

Wir finden uns – mehr oder weniger – in konkreter Staatlichkeit wieder und würden im Zweifel auf sie nicht verzichten. Das heisst nach Hegel auch: Die Macht, über die der Staat verfügt und aus der sich unter anderem der Rechtszwang speist, kommt nicht «aus den Bajonetten», nicht aus irgendeiner bloss physischen Übermacht der staatlichen Institutionen über das Individuum. Die eigentliche «Macht» des Staates ist nach Hegels durchaus zentraler These das «Zutrauen», das die Bürger in ihn und seine Institutionen haben.

Der Einzelne hat womöglich guten Grund, den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft zu misstrauen – er muss weder den Banken noch den Börsen vertrauen, von denen er wissen kann, dass sie ihre, nicht seine Sache vertreten. Aber er muss in der Lage sein, dem Staat und seinen Institutionen zu vertrauen, und zwar schon deshalb, weil diese Institutionen seinen eigenen freien Willen spiegeln und äusserlich zur Darstellung bringen sollen. Bricht das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen zusammen, kann sich kein Staat länger als kurzfristig mit schierer Gewalt behaupten.

Ausnahmezustand: der Anfang vom Ende

Ein Staat, der nicht mehr in der Lebensform und dem Selbstbewusstsein der Bürger wurzelt, ist geschichtlich am Ende. Auch die Ausrufung eines Ausnahmezustandes, das heisst die Suspension des geltenden Rechts, nutzt ihm dann nichts mehr. Im Gegenteil ist jeder Ausnahmezustand, der nicht auf dem Bedürfnis des Rechts und damit dem rationalen Selbstbewusstsein des Bürgers gründet, eine keineswegs geringe Hypothek, die auf dem staatskonstitutiven Zutrauen in den Staat lastet.

Wenn nach dem berühmten Diktum Carl Schmitts derjenige der «Souverän» ist, der «über den Ausnahmezustand entscheidet», dann ist nach Hegel eigentlich «souverän» nur die Rechtsvernunft, an der sich auch messen lassen muss, wer die formale Macht besitzt, über den Ausnahmezustand zu entscheiden. Die Frage ist insofern vielmehr, wer über den Ausnahmezustand «souverän» entscheiden kann – und nicht nur aus kontingenten Gründen, aus Anmassung und jedenfalls ohne Deckung durch das Recht selbst.

Das eigentliche, vielleicht das historische Problem des Corona-Jahrs 2020, auf das uns Hegel aufmerksam machen kann, liegt dann in der Frage: Inwieweit waren die aus sanitären Gründen in vielen Ländern verfügten Aufhebungen der Grundrechte bzw. der Möglichkeit ihres Gebrauchs wirklich durch die Rechtsvernunft selbst gedeckt, inwieweit waren sie das nicht, also arbiträr? Inwieweit ging es – kurz gesagt – um das Recht selbst, inwieweit um etwas anderes? Wenn aber um etwas anderes: Was war dieses andere? Und war es mit dem Zutrauen, aus dem alle Staatlichkeit lebt, vereinbar?

In der Tat haben, wie schon jetzt zu beobachten, gerade die Notstandsmassnahmen, die in vielen Ländern zu einem massiven Eingriff in die Freiheiten der Bürger führten, eine erhebliche Polarisierung produziert. Auf der einen Seite zeigte sich eine geradezu blinde Bereitschaft, jedem Eingriff in die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, in die Religions- und auch die Meinungsfreiheit ohne weitere Reflexion Folge zu leisten. In der «Stunde der Exekutive» besteht der sicherste Schutz gegen deren Gewalt im Bekenntnis zu unverbrüchlicher Loyalität ihr gegenüber – vom Axtschlag wird nicht getroffen, wer ihn ausführen hilft, weshalb sich gerade hinter den «Entschlossensten» auch die Reihen am dichtesten schlossen.

Auf der anderen Seite – und das betraf sehr bald den eher reflexionsgeneigten Teil der Zeitgenossen – meldeten sich zunehmend Zweifel: Zweifel, die sich keineswegs nur auf die sanitätspolitischen Begründungen bezogen, die für die Grundrechtseingriffe geltend gemacht wurden, sondern die ganz generell nach der Begründung im Recht für die Suspendierung der Rechte fragten. Beide Seiten nahmen dasselbe wahr: dass nämlich im Ausnahmezustand die Macht aus ihrer Einbettung in das Recht heraustritt – was nach Meinung der einen ihr Recht als Macht (zumindest in bestimmten Lagen) ist, was nach Meinung der anderen aber die Krise des Rechtsstaats meint: Diese ist nämlich dann gegeben, wenn und sofern es für den Notstand keinen Grund im Recht, vor allem nicht den Zweck von dessen Erhaltung gibt.

Es überrascht dann nicht, dass inzwischen immer mehr Rechtsgenossen eine «Entfremdungserfahrung» gegenüber dem Staat durchleben, die zuletzt ihr Zutrauen in ihn und seine Institutionen betrifft. Der «gute» Staat, auf den hin seit Platon das europäische Rechtsdenken zielte, entpuppt sich als dem Recht des Einzelnen wie auch dem Recht insgesamt feindlich. Seinen Institutionen in allen drei Gewalten Vertrauen entgegenzubringen, wird immer öfter schwierig, das «Vorurteil», beim Staat die öffentlichen Dinge gut aufgehoben zu sehen, brüchig.

Das Ende vom Ende: Willkür

Der Bürger hört auf, an seinem Staat «existenziell» zu partizipieren – was im Entscheidenden gar nicht einzelne Bekenntnisse und Handlungen meint, sondern die tatsächliche Lebensform, das Ethos betrifft, in dem Staatlichkeit wurzeln können muss. Die Entfremdung des Bürgers vom Staat ist dabei für das Individuum schmerzhaft, für den Staat aber ist sie in letzter Instanz tödlich.

Wenn Hegel recht hat und der Wille zur Staatlichkeit dem rationalen, freiheitlichen Selbstbewusstsein inhärent ist, dann führt der Zweifel, ja Generalzweifel gegenüber dem existierenden Staat nicht zu einem Zweifel am Recht und an der Rechtsidee, wohl aber zur Bereitschaft, dem gegebenen Staat den Boden zu entziehen. Das Recht ist für seine Existenz und Realisierung nicht auf Gedeih und Verderb an den gerade anzutreffenden «Entscheider» über den Ausnahmezustand gebunden. Es kann sich neu organisieren – auch wenn dies nach der Implosion eines vertrauten Ethos die Geburt einer neuen, nunmehr das Recht zur Darstellung bringenden Lebensform meint.

250 Jahre nach seiner Geburt lautet Hegels Botschaft: Der Staat hat allen Grund, sich davor zu fürchten, das Zutrauen der Bürger zu verspielen. Das verlorene Zutrauen ist durch Propaganda, durch das antrainierte Bekenntnis und blinde, angstgetriebene Gefolgschaft nicht zu ersetzen. Das Zutrauen erhält sich auch nicht durch blosse Machtdemonstration. Das Zutrauen lebt davon, dass der Bürger im Staat sein eigenes Recht erkennt – dass er den Staat in Freiheit als den seinen bejahen kann.

Ein Ausnahmezustand, in dem sich nicht das Recht, sondern die nackte Macht erhält, ja mehrt, zeigt nicht das Gesicht der Freiheit, er zeigt das der Unfreiheit, die mit gelebtem und darin wirklichem Recht nicht zusammengeht.

Thomas Sören Hoffmann ist Professor für Philosophie an der Fernuniversität in Hagen.

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M. D.

Hallo Herr Krug, woher nehmen Sie die Arroganz festzulegen, welche Eigenschaften ein mündiger Bürger aufzuweisen hat, und welche nicht?  Ist nicht  der ein mündiger Bürger, der die Sinnhaftigkeit von Lockdownmassnahmen fortlaufend hinterfragt? Es sind nicht die Massnahmen als Ganzes, die in Zweifel gezogen werden, sondern deren Ermessensfehlerhaftigkeit, welche von unseren Politikern – gerne unter dem Deckmäntelchen vom notwendigen Schutz der Allgemeinheit – exzessiv und gerne zelebriert wird. Die Lektüre des Artikels von Professor Urs Scherrer vom 10.05. in dieser Zeitung sei Ihnen in diesem Zusammenhang ebenso empfohlen wie das Studium des Urteils des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes vom 28.04. dieses Jahres.

Wolfgang Krug

Wieso meint eigentlich die Philosophie, uns gesund durch eine Zeit der ungewöhnlichen Anfechtungen bringen zu müssen? Sie schaut sich um und konstatiert, dass der Staat Gefahr läuft, sich den Bürgern zu entfremden. Nun stellen wir ja gerade fest, dass der sogenannte mündige Bürger sich mit Vorliebe in Gruppen zu 300 oder mehr  versammelt, auf Masken und sichere Distanz pfeift und sich noch empört, wenn er auf Ansteckung untersucht werden soll. Auch sagt ihm sein sicherer Instinkt, dass der Staat -- wenn dieser zum Schutz der Allgemeinheit Beschränkungen verfügt -- nur seine Gewalt ausüben und womöglich vermehren will. Dabei werden Phantasien beschworen, die man sich etwa von China oder Ungarn abguckt. Solchen "Bürgersinn" gebe ich sofort für das verantwortungsvolle Handeln etwa des Bundesrates hin. Wenn etwas, so demonstriert der Bürger, zumindest in einigen Exemplaren, sein komplettes Unverständnis für Verhältnismässigkeit und Vernunft.